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Ausgabe:

1886

Spalte:

171-172

Autor/Hrsg.:

Schulze, P.

Titel/Untertitel:

Hat Jesus Geschwister gehabt oder nicht? 1886

Rezensent:

Wetzel, Paul

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Seite 1

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171

172

exegetifche Unterfuchungen und dergleichen mehr bezeichnet
. Sobald aber folche Anfprüche für die Schriftbenutzung
in Talmud und Midrafch erhoben werden,
dürfte die beabfichtigte Apologie derfelben doch etwas
fchwer fallen. Wir haben für unferen Gefchmack fchon
genug an vielen Proben ihrer Exegefe, wenn wir die-
felben auch nur als ,geiftreichen Drufch' in Kauf nehmen
follen; fo z. B. an der ,Halacha', die nach S. 24 h aus
dem nb Lev. 21, 3 gefolgert wird, dafs fich der Priefter
nur an der ganzen Perfönlichkeit, an dem wirklichen
Leichnam, nicht aber an einem auf chirurgifchem Wege
einem der heben Verwandten abgefchnittenen Gliede verunreinigen
darf — oder wenn der Leichenredner des
R. Levi bar Sih nach S. 50 f. behauptet, diefer Todte fei
Gott dem Herrn fo lieb und theuer, wie alle Menfchen,
fo lieb und theuer, wie die ganze Welt, und fich dabei
auf Koh. 12, 13 beruft, nämlich in der Faffung (nach
Schiffer): ,denn diefer da, der alles diefes treu beherzigt
hat — Prellt das ganze Menfchengefchlecht vor'.
Angehchts folcher Proben, von denen fich Referent eine
ziemliche Anzahl notirt hat, darf man wohl ein anderes
Prädicat, als .geiftreicher Drufch' am Platze finden.

Doch mag dies meinetwegen als eine Gefchmacks-
frage auf fich beruhen. Anderer Art find die Wünfche,
die wir für den Fall einer Fortfetzung der Arbeit (und
wir halten eine folche bei der fichtlichen Vertrautheit
des Verf.'s mit dem rabbinifchen Schriftthum für wün-
fchenswerth) auf dem Herzen haben. Frftlich follte der
Verf. wenigftens einige Fühlung mit den namhafteften
chriftlichen Auslegern zu gewinnen fuchen. Vielleicht
würde er dann feinen kritifchen Standpunkt, fowie die
Auffaffung mancher einzelnen Stellen (z. B. 9, 4: ,einem
lebenden Hunde ift wohler, als einem todten Löwen')
in etwas modificiren. Zwar befitzt der Verf. nach S. 104
den Hitzing'fchen (sie) Commentar in der Bearbeitung
Nowack's, erfährt aber erft aus diefem die wahre Meinung
Delitzfch's über den Kanonicitätsftreit; aufserdem
kennt er noch Kamphaufen's Anmerkungen zu Block's
(sie) Einleitung. Ueber der Correctur des Buches mufs ein
recht ungünftiger Stern gewaltet haben. Druckfehler und
ganz befonders unbegreifliche Kommata mitten im Satze
rinden fich zu Dutzenden; auch die vielen Wiederholungen
(namentlich der hebr. Bibelcitate) find recht ftörend. Am
meinen aber hat fich Referent in einer Arbeit über Talmud
und Midrafch über die feltfamen Namen der Tal-
mudtractate gewundert. Oder find Kidufchin, Synhedrin,
Gitin, Pessachin, Jedaim, Jdiot oder Ediot, Horiot (vergl.
aufserdem tossaphot neben tosaphot, letzteres auch im
Status constr.; Peschito oder Peschita; Jochasin etc.) auch
nur Druckfehler?

Tübingen. Kautzfeh.

Schulze, P., Hat Jesus Geschwister gehabt oder nicht? Eine
unbefangene Erörterung aus den zugänglichen Urkunden
. Dresden, Dieckmann, (1885). (14 S. gr. 8.)
M. —. 40.

Eine kurze und herzlich unbedeutende Flugfchrift.
In aller Kürze ftellt der Verf. die Stellen der heiligen
Schrift und der älteften Kirchenväter zufammen, in denen
von Gefchwiftern Jefu die Rede ift und weift die Meinung
ab, dafs unter den Brüdern etwa nur Vettern oder
Stiefbrüder zu verftehen feien. Gegen diefes Refultat
wird wohl nicht viel einzuwenden fein. Aber wer nicht
mehr zü bieten hat, als was jeder Gebildete weifs oder
in einem Leben Jefu etwa bei Keim nachlefen kann, follte
doch mit etwas mehr Befcheidenheit auftreten, als der
Verf. verräth, wenn er im Vorwort fagt: ,Vorurteilsfreie
Lefer, denen es nur um die Wahrheit zu thun ift,
mögen fich durch diefes Flugfchriftchen ein Urtheil bilden.
Dem Klerus aber wäre es nicht minder zu empfehlen, damit
derfelbe nicht der Ignoranz in diefer Angelegenheit

geziehen werden könne'. Es giebt unter dem katho-
lifchen Klerus gelehrte Theologen genug, denen diefe
Worte wohl nur ein mitleidiges Lächeln abnöthigen werden.
Anflöfsig aber auch für jeden Proteftanten ift es,
wenn der Verf. hier noch hinzufügt: ,Von der wirklich
hiftorifchen Wahrheit gilt ja heute noch, was im Evangelium
gefchrieben fteht: Ihr werdet die Wahrheit erkennen
und fie wird euch frei mächen'. Eine mir befremdliche
Auffaffung des Urchriftenthums verrathen auch
die Worte auf S. 11: ,Durch diefe Stellung fo naher Verwandter
an der Spitze der chriftlichen Kirche war diefelbe
eine Zeit lang in Gefahr in ein Kalifat, wie im Islam, auszuarten
'. Am wenigften ift dem Verf. der Nachweis gelungen
, dafs durch den von ihm ftatuirten gefchichtlichen
Thatbeftand das religiöfe Intereffe, welches für die Annahme
des Maria Semper virgo zu fprechen fcheint, die
übrigens doch auch von den Reformatoren und fear
namhaften proteftantifchen Theologen aeeeptirt worden,
nicht verletzt wird.

Dornreichenbach. Wetzel.

Mommsen, Th., Zur lateinischen Stichometrie (Hermes,
XXI. Band, 1. Heft S. 142—156).

In diefer Abhandlung hat Mommfen Mittheilungen
gemacht über eine in der Bibliothek Phillips in Chelten-
ham befindliche, bisher nicht benutzte (2.) Abfchrift des
Uber generationis des Hippolytus (saec. X.). ,An fich ift
diefe Handfchrift von geringem Werth'; aber eine Notiz
in derfelben beweift, wie Mommfen zeigt, dafs fie auf
ein im Jahre 359 gefchriebenes Exemplar zurückgeht.
Sie fchliefst aber p. 81 f. den Uber generationis ab mit
einem Verzeichnifs der biblifchen Schriften, das die
libri canonici nicht blofs des alten, fondern auch des
neuen Testamentes und überdiefs noch die Schriften
Cyprian's cum indkulis versuum verzeichnet. Diefes Verzeichnifs
ift, wie Inhalt und Form beweifen, ebenfalls
aus dem Exemplar vom J. 359 abgefchrieben. Alfo
haben wir hier einen für die Kanonsgefchichte
und für die altchriftliche Literaturgefchichte
fehr bedeutenden Fund dankbar zu begrüfsen.
Ein abendländifches Verzeichnifs der h. Schriften beider
Teftamente mit Angabe der Verfe aus dem J. 359 ift
eine Rarität erften Ranges, und ein buchhändlerifches ')
Verzeichnifs der Werke eines Kirchenvaters, 100 Jahre
nach feinem Tode, in 51 Nummern mit Angabe des
Umfangs der Schriften, ift geradezu ein Unicum 2).

Mommfen hat S. 144—148 die Aufzeichnung zum
Abdruck gebracht und S. 148—156 mit einer aufser-
ordentlich lehrreichen Erörterung begleitet. ,Diejenigen
Gelehrten', bemerkt er, ,die fich mit dem Kanon der
biblifchen Bücher und mit der Kritik Cyprian's, fowie
mit der Stichometrie überhaupt abgeben, werden nicht
verfehlen, fich mit den Verzeichnifsen eingehender zu
befchäftigen'.

Da eine Unterfuchung der indicula utriusque testamenti
von Th. Zahn bereits angekündigt ift und die
Unterfuchung des Schriftenverzeichnifses Cyprian's eine
eigene Abhandlung verlangt, fo gebe ich im Folgenden
im Intereffe der Lefer diefer Zeitung einen Abdruck des
Indiculum novi testamenti und begnüge mich mit einigen
Bemerkungen zu den Verzeichnifsen, die fich mir aus
der Leetüre des Lucifer von Cagliari nach der neuen
Ausgabe von Härtel ergeben haben.

Nach dem indiculum veteris testamenti heifst es in
der Handfchrift:

Sed ut in apocalypsis (so) hhannis dictum est: „vidi

1) S. Mommfen a. a. O. S. 148 f. Das Verzeichnifs flammt wahr-
fcheinlich aus Africa.

2) Zu vergleichen ift etwa des Hieronymus' Verzeichnifs der
Schriften des Origenes, deffen einzige Handfchrift fich ebenfalls in der
Bibliothek Phillips in Cheltenham befindet (f. Ztfchr. f. d. hiftor. Theol
1851, S. 66 f.).