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Ausgabe:

1886

Spalte:

564-565

Autor/Hrsg.:

Kolberg, Joseph

Titel/Untertitel:

Verfassung, Cultus und Disciplin der christlichen Kirche nach den Schriften Tertullians 1886

Rezensent:

Ritschl, Otto

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563 Theologifche Literaturzeitung. ]8S6. Nr. 24.

foviel ich fehe, für die Beantwortung der beiden Hauptfragen
: aus welchen Elementen beftand das vulgäre
Heidenchriftenthum im nachapoftolifchen Zeitalter? hat
die Macht und der Einflufs des Judenchriftenthums auf
die werdende katholifche Kirche im 2. Jahrhundert fortgewirkt
? — nicht eben viel aus. Ich könnte Hilgenfeld
nahezu Alles zugeben, was er über Sadducäer, Pharifäer,
Effener, Samaritaner, Galiläer, Hemerobaptiften, Nazaräer,
Nafiräer, Elkefaiten, Ebioniten u. f. w. ausgeführt hat,
und doch die ,gefchichtlichen Ergebnifse' S. 116—-122
ablehnen. Diefe find m. E. durch die voranftehenden
Untcrfuchungen nur zum Theil gedeckt. Vor allem ver-
miffe ich in einer Abhandlung unter dem Titel Judenthum
und Judenchriltenthum' eine eingehende Unterfuchung
der in dem Judenthum der Uebergangszeit — abgefehen
vom Chriftenthum — vorhandenen Anfätze zu einer Uni-
verfalreligion, wie folche im alexandrinifchen Judenthum
und in dem der Diafpora überhaupt nachweisbar find.
Hilgenfeld hat fie wohl geftreift; er hat auch in dankens-
werther Weife innerhalb des Ebionitismus die univerfa

genfeld in diefer Abhandlung einen Beitrag geliefert.
Er ift ausgezeichnet durch grofse Gelehrfamkeit und
ein Parkes Vertrauen auf die Glaubwürdigkeit des Epi-
phanius.

Marburg. A. Harnack.

Kolberg, Prieft., Dr. Jos., Verfassung, Cultus und Disciplin
der christlichen Kirche nach den Schriften Tertullians.

Braunsberg, Huye, 1886. (VI, 226 S. gr. 8.) M. 3.—■

In der vorliegenden Schrift will der Verfaffer laut
der Vorrede ein Gefammtbild des kirchlichen Gemeinelebens
in Afrika am Anfange des 3. Jahrhunderts geben.
Diefem Plane entfpricht es, dafs er fich nicht genau auf
die im Titel genannten Gebiete, Verfaffung, Cultus und
Disciplin, befchränkt, fondern auch damit zufammen-
hängende andere iMnrichtungen des chriftlichen Lebens
berührt hat. So nimmt er denn auch mit Abficht von
einer ftrengen Dispofition des Stoffes nach jenen drei
Gefichtspunkten Abftand, um dadurch eine lebensvollere
liftifchen Tendenzen, wo folche fich finden, hervorgeho- I Darftellung zu erreichen und Weitfchweifigkeiten zu Verben
; allein vom Standpunkt der Univerfalgefchichte der I meiden. Das Buch zerfällt in 40 Paragraphen, welche
Kirche kommen diefe Verfuche wenig in Betracht, wäh- : in 7 Abfchnitten zufammengefafst find. Von diefen be-
rend die Vergeifligung, Entfchränkung und Gräcifirung I handelt I. die Grundlagen der kirchlichen Verfaffung,
der jüdifchen Religion in der griechifch-römifchen Dia- 1 II. die kirchlichen Stände, III. Arcandisciplin und Kate-
fpora die höchfte Beachtung fordern. I chumenat, IV. Sacramente und Opfer, V. Sacramenta-

Die verfchiedene Terminologie, welche wir brauchen, I lien, d.i. Exorcismen und Benedictionen, VI. das Kirchen-
läfst übrigens die Differenzen gröfser erfchcinen als fie jähr, VII. die kirchlichen Gebäude. Die Darftellung
find. Hilgenfeld fpricht von urapoftoli fchen J uden- fchliefst fich eng an den in Tertullian's Schriften ge-
chriftenthum und von j u d e n ch r iftlichem oder ur- botenen Stoff an. Dennoch find die Krgebnifse derfelben,
apoftolifchem Heidenchriftenthum, wo ich mit i in welchen der Verf., wie er fclbft angiebt, die Arbeiten
dem einfachen Terminus Chriftenthum auskomme. ! von Probft, Th. Harnack und Kliefoth zum Theil ver-
Jene bedenklichen Begriffsbildungen find nur verftändlich, ; werthet hat, nur mit Vorficht aufzunehmen. Die zahl-
wenn man Paulinismus und Chriftenthum identificirt. reichen Belegftellen aus Tertullian ftimmen nämlich häufig
Das will Hilgenfeld gewifs nicht; aber wozu dann die nicht mit dem überein, was im Text aus ihnen gefchöplt
Umfchweife? Nach ihm ift z. B.Juftin ein Vertreter desju- wird. So wird auf S. 8 behauptet, dafs die Kirche die

denchriftlichen oder urapoftolifchen Heidenchriftenthums,
d. h. er ift kein Pauliner. Letzteres ift auch meine Meinung
; und wenn er mir in feiner Haltung wefentlich wie
ein Philo erfcheint, der aber an die Erfüllung der

Wiederaufnahme Mancher geübt habe, welche wegen
Todfünden aus ihr ausgefchieden worden waren. Die
angeführten Stellen aus ad mart. und de poen. beweifen
dies nicht. Dagegen widerfprechen jener Annahme

ATlichen geiftig gedeuteten Verheifsungen in Jefus Chri- geradezu die vielen aus de pudic. citirten Beifpiele, die
ftus glaubt und alle Befchränkung derfelben auf das jü- der Verf. nur mechanifch verwerthet hat. Derfelbe ver-
difche Volk aufgegeben hat, fo hat Hilgenfeld, foviel j weift hier nur auf die einzelnen Ausdrücke, wie recon-
ich fehe, auch nichts einzuwenden. Die fubtile Frage ciliatio, veniam consequi, rcstitutioncm conscqui und dergl.,
ift mithin diefe: an welche Erfcheinung des apoftolifchen welche er aus einem Zufammenhange gerilfen hat, in
Zeitalters ift jener Typus anzuknüpfen? Ich fehe keinen dem jene Vorftellungen vielmehr verneint und ausge-
Grund, hier auf die judaiftifchen Gegner des Apoftels j fchloffen werden. Oder Hellt fich der Verf. etwa auf
Paulus oder auf den uns wenig klaren Standpunkt : den Standpunkt des römifchen Bifchofs Kalliftus, gegen
der Säulenapoftel zu reflectiren. Das Jüdifche' Element den fich Tertullian in der angeführten Schrift ausläfst?
in dem werdenden Katholicismus fchlage ich fo hoch ( Zum Schlufs erwähnt er wenigftens, dafs es bei den
wie möglich an ; eben defshalb trage ich Bedenken, von 1 Montaniften eine Bufse ohne Vergebung gab. Aber
Judenchriftenthum' hier zu fprechen — als gäbe es, vom auch dann hätte die Abweichung des Montaniften Ter-
gnoftifchen abgefehen, ein Chriftenthum, welches jenes ! tullian von der römifchen Kirche an diefer Stelle her-
Element nicht befäfse —; aber dafs diefes jüdifche Ele- 1 vorgehoben werden müffen. So jedoch erweckt der
ment nur durch das Medium des Judenchriftenthums ; Verfaffer den Schein, als ob die Autorität der Schrift
d. h. national-jüdifch befchränkter chriftlicher Gemein- j Tertullian's de pudic. feine Behauptung von der angeb-
den und Miffionare in das kirchliche Chriftenthum ge- lieh in der Kirche gebräuchlichen Wiederaufnahme von
kommen ift, beftreite ich. Es ift aller Grund zu der An- j Todfündern decken follte. Von den anderen Stellen
nahrne vorhanden, dafs fich im Reiche aus jüdifchen j gleicher Art erwähne ich nur noch, dafs der Verf. aus
Profelytenvereinen gefetzesfreie chriftliche Gemeinden apol. c. 39 herauszulefen vermocht hat (S. 146), dafs der
gebildet haben, ohne je vor die Frage geftellt worden Büfser nach Vollendung der Bufse und reiflicher Ueber-
zu fein, die zwifchen Paulus und feinen Gegnern verhan- legung des Bifchofs und Presbyteriums reconciliirt wurde,
delt worden ift. Sie waren eben von Haufe aus ge- während dort nur von dem bei den Chriften üblichen
fetzesfrei; aber fie erhielten nun die Ueberzeugung, dafs Gericht über Vergehen und von der Strafe der Ex-
ihr Standpunkt, gemeffen an dem ftreng jüdifchen, nicht communication die Rede ift. Diefe Methode des Verf.
ein untergeordneter, fondern vielmehr der höhere fei. kann nun nicht auffallen, da er nicht einmal die aus der
Dafs neben diefer Umbildung, die im Mittelpunkt der deutfehen Literatur in Anführungszeichen mitgetheilten
Entwickelung geftanden hat, das wirkliche Judenchriften- Stellen richtig wiedergiebt. So citirt er S. 54 Bonwetfch,
thum auch noch im 2. Jahrhundert in einigen Provinzen ; Wefen, Entltehung und Fortgang der Arcandisciplin,
eine gewiffe Rolle gefpielt hat, ift natürlich nicht zu Ztfchr. für hift. Theol. 1873, S. 258: ,wie fehr noch
leugnen. Mafs und Umfang diefer Wirkfamkeit zu be- j Tertullian's gefunden! Sinne alle Geheimnifsthuerei wider-
ftimmen, ift eine intereffante, aber fchwer zu löfende ftrebte', während bei B. zu lefen ift: ,Tertullian, deffen
antiquarifche Aufgabe. Zur Löfung derfelben hat Hil- evangelifches Bewufstfein gegen Geheimnifskrämerei noch