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Ausgabe:

1887

Spalte:

220-221

Autor/Hrsg.:

Schmid, Chrn. Friedr.

Titel/Untertitel:

Biblische Theologie des Neuen Testamentes. 5. Aufl 1887

Rezensent:

Link, Adolf

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219 Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. TO. 220

noch verdient es Tadel, dafs zwei holländifche Gelehrte
den überlieferten Text der Theffalonicher-, Galater-,
Korintherbriefe und des Römerbriefes fyftematifch zu
durchforfchen unternommen haben mit der Abficht, fich
ein Urtheil darüber zu bilden, ob diefe Briefe, fo wie fie
vorliegen, von erfter Hand niedergefchrieben find. Ref.
ift mit einem guten Vorurtheil an das Studium ihrer
Arbeit gegangen, aber leider fah er fich bitter enttäufcht.
Die beiden Gelehrten haben dafür geforgt, dafs diefe
Enttäufchung fchon auf den erften Blättern beginnt
und zwar fofort in unübertrefflichem Grade. Auf höchft
vage Beobachtungen hin werden Interpolationen beim
1. Theffalonicherbrief angenommen, indem das Vorurtheil
die Kritiker leitet, ein Brief müffe ein logifches Kunft-
werk fein und jede Incongruenz, jeder abrupte Ueber-
gang u. f. w. fei ein Zeichen der Interpolation. Allein
das ift noch nicht das Schlimmfle. Der in Theile zer-
ftückelte Brief wird — ich kann nicht anders fagen: im
Handumdrehen — zur einen Hälfte einem aufgeklärten,
über das jüdifche Gefetz fich erhebendem Juden, zur
anderen einem ,Paulus episcopus1, einem katholifchen
Schriftfteller des 2. Jahrhunderts, vindicirt. Eliminirt wird
fowohl der Apoftel Paulus als auch der gefchichtliche
Chriftus. Mit welcher unqualificirbaren Leichtfertigkeit
dies gefchieht, kann man an der Behandlung von c. 2,16
ftudiren. Die Verfafier fchliefsen hier, dafs nur ein
Jude den Vers habe fchreiben können — mit welchen
Gründen, mag man S. 10 f. nachlefen. Aber was am
I. Theffalonicherbrief ,nachgewiefen' ift, wird bei den
folgenden Briefen wiederholt. Im erften Theile der
Unterfuchung werden zahllofe Widerfprüche in jedem
Briefe aufgedeckt, und im zweiten Theile werden fie fo
gelöft, dafs die Briefe nicht als Denkmäler des apoftoli-
fchen Zeitalters, fondern als katholifche Compilationen
von Excerpten und Auffätzen z. Th. jüdifchen Urfprungs
nachgewiefen werden. Der erfte Theil foll nur Ge-
wiffes enthalten und der zweite Wahrfcheinliches.
Aber foviel ich in diefem Buche gelefen habe, ich habe
in dem erften Theile nichts gefunden, was fich über die
Stufe der Unwahrfcheinlichkeit erhöbe, während
die Ergebnifse des zweiten Theiles nirgendwo auch nur
zu einer ernfthaften Discuffion Anlafs bieten. Den Ver-
faffern ift augenfeheinlich jedes Verftändnifs für die Per-
fönlichkeit Jefu Chrifti und des Paulus abhanden gekommen
; fie halten fie für unmögliche Geftalten, und
zwar ift es die toll gewordene philologifche Pedanterie,
welche fie um das gefchichtliche Verftändnifs gebracht hat.
Nach der Methode, mit welcher fie operiren, wäre es
eine Kleinigkeit, zu zeigen, dafs der Reformator Luther,
welcher uns in den 100 Bänden der Opera Lutheri entgegentritt
, niemals exiftirt hat, dafs diefe Werke vielmehr
Compilationen find aus der mittelalterl. Scholaftik,
aus der deutfehen Myftik, aus Johann Gerhard und den
Schriften einiger Theologen des 19. Jahrhunderts. Auch
die Reformation, wie man fie fich bisher vorgeftellt hat,
ift eine pure Unmöglichkeit; denn dann wäre ja etwas
Aufserordentliches in lebendigen Perfonen wirklich ge-
wefen und es hätte einen Mann gegeben, dem man nicht
alle Tage begegnet. Das Aufserordentliche entlieht
aber nach neuer Weisheit nur durch ,Mifchung'. Die
Interpolatoren, Redactoren u. f. w. find die wahren
Spitzführer des Fortfehritts. Indem ein Lappen achtlos
an den anderen genäht wird, entlieht das neue herrliche
Gewand, in welchem die nächfte Generation ftolzirt; indem
die Trümmerftücke verfchiedener Tempel zufammen-
gefchoben werden, entlieht der neue Stil und das neue
Gebäude. Im Anfang war alfo weder das Wort, noch
die That, fondern im Anfang war das Flickwerk und
die finnlofe Mifchung. Eine neue Welt des Geiftes
fchafft auf jeder weiteren Stufe des Fortfehritts — der
Redacteur. So dürfte ich die unausgefprochene Meinung
der beiden Verfaffer, ohne unbillig zu fein, wiedergeben.
Es ift fehr bedauerlich, dafs eine Beobachtung, der in

gewiffen Grenzen ein Recht zukommt, hier zu einem
Unfinn, weil zur Vernichtung des gefchichtlichen Paulus
, umgebildet ift, und dafs eine kritifche Thätigkeit
am N. T., die mit der gröfsten Umficht und Skepfis zu
führen ift, hier fich als eine rafende Technik producirt.
Einiges Beachtenswerthe ift in den drei letzten Capiteln
{De Pauli ingenio in Actis Apostolorum — Tractantur
capita selecta ex quarto evangelio — Veterum Christianorum
de perfecta- liomine opiniones), fowie in dem 1. Appendix
zu finden. Aber es ift wenig, und der Verfuch, der in
dem 2. Appendix gemacht ift (S. 280—295), an Holtz-
mann's Einleitung in das N. T., fowie an Manen's
Kritik zu zeigen, dafs man über Paulus' Briefe nichts
weifs, ift mifsglückt. Mit dem Schlufsfatz des Buches:
,Modo hoc teneas, licet affirmare Sacram Scripturam et
catholicam ccclesiam una crevisse usque ad concilium Nicaeae
Jiabituvi. Qui hoc optime perspexit, is demum superavit
maneum de Scr. S. iudicium et itnperfectam historiam
ccc/csiasticam eorutn qui ecelesiavi emendarunt, seil mi-
nime reddiderunt pristinam condicionem1 — ftimme ich
wefentlich überein, aber die Verfaffer halten den Sieg
diefes Urtheils auf, indem fie demfelben eine erfundene
Gefchichte untergefchoben haben.

Marburg. A. Harnack.

Schmid, fProf. Dr. Chrn. Friedr., Biblische Theologie des
Neuen Testamentes. Hrsg. von Dr. C. Weizfäcker.
5. Aufl., beforgt durch Dr. A. Heller. Leipzig, Fr.
Richter (J. Lehmann Nachf.), 1886. (XXXI, 595 S.
gr. 8.) M. 9.-

Wie früher Weizfäcker bei der Beforgung der erften
und der beiden folgenden Auflagen, fo hat auch Profeffor
Dr. A. Heller in Stuttgart bei der Herausgabe der vierten
undder fünften Auflage der Schmid'fchen biblifchen Theologie
des neuen Teftamentes fich unter Verzicht auf eigene
Zufätze oder eingreifende Aenderungen darauf befchränkt,
ausfchliefslich Schmid's Anficht zu möglichlt klarem und
gefichertem Ausdruck zu bringen. So bietet denn die
vorliegende Ausgabe bei der Fertigkeit, welche der Text
bereits in den früheren Auflagen gewonnen, nur einen
revidirten Abdruck ihrer Vorgängerin, von der fie fich,
abgefehen von mancherlei orthographifchen, hie und da
auch ftiliftifchen Glättungen nur durch Hinzufügung von
etwa zwanzig Citaten, die aus exegetifchen Vorlefungen
Schmid's nachgetragen find, unterfcheidet. So lebhaft
man es nun auch bedauern wird, dafs noch immer eine
grofse Zahl von Theologen fich über die wichtigfte der
neuteftamentlichen Disciplinen an der Hand eines Buches
unterrichtet, an welchem die Forfchungen der letzten
vier Decennien auf dem Gebiete der Einleitungsfragen,
der Einzelexegefe und vor Allem der neuteftamentlichen
Theologie felbft fpurlos vorübergegangen find,
fo wird man ein folches confervatives Verfahren, wie es
Weizfäcker und Heller hier beobachtet haben, doch nur
gerechtfertigt finden: Mit einzelnen Zufätzen und Ver-
befferungen ift dem Buche nicht geholfen. Eine durchgreifende
Umarbeitung aber, welche das Werk auf die
Höhe der heutigen Forfchung zu erheben fuchte, würde
dem Buche feinen einheitlichen Charakter nehmen und
dafselbe vor Allem fchon durch Ausfcheidung derjenigen
Abfchnitte, welche nach der gegenwärtig herrfchenden
Auffaffung in eine biblifche Theologie nicht hineingehören
, fowie durch Anwendung richtigerer Gefichtspunkte
und Grundfätze bei der Charakterifirung der einzelnen
neuteftamentlichen Syfteme gerade derjenigen Eigenthüm-
lichkeiten berauben, welche dem Schmid'fchen Lehrbuche
einen feilen Platz in der Gefchichte der biblifchen Theologie
fichern.

Leider hat fich in die vorliegende Ausgabe eine Anzahl
von finnftörenden Druckfehlern eingefchlichen, welche
zum gröfsten Theil der vorhergehenden Auflage fremd