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Ausgabe:

1886 Nr. 22

Spalte:

522-524

Autor/Hrsg.:

Kierkegaard, Sören

Titel/Untertitel:

Stadien auf dem Lebenswege. Studien von Verschiedenen 1886

Rezensent:

Wetzel, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 22.

522

allerdings fo, wie der Verf. fagt, dafs der evangelifchen
Kirche nur eine aus ihr hervorgegangene und nur durch
diefe ihre Herkunft innerlich gebundene Theologie etwas
nützen kann. Aber die vom Verf. dazu berufene Kör-
perfchaft ift gewifs nicht dazu geeignet, die Geburt der
Theologie aus dem in der Kirche wirklich vorhandenen
Leben zu fördern. Sie könnte im beften Falle doch
nur diejenige Theologie zufammenbringen, welche die
Majorität in dem kirchlichen Vertretungskörper fich
wünfcht. Der Herr Verf. aber wird gewifs nicht meinen,
dafs in diefer Majorität alles Leben der Kirche zufam-
mengefafst fei. Denn er räumt ein, dafs diefe Kirche
nicht ein ftagnirender Sumpf fei, fondern ein fiiefsender
Strom. Aber bei einem fich entwickelnden Wefen ift
dasjenige, was den Moment beherrfcht, von den Regungen
, in denen fich eine neue Entwicklungsftufe
vorbereitet, zu unterfcheiden. Die letzteren können in
der evangelifchen Kirche zu der ihnen gebührenden
Geltung nur dann kommen, wenn die evangelifche Theologie
wenigftens als ein freies, dem mechanifchen Eingreifen
der herrfchenden Majorität entzogenes Gebiet
kirchlichen Lebens anerkannt wird. Und diefs würde
aufhören, wenn die theologifchen Fakultäten nach den
Wünfchen des Generalfynodalvorftandes befetzt würden.
Um fo mehr mufs diefs einleuchten, wenn man an den
Verlauf denkt, den die Ausführung einer folchen Mafs-
regel nothwendig nehmen würde. Die meiften Mitglieder
des Synodalvorftandes, wenn nicht alle, werden immer
der Theologie fo fern ftehen, dafs fie fich bei der Be-
urtheilung zeitgenöffifcher Theologen der Leitung eines
Andern felbftverftändlich überlaffen. Diefer Andere wird
in den meiften Fällen die Kirchenzeitung fein. Es würde
alfo bei der vom Verf. vorgefchlagenen Mafsregel den
Leitern diefer Preffe ein ausfchlaggebender Einflufs auf
einem Gebiete verfchafft werden, wo er am Wenigften
ftattfinden darf, nämlich in der wiffenfehaftlichen Theologie
. Eine Theologie, welcher auf folche Weife ihre
bevorzugten Arbeitskräfte zugeführt würden, hat nicht
die Freiheit, welche ihr für den Dienft an der evangelifchen
Kirche nothwendig ift. Die Freiheit aber, welche
der Verf. den in folcher Weife creirten Docenten einräumen
will, würden die Letzteren gar nicht verwerthen
können, weil fie in Folge ihrer Herkunft, als Producte
der Parteiherrfchaft und einer nothwendig unwahrhaftigen
Preffe, zur Wahrheitsforfchung möglichft untauglich fein
würden. Die jetzt übliche Art der Anftellung theolo-
gifcher Docenten verbürgt dagegen die nothwendige
Freiheit, foweit diefs möglich ift, weil dabei die berufs-
mäfsigen Vertreter der Theologie das Wefentliche zur
Erneuerung und Ergänzung der Fakultäten thun. Wo
aber bleibt die Bürgfchaft für die Kirchlichkeit der
Docenten, die nicht nur theologifche Akademiker fein,
fondern die zukünftigen Träger des Kirchenamts unterweifen
follen? Der Verf. will diefe Kirchlichkeit dadurch
herftellen, dafs er nach dem Grundfatze des auf poli-
tifchem Gebiete bereits verblühten extremen Parlamentarismus
die theologifche Fakultät der Macht der kirchlichen
Mehrheit unterwirft. Aber erftens ift diefe Mehrheit
nicht die Kirche, und zweitens entbehrt die von ihr erzwungene
Theologie der Freiheit. Um die Kirche anzutreffen
, nach der die Theologie fich richten foll, mufs
man nicht bei folchen Tagesgefchöpfen, wie eine kirchliche
Mehrheit und ihr Synodalvorftand, ftehen bleiben,
fondern mufs fich an die heil. Schrift und an die Be-
kenntnifsfehriften der deutfehen Reformation wenden. In [
dem Evangelium, welches diefe Bücher der heil. Schrift
entnommen haben, ift der kurze Ausdruck der Welt-
anfehauung gegeben, die in den thätigen Mitgliedern der
evangelifchen Kirche leben und dem evangelifchen Theologen
als der Grund feiner Lehrthätigkeit gelten foll.
Eine Verpflichtung der Docenten auf jene Bekenntnifs-
fchrift würde wenig nützen. Wohl aber würde die Verpflichtung
etwas helfen, dafs jeder Docent mit den Studenten
diefe Bücher bisweilen tractiren foll. Vor dem
gewaltigen Geifte der Reformation würde ficherlich, wenn
man ihn treu und fleifsig zu erfaffen fucht, die kränkliche
Nachblüthe der Romantik, welche fleh heutzutage
Confeffionalismus oder Liberalismus nennt, nicht Stand
halten. Das wäre eine innerhalb der evangelifchen Theologie
erzeugte und verbürgte Kirchlichkeit. Den evangelifchen
Fakultäten die Kirchlichkeit äufserlich durch
einen wohlmeinenden Generalfynodalvorftand wie eine
Zwangsjacke anzulegen, ift nicht möglich.

Dafs der Verf. eine Antwort, auf die Frage, welche
er an die Ritfchl'fche Schule richtet, noch nicht hat vernehmen
können, ift nicht meine Schuld.

Marburg. W. Herrmann.

Kierkegaard, Sören, Stadien auf dem Lebenswege. Studien
von Verfchiedenen. Zufammengebracht, zum
Druck befördert und hrsg. von Hilarius Buchbinder.
Ueberfetzt von A. Bärthold. Leipzig, Lehmann
Nachf., 1886. (VII, 500 S. 8.) M. 7. —

Ref. fleht fich zu feinem Bedauern nicht in der Lage
diefes Buch wefentlich günftiger zu beurtheilen, als die
in No. 12 befprochene Erftlingsfchrift desfelben Verf.'s,
deren ergänzende FVrtfetzung es bilden foll. In der
Vorrede zu jener bemerkt der Ueberfetzer: ,Den eigentlichen
Schluls von „Entweder — Oder" bilden „Die Stadien
auf dem Wege des Lebens". Diefelben zeigen, wie
noch höher als die ethifche die religiöfe Lebensan-
fchauung fteht, weshalb auch diefe erft der irdifchen
Liebe ihre höchfte Weihe ertheilt'. Ebendafelbft ift das
Urtheil Adolf Strodtmann's angeführt: ,In den „Stadien
auf dem Lebenswege" wird der religiöfe Standpunkt
durch einen einfamen Denker, FVater Taciturnus .repräfen-
tirt, deffen Grübeleien über feine Lebensverhältnifse und
deffen Selbftreflexion an Tiefe alles übertreffen, was
irgend eine Literatur befitzt'. A. Bärthold fucht dies
an Ueberfchwänglichkeit noch zu überbieten. In feinem
Vorwort fteht zu lefen: ,Als dies Werk zum erften Mal
erfchien, kam es zu früh, in demfelben Sinn wie Sokrates
in feiner Zeit zu früh kam, da eben noch die Sophiften
das Volk bezauberten' und am Schlufs: ,Gerade diefes
Werk wird, foweit darin Kierkegaard's Perfönlichkeit hervortritt
, an jenes Wort Campanella's erinnern:

Einfam und nicht allein, frei und gebunden,
Ein Rümmer Rufer, ohne Schwert ein Held,
Ein Thor dem Auge niedrer Welt,
Ein Weifer bin ich vor dem Herrn erfunden.'

Auf die Gefahr hin, der niederen Welt zugerechnet
zu werden, deren Auge zu blöde, die fo hoch gepriefene
Weisheit in K.'s Schriften zu erkennen, mufs Ref. diefer
mafslofen Verherrlichung K.'s entgegentreten.

Die Stadien auf dem Lebenswege erinnern in Stil
und Manier gar fehr an .Entweder — Oder'. Enthalten
fie nichts in dem Mafse anftöfsiges, wie an jenem Werk
zu rügen ift, fo verrathen fie dagegen fchon eine gewiffe
FJrmattung des fchriftftellerifchen Vermögens. Wieder
erzählt der Verf. mit vielem Behagen, wie es zur Veröffentlichung
der angeblich aufgefundenen Papiere gekommen
fei. Diefes Mal wird der Lefer .fogar mit zwei
derartigen F"abeln unterhalten. Aber keine von beiden
ift fo hübfeh erzählt und fo geiftvoll durchgeführt wie
jene, mit welcher K. fein .Entweder — Oder' einleitet.
Anftatt der feinen Ironie, welche jene durchzieht, drängt
fich hier nur das Beftreben des Verf.'s hervor, auf den
vermeintlich hohen Werth feiner Geiftesproducte im
voraus gebührend aufmerkfam zu machen. Auch die
Methode kehrt wieder, pfeudonyme Perfönlichkeiten
vorzuführen und im Ungewiffen zu laffen, in wie weit
in den Reflexionen derfelben die eigene Meinung des
Verf.'s wiedergegeben ift. Nur noch complicirter ift
die Anlage des vorliegenden Werkes nach diefer Rieh-