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Ausgabe:

1887 Nr. 10

Spalte:

233-236

Autor/Hrsg.:

Vattier, Victor

Titel/Untertitel:

John Wyclyff. Sa vie, ses oeuvres, sa doctrine 1887

Rezensent:

Lechler, Gotthard Victor

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. 10.

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fcholaftifche Werke uns überliefert. ,Nicht als tiefe
klare Denker, fondern als Vermittler zwifchen dem
fcholaftifchen Ideenkreife und dem Verftändnifse eines
deutfch fprechenden Publicums verdienen die deutfchen
Myftiker grofse Beachtung' (S. 527).

Zwei werthvolle Beilagen giebt D. feiner Arbeit bei.
Zunächft ,Acten zum Procefs Meifter E.'s'. D. bringt
hier die fchon durch Preger (Meifter E., und die Inquifi-
tion in den Abhandlungen der hift. Claffe der kgl. bayr.
Acad. XI, 2 S. 38 ff. nach Abfchriften veröffentlichten Do-
cumente nach den vaticanifchen Originalen zum Abdruck
und fchickt einige kritifche Bemerkungen voraus, welche
es zweifellos machen, dafs irgendwelches Einfehreiten
gegen E. vor 1326 weder nachweisbar noch glaublich
ift. Beilage 2 ift eine fkizzenhafte Abhandlung ,über
die Anfänge der Predigtweife der deutfchen Myftiker',
der zwei unedirte Verordnungen des deutfchen Ordens-
provinzials der Dominikaner Hermann v. Minden (1286
bis 1290) beigegeben find. D. meint hier die eigen-
thümliche Art der Predigten der deutfchen Myftiker und
die Verbreitung der deutfchen Myftik namentlich im
Dominikanerorden aus der Thatfache erklären zu können,
dafs den deutfchen Dominikanern feit den letzten drei
Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts in fehr weiter Ausdehnung
die cum monialium oblag. Den Lectoren des
Ordens wurden vielfach die Predigten vor den Nonnen
und die Unterweifung derfelben anvertraut: diefelben
Männer, die als Lectoren ihre fcholaftifche Bildung als
.Scholaftiker' zu verwerthen hatten, verfuchten in ihrem
Nebenberuf in den Frauenklöftern diefelbe praktifch
fruchtbar zu machen — als ,Myftiker'. — Erft bei eingehenderer
Behandlung diefer Sache wird man fehen
können, ob wirklich der Einflufs der cum monialium für
das gefamte Gebietder deutfchen Myftik als ein Erklärungsgrund
für diefelbe genannt werden kann. Es waren
doch nicht alle in Betracht kommenden Klöfter den Dominikanern
unterftellt (Helfta). Jedenfalls aber find D.'s
Nachweifungen von grofsem Werth für das Verftändnifs
einzelner Kreife, fo des Kreifes des Sufo.

Unter der Rubrik .Mittheilungen' endlich finden fich
in diefem Bande nur die beiden gelegentlich fchon erwähnten
Stücke, die Entgegnung auf Kaufmann's Kritik
und die Fortfetzung der Publication über die Fraticellen
zu Todi. Die Nachträge und Berichtigungen find im
Vorftehenden fchon verwerthet. — Zum Schlufs fei
Eines erwähnt, das den zweiten Band nicht zum Vortheil
von dem erften unterfcheidet: er hat mehr Druckfehler,
und nicht immer corrigiren fie fich felbft, fo S. 2 Z. 13:
1227 ftatt 1327, ebenfo S. 7 Anm. 1; S. 8 Z. 5 f. find
einige Worte ausgefallen.
Halle a. S. F. Loofs.

Vattier, anc. Prof. Victor, John Wyclyff. Sa vie, ses oeuvres,
sa doctrine. Paris, Leroux, 1886. (VIII, 347 S. gr. 8.)
Der Verf. führt fein Buch mit den Worten ein, das-
felbe fei ein Gefchichtswerk, nicht das Werk eines reli-
giöfen Kritikers. Es fei Zeit, dafs Wiclif ernftlich der
Gefchichte angehöre. Für einen Geifllichen fei es, wo
nicht unmöglich, fo doch fchwer, von Wiclif unparteiifch
zu reden. Der Verf. glaubt, kraft feiner unabhängigen
Stellung, feiner religiöfen Vorausfetzungslofigkeit, mit
voller Unparteilichkeit, ,gewifsermafsen unperfönlich' an
den Gegenftand herantreten zu können (S. V flg.) Mit
einem Wort, er fchreibt fich zu, was wir Deutfche Ob-
jectivität nennen, erweckt fomit hohe Erwartungen.

Die Worte des Titels: vie, oeuvres, doctrine, deuten
die Gliederung des Buches an; dasfelbe behandelt
L Das Leben, S. 1—146, II. Die Werke, S. 147—197. ni-
Die Lehre Wiclif's.S. 199-343. Jeder Theil zerfällt in eine
Anzahl Capitel, manches Capitel (in II u. III) in mehrere
Unterabtheilungen. Diefe Gliederung ift felbftändig gedacht
.

In der Ausführung Ichliefst fich Verf. billig an feine
Vorgänger an, unter denen er Lewis, Vaughan, Shirley,
und ,vor allen' Lechler nennt, fucht jedoch möglichfte
Selbständigkeit zu zeigen. So fchon in der Schreibung
des Namens, den erconfequent,Wyclyff' giebt, abweichend
von allen neueren Forfchern, ohne dafs feine Motivirung
S. 8 f. durchfchlagend wäre.

Am wenigften gelungen ift das Trachten nach Selbftändigkeit
in dem L Theil, dem Bericht über den Lebensgang
des Mannes. Während Vattier S. 13, abweichend
von mir und Burrows, das Jahr 1340 als ebenfo wahr-
fcheinlich wie 1335 für den Zeitpunkt des Bezugs der
Univerfität von Seiten Wiclif s erklärt, nimmt er doch S.
18 das Jahr 1335 ohne weiteres als das richtige an. In
der Frage, welchem Oxforder College Wiclif angehört
habe, würde die Erörterung S. 19 ff. klarer gerathen fein,
wenn Verf. die Unterfuchung D. Lorimer's, Ueberf.
meines Werks, I, 185 ff. auf Grund von Urkunden, welche
mir nicht zugänglich gewefen, gehörig verwerthet hätte.
Während Vattier vielfach dem Gang meiner Unterfuchung
folgt, diefelbe theils auszugsweife, theils in wörtlicher
Ueberfetzung giebt, glaubt er in mehreren
Fällen mir Irrungen, gewagte Aufftellungen und dgl.
nachweifen zu können, ohne dafs er den Verbuch
macht, die vorgebrachten Gründe zu entkräften, z. B.
43. S. 57 f. Einmal (S. 25) bemerkt er, ich hätte eine
Urkunde beizuziehen ,vergeben', welche aber erft Jahr
und Tag nach dem Erfcheinen meines Buchs, nämlich
1874, zur Kenntnifs der Gelehrten gekommen ift. S. 66
—73 giebt er den bei Lewis und Vaughan bereits abgedruckten
Wortlaut der Protestatio von 1377 auf Grund
einer Handfchrift der Parifer off. Bibliothek; die Lesarten
haben indefs keinen Vorzug vor den bisher bekannten.
Nicht ohne Intereffe find ftatiftifche Mittheilungen, welche
Verf. S. 56 über die Gemeinde Lutterworth im XIV.,
XVI. und XIX. Jahrhundert, auf Grund eines dortigen
,Handbuchs', feiner Erzählung einverleibt ift.

Den II. Theil eröffnet Vattier damit, dafs er S. 147
—152 meine einleitenden Bemerkungen über Wiclifs
Werke Wort für Wort überfetzt, weil er überzeugt ift,
,er könne nichts befferes thun'. Auch die Ueberficht über
6 Gruppen der Schriften Wiclifs, S. 154—169, lehnt fich
in der Hauptfache an meinen Vorgang II, 559 ff. an, indem
Verf., wo er es nöthig findet, Bemerkungen beifügt.
Ein glücklicher Griff war es, S. 186—197 die Handfchrif-
ten, welche Werke Wiclifs enthalten, nach den Bibliotheken
zu ordnen, in denen fie fich derzeit befinden.
Auf Vollftändigkeit kann freilich diefes 11 Bibliotheken
umfaffende Verzeichnifs keinen Anfpruch machen. Aus
Budde nfieg, lat. Streitfchriften 1883 S-7ff. und Matthew,
Engl, works S. VIII, die ihm ja nicht unbekannt find,
konnte er erfehen, dafs auch die Prager Univ.-Bibliothek,
die Studienbibliothek zu Olmütz und die Bibliothek des
Lord Afhburnham Wiclif-Handfchriften befitzen. Am
wenigften befriedigend wirkt die Lifte von Schriften,
welche S. 169—185 genau nach Vaughan's Vorgang
abgedruckt ift; es ift weder fachliche Ordnung darin,
noch find höchft zweifelhafte Dinge ausgefchieden; auch
an Wiederholungen einer und derfelben Schrift, unter
verfchiedenen Namen, fehlt es nicht, z. B. S. 184 Nr. 103
ift identifch mit Nr. 125 S. 185.

Der III. Theil: Wiclifs Lehre, handelt von Wiclif
zuerft als phifophifchem Denker, fodann von ihm als
Theologen. Bei dem philofophifchen Syftem Wiclifs
kommt Verf. vornämlich auf die Frage vom Böfen und
dem göttlichen Walten zu fprechen. Wer nur allein Vat-
tier's Berichterstattung kennt, müfste glauben, der Unterzeichnete
mache fich anheifchig, Wiclifs betreffende Anficht
unbedingt zu rechtfertigen. Dem ift aber nicht fo.
Denn im Laufe der betreffenden Auseinanderfetzung ift
(Wiclif I, 307) gefagt: ,Augenfcheinlich ift diefe Erörterung
nicht geeignet, den Knoten zu löfen' u. f. w. In dem
Abfchnitt über Wiclif als Theologen folgt der Verf. bei