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Ausgabe:

1887 Nr. 15

Spalte:

364-365

Autor/Hrsg.:

Sterzel, Georg Frdr.

Titel/Untertitel:

A. Comte als Pädagog. Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Philosophie 1887

Rezensent:

Bassermann, Heinrich

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 15.

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diele Frage erheben, dürfen wir uns nicht die Vorftellungen
vergegenwärtigen, in welchen der bereits erftarkte Glaube
fich ausfpricht. Zu den letzteren gehören aber die
Gedanken von der perfönlichen Gegenwart des erhöhten
Chriftus. Bei der Frage nach den Thatfachen, welche
unfern Glauben begründen und tragen, können wir, wenn
wir nicht eitle Phrafen machen wollen, auf nichts Anderes
gerathen, als auf den gefchichtlichen Chriftus, der in unterer
Welt fleht, wir mögen glauben oder nicht.

Wenn nun Luthardt kräftig bei diefer Ablehnung
verbliebe, fo würde er wenigftens das anfchauliche Bild
einer Theologie gewähren , welche in der evangelifchen
Kirche kein Recht hat, weil fie das Hauptanliegen der-
felben, die Gewifsheit eines durch Gottes Offenbarung
geweckten Glaubens nicht verfteht. Aber auch diefes
Bild zerfliefst wieder in einen unfafsbaren Nebel, indem
Luthardt fchliefslich doch auch eingefteht, der Glaubensgedanke
von der Gegenwart des erhöhten Chriftus fei
nicht Mittel und Grund des Glaubens, fondern Frucht
des Glaubens. Das wäre ja nun gerade der Gedanke, den
wir im Gegenfatz zu ihm und anderen halb fcholaftifchen
Theologen zu vertreten fuchen. Luthardt's Auffatz er-
fcheint mir defshalb als ein wichtiges Zeichen der Zeit,
weil er die Haltlofigkeit der in der evangelifchen Kirche
herrfchenden Theologie unabfichtlich aber gründlich
blofslegt. Das, was diefe Theologie in verzweifeltem
Widerftande gegen uns bekämpft, gefleht fie im Grunde
felbft zu. Denn diefe Erkenntnifse find allmählich zu
einer Reife gediehen, dafs fich ihrer niemand erwehren
kann, der fich überhaupt auf eine theologifche Discuf-
fion einläfst. Luthardt weifs alfo felbft, dafs alle die
hohen Glaubensgedanken keineswegs dem Chriften in der
Form von göttlich beglaubigten Lehren mit der Erklärung
vorgelegt werden dürfen, dafs er das für wahr
halten müffe, damit er Glauben habe. Er nennt fogar
jene Glaubensgedanken den Lohn des Glaubens, mufs
alfo doch meinen, dafs der Glaube felbft, in welchem
der Chrift Gott als den erfährt, der ihn feiig macht,
auf ganz andere Weife hervorgerufen wird. Aber in die
neue Situation, welche ihm dadurch bereitet wird, vermag
er fich als Theolog nicht zu finden. Die hlrkennt-
niss vom Wefen des Glaubens, von feinem Verhältnifs
zu den Thatfachen, die ihn begründen, und zu den Ge- j
danken, in denen er fich ausbreitet, kann er nicht ganz-
lieh ablehnen; aber feine Theologie will er wenigftens
vor diefer Erkenntnifs retten. Er fagt alfo, dafs es fich
fo mit dem Glauben verhalte, müffe man freilich beachten, j
wenn es fich um Glaubensbewirkung und um Erziehung j
zum Glauben handelt. Dagegen bei der ,fyftematifchen j
Lehrdarfteilung' müffe man anders verfahren. Was foll
aber überhaupt eine folche Lehrdarfteilung, wenn fie
nicht dazu dient, den Glauben in dem Zufammenhange
feiner Gründe und feiner Früchte verftändlich zu machen
und den Theologen zu befähigen, dafs er als ein Zeuge
diefes Glaubens der Gemeinde dienen könne? Soll etwa
das der Zweck fein, dem treuherzigen Studenten durch
den Gebrauch einer grofsartigen Terminologie das ftolze
Bewufstfein zu verfchaffen, dafs er fich mit ,Wiffen-
fchaft' befchäftige? Wenn in einer folchen Dogmatik die
Glaubensgedanken nicht in dem Verhältnifs zum Glauben
vorgeführt werden, welches fie thatfächlich in dem fortwährenden
Entftehungsprocefs des Glaubens einnehmen,
fo mufs ihr Erfolg diefer fein. Sie wird den Theologen
dazu anleiten, dafs er, als hätte es nie eine Reformation
gegeben, die Summe chriftlicher Lehren als ein neues
Gefetz der Gemeinde vorlegt und ihr einredet, fie müffe
das ,glauben', weil es fo in Gottes Wort gefchrieben
flehe. Vor diefer ebenfo leichten wie unfruchtbaren
Predigt kann die Gemeinde nur bewahrt werden, wenn
die Theologie fich dazu bequemt, fich nach dem refor-
matorifchen Gedanken vom Glauben zu richten. Luthardt
verabfeheut jene Predigt ebenfo wie wir; aber er fördert
und fchützt ihre traurige Blüthe durch feine Theologie.

Einen Grund, weshalb in der fyftematifchen Theologie
das richtige Verhältnifs zwifchen den Glaubensgedanken
und dem nicht durch fie, fondern anders begründeten
Glauben verdeckt werden müffe, giebt Luthardt nicht an.
Einen wüfste ich wohl zu nennen. Es ift natürlich viel
bequemer, die Glaubensgedanken als übernatürlich offenbarte
Lehren zufammenzuftellen und einige Reflexionen
daranzuknüpfen, als ihrer Entftehung aus dem nicht
durch fie, fondern anders begründeten Glauben nachzugehen
und den Glauben felbft zu rechtfertigen. Aber
diefer Grund ift doch für einen rüftigen Mann wie Luthardt
zu fchlecht.

Bemerkenswerth ift noch, was Luthardt zu meiner
Schilderung der Bedrängnifs fagt, in welcher fich die
moderne Theologie befinde. Er tadelt es, dafs ich einer
Kirchenzeitung einige Sätze über die Stellung der Gebildeten
zum Chriftenthum entnommen habe. Das dürfe
man in einer wiffenfehaftlichen Schrift nicht thun und
dürfe auch daraufhin nicht eine Anklage gegen die Theologie
erheben. Ich habe nun freilich mein Urtheil über
die Gefammtlage der modernen Theologie keineswegs
mit jenen Worten einer Kirchenzeitung begründet, fondern
durch den Hinweis auf Thatfachen, die doch wohl auch
Luthardt's Ruhe bisweilen geftört haben. Aber dafs er
mir fagt, man dürfe die Worte einer Kirchenzeitung felbft
dann nicht in einer ernfthaften Schrift berückfichtigen,
wenn es fich um eine Schilderung handelt, welche zu
den Zwecken der Partei in keiner Beziehung fleht, — das
ift mir von grofsem Werth. Denn in diefen Sachen ift
Luthardt Kenner. Hat er doch fo lange an der Spitze
einer Kirchenzeitung geftanden, dafs er genau wiffen
mufs, wie es mit der Brauchbarkeit diefer Preffe und
ihrer fonderbaren Leiftungen fleht.

Marburg. W. Herr mann.

Sterzel, Diac. Dr. Georg Frdr., A. Comte als Pädagog.

Ein Beitrag zur Kenntnis der pofitiven Philofophie.
Leipzig, Fock, 1886. (85 S. gr. 8.) M. 1.50.

Seit Schleiermacher und befonders feit Herbart
ift es zu allgemeinerer Anerkennung gekommen, dafs
jede Pädagogik mit einer beftimmten Philofophie auf's
innigfte zufammenhänge, fich aus diefer mit Nothwen-
digkeit ergebe, die praktifche Spitze derfelben, ja fogar
— in gewiffem Sinne — die Probe für deren Richtigkeit
darfteile. In der That hat auch wohl jedes bedeutendere
philofophifche Syftem feine eigene Pädagogik erzeugt,
felbft diejenigen, von welchen Herbart behauptete, dafs
fie dazu ihren Principien nach ganz unfähig feien. Es
ift ganz natürlich, dafs der Philofoph, was er mit feinem
Denken errungen hat oder errungen zu haben glaubt, zu
bergen fucht (um mit Herbart zu reden) in den Schofs
der Jugend, der der Schofs der Zukunft und damit der
Hafen unferer gefcheuchten Hoffnungen ift. Allein
ebenfo erklärlich ift es, dafs in diefen Hafen nicht blofs
diejenigen Schiffe einlaufen, welche eine brauchbare,
auch am Lande verwerthbare Fracht ausgereifter Pro-
duete führen, fondern auch folche, welche nur mit Idealen,
Phantafien — Traumen beladen find. Peftalozzi hat
Rouffeau's limile ein .Traumbuch' genannt: manche Pädagogik
läfst fich fo nennen: fie giebt in folchem r"alle
nur das Bild wieder, als das fich die Welt dem Philo-
fophen darfteilt, wenn er fie im Spiegel feines Syftems
und nach deffen Normen ausgcftaltet anfehaut.

Von diefen allgemeinen bei der Gefchichte der Pädagogik
fich aufdrängenden Erwägungen haben wir hier
einen inftruetiven Einzelbeleg vor uns. Hat auch A.
Comte den von ihm gehegten Plan, eine Pädagogik im
Sinne der .pofitiven Philofophie' zu geben, nicht ausführen
können, fo hat er fich doch mit den darauf gerichteten
Gedanken viel befchäftigt und diefelben in fich
fo fehr zur Reife gebracht, dafs er fein Werk mit einem