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Ausgabe:

1886

Spalte:

611-621

Titel/Untertitel:

Blicke auf die Geschichte der lateinischen Bibel im Mittelalter. Old-Latin Biblical Texts: No. II. Portions of the gospels according to St. Mark and St. Matthew 1886

Rezensent:

Ranke, Ernst

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6n

Salom. ift aber eine fo allgemeine, dafs ich auch auf
diefem Punkte den von Pfleiderer verfuchten Beweis
nicht für zwingend halten kann. Noch weniger zwingend
find freilich die Ausblicke auf heraklitifche
Einflüffe in der alterten chriftlichen Literatur,
fpeciell im Johannesevangelium, mit welchen
Pfleiderer's Unterfuchung abfchliefst (S. 365—382). Diefe
Ausblicke fchweifen fo in die Ferne, dafs fie fich einer
fpeciellen Discuffion entziehen.

Giefsen. E. Schürer.

Blicke auf die Geschichte der lateinischen Bibel
im Mittelalter.

Old-Latin Biblical Texts: No. II. Portions of the gos-
pels according to St. Mark and St. Matthew from
the Bobbio Ms. (k), now numbered G. VII. 15 in the
national library at Turin, together with other frag-
ments of the gospels from six mss. in the libraries
of St. Gall, Coire, Milan, and Berne, (usually cited
as n, o, p, a,2, s, and t), edited with the aid of
Tischendorf's transcripts and the printed texts of
Ranke, Ceriani, and Hagen with two facsimiles by
Bishop John Wordsworth, D. D., Prof. W. San-
day, M. A., D. D., and Curate H. J. White M.
A. Oxford, at the Clarendon Press, 1886. (CCLVI,
140 pp. 4.) 21 s.

Der erfte Band diefes Werkes, welches das Ev.
Matthäi nach der Parifer Handfchrift von St. Germain
11553 enthält, ift im Decemberheft diefer Zeitung vom
J. 1884 durch Dr. v. Gebhardt unter lebhafter Anerkennung
feines Werthes zur Anzeige gebracht worden.

Im Laufe diefes Sommers ift der zweite an Umfang
dreimal gröfsere Band, welcher Fragmente der beiden
erften Evangelien nach dem Bobbiocodex k und aufser-
dem eine Reihe anderweitiger Fragmente des N. Teft.
nach einzelnen Blättern der im Titel genannten Bibliotheken
darbietet, erfchienen, und derfelbe Gelehrte ift
bereit gewefen, auch ihn zu öffentlicher Befprechung zu
bringen, hat aber freundlichft dem Unterzeichneten, den
eine befondere Veranlaffung zu eingehender Befchäfti-
gung mit dem ganzen Werk veranlafst hat, die Anzeige
in diefen Blättern überladen.

Ueberblicken wir den Inhalt beider Theile, fo können
wir freudig bekennen, dafs wir durch das Werk nicht
nur in den Stand gefetzt werden, die wichtigften Itala-
urkunden des N. Teft. gefammelt vor uns zu haben,
fondern auch in dem Verftändnifs der für den Urtext
des N. Teft. fo wichtigen vorhieronymianifchen Ueber-
fetzungen, ja der Literaturgefchichte der h. Schrift im
Allgemeinen eine willkommene Förderung erhalten.

Durch den vollftändigen Abdruck einer Handfchrift
von biblifchem Inhalt wird uns die Geftalt, welche der
Text in der Zeit ihrer Entftehung aufgewiefen hat, doch
viel näher, als durch irgend welche Befchreibung vor
die Augen gerückt. Auch folche Beftandtheile derfelben,
welche in irgend welcher Weife das Verftändnifs des
Textes fördern follen, find uns von Werth. Trifft es
fich, dafs der Autor der Handfchrift oder auch nur der
Abfchreiber gelegentliche Bemerkungen eingeflochten
hat, und find wir im Stande, diefelben zu verftehen und
mit anderwärts aufgefundenen Nachrichten in Verbindung
zu bringen, fo gewahren wir mit Ueberrafchung,
dafs fich die zunächft rein philologifche Area, auf der
wir flehen, in einen Fruchtboden für gefchichtliche An-
fchauung verwandelt. Es lohnt fich, den Beweis hiefür
zunächft im Hinblick auf den im erften Bande des Werkes
herausgegebenen Codex gt anzutreten und in einem
zweiten Artikel auf Codex k und die im Titel genannten
kleineren Fragmente überzugehen.

I

Vor dem Erfcheinen der Wordsworth'fchen Ausgabe
des Matthäustextes in jenem erfteren hat kein
Bibelkritiker, der ihn nicht felbft mit Augen fah, ahnen
können, dafs diefer von Bentley gefchätzte Codex, def-
fen introductorifche Angaben in der gelehrten Einleitung
Wordsworth's genau nach dem Urtext dargelegt find,
: Stellen enthält, welche, wenn wir ihnen näher nachgehen,
auf die Eigentümlichkeiten desfelben und, irren wir
nicht, abgefehen von feinen Schriftzügen, auf die Zeit
feiner Entftehung ein Licht werfen. Im Voraus fei be-
i merkt, dafs er urfprünglich auch das Alte Teft. umfafst
hat und in der Geftalt, welche er jetzt aufweift, mit den
' Sprüchen Salomo's beginnt.

Die erfte diefer Stellen ift, vgl. I, x, am Schlufs des
| Buches Efther zu lefen. Sie befagt, dafs bis hieher die
j kanonifchen Schriften des A. Teft. reichen: 24 Bücher,
die Hieronymus aus der hebräifchen Wahrheit in's La-
teinifche überfetzt habe. Wir erkennen hieraus, worauf
die Abficht des Urhebers der Handfchrift gerichtet war:
es kam ihm darauf an, die Bücher des Ä. Teft. nach
! der Ucberfetzung des Hieronymus zu geben. Damit
j ftimmt der Schlufs der Handfchrift, vgl. die Notiz I, xn
Explicit ad Hebreos Lege cum pace. Bibliotheca Hiero-
j nimi prsb. Bethleem secundum grecum ex emendatis mis
j | richtig von W. erklärt emendatissimis] cxcmplaribus con-
latus. Hiemit ift die hieronymianifche Arbeit: Verbef-
I ferung der alten lateinifchen Ueberfetzung unter Ge-
! brauch der bellen griechifchen Quellen: klar bezeichnet.

Was für einen Weg fchlug der Autor des Codex
I ein, um diefes Ziel zu erreichen?

,Mit höchftem Eifer und höchfler Sorgfalt' fagt er
vgl. i, x, ,habe ich durch verfchiedene Bücher fehweifend
{per diversos Codices oberrans) die Editionen [die Ueber-
fetzungen der biblifchen Bücher in die lateinifche Sprache]
durchforfcht {editiones perquisiui), fie in ein Ganzes gebracht
[in unum collexi corpus], fchreibend fie umgegof-
fen {scribens transfudi, nämlich in diefen Codex) und
zu einer Gefammtheit {pandecten = navdtxrtp)) vereinigt.

Hiernach war in dem Kreife, den fein Blick be-
herrfchte, eine vollftändige Ausgabe des hieronymiani-
fchen Ueberfetzungswerks nicht vorhanden, vielmehr fah
er nur die einzelnen Bände der Schriftüberfetzung vor
fich, wie denn die verfchiedenen Bücher der Schrift von
Hieronymus zu verfchiedenen Zeiten einzeln herausgegeben
worden find, und es kam ihm darauf an, die das
Gepräge von deffen Geift und Hand tragenden Stücke
aus der Menge der auf ihn gekommenen Bücher ausfindig
zu machen — eine Aufgabe, die allerdings ihre
Schwierigkeit hatte. Einen Codex, wie der Amiatinifche
ift, kannte er nicht.

Unbeftimmt mufs es für's Erfte bleiben, was es mit
den folgenden Worten Obsecro rogo etc. auf fich hat,
welche die Bitte des Schreibers an den Lefer enthalten,
für ihn, den scriptor humilHmus et peccator, zu Gott zu
beten, dafs er Vergebung feiner Sünden erlangen möge.
An fich kann der Autor des Codex recht wohl auch als
Schreiber gedacht werden. Wenn fich aber eine andere
Stelle zeigt, welche verlangt, dafs zwifchen dem Autor
und dem Schreiber unterfchieden werde, fo wird die
Herkunft jener Worte zweifelhaft. Nachdem der Autor
geredet, kann auch der Schreiber zu Worte kommen,
und es mufs zwifchen ihren Ausfagen unterfchieden werden
. Ift aber dies der Fall, fo wird — da der forgfame
Herausgeber Nichts davon bemerkt, dafs man die dem
Schreiber perfönlich angehörigen Worte etwa durch ihre
Stellung am Rande des Haupttextes von den Worten
des Verfaffers unterfcheiden könne, — angenommen
werden müffen, dafs wir es in diefem Theil des Codex
nicht mit einem Original, fondern mit der Abfchrift eines
folchen zu thun haben, in welcher das, was der Schreiber
im Original als feine eigene Herzensergiefsung neben