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Ausgabe:

1887 Nr. 18

Spalte:

428-430

Autor/Hrsg.:

Ostermann, W.

Titel/Untertitel:

Die hauptsächlichsten Irrtümer der Herbartschen Psychologie und ihre pädagogischen Konsequenzen. Eine kritische Untersuchung 1887

Rezensent:

Müller, Ferd. Aug.

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427 Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 18. 428

tur des Rauhen Haufes u. W. Mauke Söhne, 1887.
(XV, 431 S. gr. 8.) M. 7. —; geb. M. 8. -

Der abfchliefsende II. Band reiht fich dem erften
würdig an. Die mit der Fülle des Stoffes wachfenden

Sofern F. D. Maurice recht hat, wenn er feine Schüler
anweift, einen ,Mann an der Hand deffen zu ftudieren,
der ihn geliebt hat, denn der wird fein Wefen erkannt
haben', fo war ficherlich keiner mehr dazu berufen, diefe
Biographie W.'s zu fchreiben, als Oldenberg. Das nun

Schwierigkeiten hat der Verf. in bewundernswerther Weife ! abgefchloffene Werk ift defs Zeugnifs. Wie lebensvoll
bemeiftert. 1 hat er die gewaltige Perfönlichkeit W.'s in ihrem Wachfen

Aus dem engeren Kreife feiner bisherigen Wirkfam- ! und Werden, in dem Reichthum und der Tiefe ihres
keit im Rauhen Haufe begleiten wir Wichern auf die , innerlichen Lebens, wie in der Kraft und Fülle feines
Höhe feiner grofsartigen Thätigkeit in Kirche und Staat. , Wirkens uns vor die Augen gemalt, wie hat er es ver-
Das furchtbare Unheil der Revolution, das er mit pro- | ftanden, ein farbenreiches und anfchauliches Bild der Zeit
phetifchem Blick vorausgefchaut und verkündigt, findet I und der in ihr ringenden Mächte zu tntwerfen, und W.'s
ihn unerfchrocken auf der Warte, voll brennenden Ver- fchöpferifche Gedanken da hinein zu zeichnen! Line heil-
langens, die dabei offenbar gewordenen Schäden unferes famere und anregendere Leetüre für uns Epigonen wüfste
Volkslebens mit dem Heilmittel des Evangeliums, mit ich nicht, als dies Lebensbild. Droht uns die Gefahr
den lebendigen Kräften des Glaubens und der Liebe zu eines herzlofen gefchäftsmäfsigen Betriebs — hier glüht
heilen. Die Stunde, die ihn dazu berief, kam. Sein ge- das Feuer der erften Liebe; müffen wir Sorge tragen,
waltiges Wort von des Volkes Noth fchlug mächtig in | uns im Gewirre des Details zu verlieren — hier ift eine

die Herzen der um das Grab Luther's in Wittenberg zum
erften Kirchentag Verfammelten ein und begründete in
ihnen die Ueberzeugung, dafs die innere Miffion, wie
Wichern fie verftand, von nun an unter den Aufgaben
der Kirche in erfter Linie ftehen müffe. Von da an ift
Wichern der berufene Herold der I. M. Aus allen Gauen
des Vaterlands wird fein Rath, fein gewiffenweckendes
Wort begehrt, in vielen Reifen durchzieht er Deutfch-
land von Nord nach Süd, von Oft nach Weft, in zahl-
lofen Verfammlungen mufs er feine Stimme ertönen laffen,
um die von ihm angeregte Bewegung im Flufs zu erhalten
. Das von ihm in Wittenberg in grofsen Zügen
entworfene Programm wird in der Denkfchrift eingehend
ausgeführt, die darin gefchilderten Aufgaben werden auf
den folgenden Kirchentagen nach und nach in Angriff
genommen. Daneben geht die fülle Arbeit im Rauhen
Haufe fort, der immer noch fein ganzes Plerz gehört,
obwohl, um für feine gröfsere Wirkfamkeit Raum zu
fchaffen, eine ftändige Vertretung für ihn eingerichtet
werden mufs. Angefichts der neuen Aufgaben der inneren
Miffion gewinnt die Bruderfchaft des neuen Haufes erhöhte
Bedeutung und bedarf einer dahin zielenden weiteren
Ausgeftaltung. Eine von W. längft erfehnte Aufgabe
wird ihr anvertraut, als fie durch König Friedrich Wilhelm
IV zum Dienft in den Gefängnifsen berufen wird.
Gröfseres fchliefst fich daran an: Wichern's Berufung
in das preufsische Minifterium als vortragender Rath für
die Strafanftalten und das Armenwefen (1857). Unvergängliches
Verdienft hat fich W. auf diefem dunkelen
Gebiet erworben, aber unter fchweren Kämpfen. Geradezu
riefenhaft ift feine Thätigkeit, die er von 1857 bis 1866
entfaltet, um fo aufreibender, da er gewohnt war, ftets
feine ganze Perfon, fein ganzes Herz in die Arbeit zu
legen, und es ift kein Wunder, dafs 1866 auch feine ungewöhnliche
Arbeitskraft unter dem Uebermafs der Laft
erlag. Noch einmal rafft er fich auf nach kurzer Erholung
. Das IX. Buch darf noch von weiteren acht
Jahren angeftrengter fruchtbarer Arbeit berichten. Die
Einrichtung der PTelddiakonie 1866 und 1870, die Begründung
der Berliner Stadtmiffion, die Mobilmachung
der Kräfte der inneren Miffion für die Löfung der focia-
len Fragen fallen in diefe Zeit. 1872 kehrt er, ein müder
Mann, ganz in's Rauhe Haus zurück, um 1874 definitiv
aus dem preufs. Staatsdienft auszufcheiden. Nun folgt
eine fechsjährige Zeit voll dunkelen Leidens, von dem
man nicht ohne innere Herzensbewegung lefen kann.
Immer tiefer fenken fich die Schatten der Krankheit über
das leibliche und über das Gemüthsleben W.'s. Ergreifend
ift das Ringen des ftarken Geiftes wider die Banden, mit
denen die Krankheit ihn umftrickt. kindlich am 7. April
1881 darf die müde Seele zur Ruhe der ewigen Heimath
eingehen. An feinem Sarge trauert die ganze evange-
lifche Kirche, trauern mit den armen Kindern des Rauhen
Haufes, denen er ein Vater gewefen, Könige und Fürften.
Ein Grofser im Reiche Gottes war heimgegangen.

grofsartige und tiefe evangelifche Gefammtanfchauung
der Noth, wie des Heils und der Heilmittel, die, fo fehr
fie zur Arbeit antreibt, doch durch die klare Erkenntnifs,
dafs das Werk nur foviel werth ift, als es Glaubens- und
Liebeskraft in fich trägt und Kräfte des Glaubens und
der Liebe entbindet, vor äufserlicher Vielgefchäftigkeit
bewahrt. Dafs Oldenberg diefe unveräufserlichen Grundgedanken
W.'s fo tief erfafst und fo klar zum Ausdruck
gebracht hat, fichert ihm den Dank aller, die ihre Kirche
und ihr Volk aufrichtig lieb haben.

Giefsen. Gg. Schloffer.

Thoden van Velzen, Dr. H., Ueber die Geistesfreiheit vulgo
Willensfreiheit. Pfychologifcher Nachweis. Leipzig,
Fues, 1886. (VII, 78 S. gr. 8.) M. 1.80.

Der Verfaffer diefer Schrift, Niederländer von Geburt
, hat feine Anflehten über Gott und die Welt und
den Menfchen früher fchon in einer Reihe von nieder-
ländifch gefchriebenen Schriften dargelegt. Jetzt, wie
der Titel lehrt, in Jena anfäffig, gedenkt er diefelben
auch in Deutfchland zu ,offenbaren' (S. 78). Die vor
liegende kleine Schrift foll darauf vorbereiten und die
Aufmerkfamkeit dafür wecken, indem fie zeigt, dafs des
Verf.'s Anflehten eine einfache Löfung des Freiheitsproblems
ermöglichen, und nebenbei zu erkennen giebt,
dafs andere wichtige Fragen auf feinem Weg nicht minder
einfache Antworten finden. Es ift aber nicht wahr-
fcheinlich, dafs die Schrift ihren Zweck erreichen wird.
Denn um das zu würdigen, was hier in gedrängter und
rein thetifcher F"orm geboten wird, müfste man die anderen
Schriften des Verfaffers eigentlich fchon kennen,
ohne doch nach vollendeter Leetüre der hier gegebenen
Betrachtung ein Bedürfnifs nach diefer Bekanntfchaft zu
empfinden. Wenigftens denjenigen Lefern wird es fo
ergehen, welche in einer folchen Schrift Belehrung über
die Sache fuchen, die für Alle gegeben ift, denen es aber
fehr gleichgültig erfcheint, ob irgend ein Denker unter
höchft willkürlichen und wunderlichen Vorausfetzungen
für feine Perfon mit den Problemen fertig geworden ift.
Auf diefe Vorausfetzungen kommt es an. Mit Darlegung
und Beweis derfelben hätte der Anfang gemacht
werden müffen. Defshalb ift das Verfahren des Verf.'s
nicht zweckmäfsig und wird die Schrift ihren Zweck
fchwerlich erreichen.

Berlin. Kaftan.

Ostermann, Dr. W., Die hauptsächlichsten Irrtümer der
Herbartschen Psychologie und ihre pädagogifchen Kon-
fequenzen. Eine kritifche Unterfuchung. Oldenburg,
Schulze, 1887. (IV, 246 S. 8.) M. 4.—

Den gröfsten Teil des vorliegenden Buches füllt eine
gegen die Herbart'fche Pfychologie und deren metaphy-