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Ausgabe:

1887 Nr. 15

Spalte:

426-428

Autor/Hrsg.:

Oldenberg, Friedrich

Titel/Untertitel:

Johann Hinrich Wichern. Sein Leben und Wirken. 2. Bd. Von 1848 bis zu Wichern‘s Heimgange 1887

Rezensent:

Schlosser, Georg

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. iS.

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diefer Zeit mit eingegriffen und der mit allen kirchlichen
Richtungen feiner Zeit in freundliche oder feindliche Be-
rürhung gekommen ift. Der Verf. hat es über der Arbeit
gelernt, fich zu befchränken, eine Tugend, die bei den
Biographen in unfern Tagen nicht häufig ift.

Der vorliegende Band, der mit der Ueberfiedelung
Tholuck's nach Halle beginnt, zeigt uns den geftählten
und gereiften Mann in feiner grofsen Lebensarbeit auf
hervorragendem Porten in ftetig wachfender Fertigkeit
nach den heifsen und fchweren Kämpfen einer drangvollen
Jugendzeit, unter denen er für die äufseren Kämpfe
erftarkte, die er in Halle durchzuringen hatte. Der Kampf !
mit dem Rationalismus, den Tholuck fpäter in feiner ge-
fchichtlichen Bedeutung mit weitem hiftorifchem Blick bis
zurück in feine erfte Vorgefchichte gewürdigt hat und der
eine Zeit lang fein Hauptterrain an der Univerfität Halle
hatte, in deren Gefchichte fich die Gefchichte der yer-
fchiedenen theologifchen Richtungen der neueren Zeit
abfpiegelt, nimmt einen weiten Raum in der Biographie
ein; er zieht fich fort bis zu dem Jahre 1840, wo ein
Wendepunkt eintritt.

Die ganze Bitterkeit und Gehäfiigkeit der Polemik,
die von dem Vulgärrationalismus gegen Th. geführt worden
ift und die ebenfo den einfachften Anftand verleugnet
, wie fie die gemeinftcn Mittel nicht verfchmäht
hat, um den Einflufs des verhafsten Gegners zu hindern,
tritt hier dem Lefer erfchreckend entgegen; ihren
Gipfelpunkt erreicht fie in dem theologifchen Philifter
Dr. Fritzfche und in feinem Pamphlet: ,Wie Herr Dr.
Tholuck die heil. Schrift erklärt, wie er leben lehrt und
dichtet'. Trotzdem die Urbanität auch heute nicht zu
den theologifchen Tugenden, überhaupt nicht zu den
Tugenden der Gelehrten gehört, und die wiffenfchaft-
lichen Fehden in der Art, wie fie geführt v/erden, auch
in unteren Tagen kein Zeugnifs find für die fittlich i
befreiende Wirkung der Wiffenfchaft, fo ift es doch in
diefem Stück beffer geworden; eine folche Polemik, wie
. fie ein fonft verdienftlicher Exeget damals führen konnte,
würde gegenwärtig gegenüber dem allgemeinen Urtheil
kaum möglich fein. Die Haltung Th.'s bei diefen Fehden
ift eine durchaus edle und würdige; er ift feinen
Gegnern ebenfo fittlich, als geiftig entfchieden überlegen.
Dabei befitzt er eine bewunderungswürdige Elafticität;
fo erfchöpft fich der mit einem Pfahl im Fleifch fein
ganzes Leben hindurch ringende Mann unter den be-
ftändigen Angriffen oft fühlt, fo dafs er auf eine Zeit j
lang fich ganz zurückzieht und ein Jahr in Rom zubringt,
fo erfrifchend und ftählend wirkt doch wieder die Anfechtung
auf ihn. Charakteriftifch ift für Th.'s theologifche
Individualität, dafs er von den verfchiedenften Seiten '
Angriffe erfährt. Der Meifter ftrengfterSyftematik, Hegel,
griff Th., den er fonft wohlwollend anerkannte, wegen
wifl'enfchaftlicher Unklarheit und Gleichgültigkeit in wichtigen
Punkten der Lehre an; und Hegel traf damit eine
fchwache Stelle in Th., der bei feinem ausgefprochenen
Subjectivismus und feiner ungemeinen Beweglichkeit im
confequenten wiffenfchaftlichen Denken nicht eben feine
Stärke hatte und nichts weniger, als fyftematifch angelegt
, vielmehr ein Mann geiftreicher Apercus war. Uebri-
gens hat Th. mit der Hegel'fchen Philofophie, die in Halle
bedeutende Vertreter nach Rechts und nach Links hatte,
immer eine lebhafte Fühlung behalten. Andererfeits
wird Th., deffen Glaube den Charakter eines gefunden
Pietismus hatte und den feine ganze Individualität vor
einer ftarren Orthodoxie fchützte, der fogar in feiner
Neigung zu fubjectiver Kritik ein entfchieden rationali-
firendes'Element in fich trug, von feinen extremen Freunden
, wie von Ludwig von Gerlach und von Hengftenberg,
wegen mangelnder Entfchiedenheit angegriffen und mit
Mifstrauen beobachtet. Sehr entfchieden und klar ift die
Stellung, die Th. von vornherein zu einer kirchlichen
Bewegung in feiner unmittelbaren Nähe einnimmt, zur
lutherifchen Separation.

Mit befonderer Wärme und Liebe zeichnet der Verf.
das höchft anziehende und wohlthuende Bild des geiftes-
mächtigen Univerfitätspredigers, dem es bei der erftaun-
lichen Vielfeitigkeit feiner Bildung wie irgend Einem gegeben
war, (eine Stimme zu wandeln, ,den Juden ein
Jude, den Griechen ein Grieche', den Modernen ein Moderner
zu fein, und des akademifchen Seelforgers, des
Studentenvaters, der ebenfo wie er von der Kanzel gewaltige
Griffe ins Gewiffen der akademifchen Jugend
hineingethan hat, auch im individuellen Verkehr mit den
Einzelnen es fo wunderbar verftanden hat, in der Kraft
der fuchenden Liebe Chrifti und einer unvergleichlichen
Gabe der Seelenleitung an ihnen Seelforge zu üben und
auf ihre innere Entwickelung entfcheidend zu wirken, in
der That eine wahrhaft rührende, tielerbauliche Geftalt,
die einzig in ihrer Art dafteht.

An das Bild des Univerfitätspredigers und Seelforgers
fchliefst fich das Bild des Profeffors im engeren
Sinne, im Colleg, im Examen, in der Facultät, des .Raths',
wie er gern als Mitglied der kirchlichen Behörde genannt
wurde, und das Bild feines häuslichen Lebens an der
Seite der edlen und trefflichen Frau .Räthhv mit einer
Fülle fchöner und eigenthümlicher Züge, die in Th. den
merkwürdig vielfeitigen Gelehrten, den geiftreichen Mann
und den liebenswürdigen durchgereiften Chriften zeigen.

Das vorletzte Capitel: ,aus der alten in die neue Zeit'
giebt einen Eindruck von der bedeutenden Wandlung
der Zeiten, welche zu einem Theile durch Th. felbft mit
herbeigeführt worden ift. In den kirchlichen und politi-
fchen Stürmen der zweiten Hälfte der vierziger Jahre
hat Th. feine ganze geiftige und fittliche Kraft in impo-
nirendfter und wirkfamfter Weife entfaltet. Gegen das
Lichtfreundthum und gegen die Revolution hat er mit
der ganzen Mannhaftigkeit eines chriftlichen Charakters
das fcharfe Schwert feiner einfchneidenden, gewaltigen
Rede geführt. Dabei war übrigens Th. nichts weniger, als
ein Mann blinder politifcher und kirchlicher Rtaction. Das
Berechtigte in den Forderungen einer neuen Zeit erkannte
er willig an und insbefondere hat er gegenüber einem
einfcitigen Confeffionalismus entfchieden Front gemacht.
Zwar hat er in feinen Schriften über das akademifche
und religiöfe Leben im 17. Jahrhundert, diefen überaus
lehrreichen Erzeugnifsen gründlicher Gelehrfamkeit und
erftaunlichen Bienenfleifses, neben, den Schattenfeiten
jenes Zeitalters der Orthodoxie auch ihre Lichtfeiten
dargeftellt, aber den Verbuchen, eine veraltete Form des
evangelifchen Kirchenwefens und der Theologie künftlich
zu reftauriren, ift er mit feinen Freunden entfchieden
entgegengetreten und der alte Vorkämpfer der gläubigen
Theologie hat fichs gefallen laffen müffen, deswegen des
.Latitudinarismus' befchuldigt und mit ähnlichen cpitlietis
ornantibus beehrt zu werden.

,Auf Reifen — und die letzte Reife' lautet die Ueber-
fchrift des letzten, nach feiner erften Hälfte angenehm
unterhaltenden und erheiternden, nach feiner anderen
I Hälfte überaus ernften Capitels mit dem tragifchen Aus-
1 gang des hochbegnadigten und bedeutenden Lebens, das
zuletzt noch durch tiefes Dunkel geiftiger Umnachtung,
wenn auch nicht ohne helle Lichtblicke, hindurch führte.

Das angefügte umfängliche Verzeichnifs der Schriften
Th.'s giebt ein Bild von dem enormen Fleifs des feltenen
Mannes als Schriftftellers, und doch ift dies nur eine Seite
der grofsen, bedeutfamen Wirkfamkeit des edlen, geift-
vollen Theologen, der es in befonderer Weife verftanden
hat, mit feinem reichen Pfunde zu wuchern und feine
' Gaben zum Beften der Kirche auszunutzen.

Dresden. Meier.

Oldenberg, Friedr., Johann Hinrich Wichern. Sein Leben
und Wirken. Nach feinem fchriftlichen Nachlafs und
den Mittheilungen der Familie dargeftellt. 2. Bd. Von
1848 bis zu Wichern's Heimgange. Hamburg, Agen-