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Ausgabe:

1887

Spalte:

1-3

Autor/Hrsg.:

Schneider, Wilh.

Titel/Untertitel:

Die Naturvölker. Mißverständnisse, Mißdeutungen und Mißhandlungen. 2 Tle 1887

Rezensent:

Thoenes, Karl

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Harnack, Prof. zu Marburg,und D. E. Schürer, Prof. zu Giefsen.

Erfcheint Preis
alle 14 Tage. Leipzig. J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. jährlich 16 Mark.

N°- 1. 15- Januar 1887. 12. Jahrgang.

Schneider, Die Naturvölker (Thönes).
Stellhorn, Kurzgefafstes Wörterbuch zum grie-

chifchen N. T. (Schmiedel).
Zündel, Aus der Apoftelzeit (Thönes).
Gothein, Ignatius von Loyola (Rade).
Gräber, Der Jefuitenorden (Rade).

Bärthold, Kierkegaard's Terfönlichkeit (Wetzel). < Carftenfen, Das Leben nach dem Tode (Har-
Schultz, Die Lehre vom h. Abendmahl (Herr- tung)

Weckeffer, Zur Lehre vom Wefen des Gewiffens
(Müller).

Kurzgefafste Mittheilungen.

Herr mann, Der Verkehr des Chriften mit
Gott (Häring).

Schneider. Dr. Willi., Die Naturvölker. Mifsverftändnifse, I den Infein des füllen Oceans ihren Namen gefchändet,
Mißdeutungen und Mifshandlungen. 2 Tie. Paderborn, ,Urfache hätten den Mund zu halten' (vgl. L S. 38 und

F. Schöningh, 1885 u. 86. (XI, 310 u. X, 501 S. gr. 8.) M. 10.—

Die Anfchauung, welche der Verfaffer von den fo-
genannten Naturvölkern gewonnen, legt er in der Vorrede
dahin dar, dafs die neuere Völkerkunde zwei Illu-
fionen gänzlich und für immer vernichtet habe, nämlich
fowohl den Rouffeau'fchen Traum vom ungetrübten
Menfchheitsideal auf entlegener Infel oder in einfamer

II. S. 118), fo beflcifsigt (ich der Verf. doch im Ganzen
eines unparteiifchen Urtheils.

Was nun das Nähere feiner Darlegungen angeht, fo
handelt ein einleitendes erftes Capitel über die ,Stellung
der Naturvölker in der neueren Ethnographie im allgemeinen
'. Der Hauptinhalt desfelben ift eine Beweisführung
dafür, dafs betreffs des Urfprungs unferes Gefchlechts
weder die polygeniftifche, noch die darwiniftifche An-

Wildnifs, als auch den Glauben ,defcendenzfreundlicher j fchauung fich bewähre, und kein Unbefangener wird be-
Phanl allen' an affenartige Menfchenhorden im dunklen ; haupten, dafs gegenüber den Thatfachen, die angeführt,
Erdtheile. Der Naturmenfch lebe überall im Natur- | und insbefondere auch den Widerfprüchen, welche bei

zwange, in einer Bettlerftellung gegenüber der äufseren
wie in einem Sklavenverhältnifs gegenüber der innern verderbten
Natur, indem er unter der Knechtfchaft eines
vielgeftaltigen Wahnglaubens und in den Banden von
Leidenfchaften und Ladern feufze. Andererfeits aber
fei der Naturmenfch in körperlicher, wie in geidiger Hinficht
dennoch ein Menfch und kein anthropogenetifches
Mittelglied zwifchen Menfch und Affe. Selbft die Schreckbilder
der Menfchheit, welche erregungsbedürftigen Naturen
den Kitzel des Pikanten und den höchden Reiz
des Haardräubenden bereiteten, feien nicht culturlos,
fondern nur culturarm und darum veredelungsfähig. Und
wenn de unferer Civilifation abgeneigt feien, fo habe dies
feinen Grund in einem Mangel an Intereffe oder in Mifs-
trauen, das durch Verführung und Mifshandlung feitens
der europäifchen Händler und Coloniden nur zu fern-
gerechtfertigt fei. Unfer Handel corrumpire nur die
Naturmenfchen, aber civilifirc de nicht; letzteres vermöge
allein der Miffionar, und zwar insbefondere auch darum,
weil die Naturvölker, in materieller Gefittung theils
regreffiv, theils progreffiv, theils dationär, in fittlich-
religiöfer Hinficht fämmtlich gefunkene und verwilderte
Menfchen feien, für die es ohne fremde Fürforge und
Führung keine Rettung gebe.

Es id ein aufserordentlich reicher Stoff, durch den
der Verf. verfucht, die Richtigkeit der fkizzirten Anfchauung
zu erhärten. So viel ich urtheilen kann, id keine
wichtigere Erfcheinung weder der neueren, noch auch
der älteren bezügl. Literatur übergangen ; auch Artikel aus
Zeitfchriften und Zeitungen find Oeifsig berückfichtigt.
Ebenfo verdient es Anerkennung, dafs Dr. Schneider trotz
des fpeeififeh katholifchen Standpunktes, den er einnimmt,
doch die Weite des Blicks fich bewahrt hat, auch das
anzuerkennen, was die protedantifchc Miffion unter den
Wilden geleidet, und auch deren Sendboten reichlich zu
Worte kommen zu laffen. Fehlt es auch nicht an einzelnen
böfen Seitenblicken namentlich auf die .frommen
Briten', .welche von fittlicher Entrüdung über das grau-
iäme Vorgehen der romanifchen Eroberer zu triefen
pflegen', aber angefichts der ungezählten Unmenfchlich

den Urgefchichtsforfchern aufgedeckt werden, das Urtheil
des Verf. ohne Gewicht fei. Auch den Culturhidoriker
Otto Henne-Am-Rhyn darf er dafür citiren, dafs Darwin
und feine Anhänger den Grund nicht kennen, der aus
einem auf Bäumen herumkletternden haarigen Thierwefen
einen Apollo auf Belvedere, ein Weltgericht, einen Hamlet,
einRequiem, eineKritikderreinenVernunft, einenKosmos,
die Anwendung der Dampfkraft, die Photographie und
die Telegraphie hervorgehen liefs, während andere haarige
Thierwefen der nämlichen Species noch heute auf den
Bäumen herumklettern und nicht einmal Feuer anmachen
oder eine Keule fchnitzen oder auch nur lachen können
(I. S. 71).

Der Einleitung folgen die zwei Haupttheile des
Werkes. Der erde fucht den Nachweis dafür zu erbringen
, dafs der Naturmenfch nicht Idealmenfeh fei, indem
die angeblichen Vorzüge der Naturvölker als nicht
vorhanden dargedellt und dazu eine Reihe von Ver-
irrungen und Ladern in deren Leben aufgewiefen werden.
Ihre fogenannte Zufriedenheit mit den freiwilligen Natur-
gefch enken fei in Wirklichkeit nichts anderes als eine
Bettlerdellung gegenüber der Natur, ihre fogenannte
Kindlichkeit werde durch ihre Graufamkeit aufs grellde
beleuchtet und ihre fogenannte Freiheit durch die mannigfaltigen
Feffeln, welche Mode und Wahnglauben ihnen
aufgelegt. Hiezu komme, dafs der bei ihnen vorhandene
Opfertrieb fich zu Kannibalismus und Menfchenopfern
verirrt habe, und unzählige Menfchenopfer auch von ihrer
wilden Jenfeitshoffnung und ihrem wilden Geiderglauben
(Hexenwahn) gefordert würden, während ihr fittliches
Leben durch Mifshandlung des Weibes, Kindermord und
künftlichen Abortus, Trägheit, Sinnlichkeit und Sitten-
lofigkeit auf die fchauerlichfte Weife entftellt fei.

Dies düftere Nachtgemälde wird nun im zweiten
Thcile durch den Nachweis gemildert, dafs fowohl die
Erzählungen von monftröfen und affenartigen Horden
Fabeln feien, als auch noch an den Schreckbildern der
Menfchheit, zu denen die Auftralier, Tasmanier, Bufch-
männer und Neger gerechnet werden, deutlich zu Tage
trete, dafs fic vermöge eines wenn auch geringen Mafses

keiten, durch welche fie in Amerika, in Afrika und auf | materieller und geifliger Cultur, wie religiöfer und fitt