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Ausgabe:

1886 Nr. 21

Spalte:

491-495

Autor/Hrsg.:

Zahn, Adf.

Titel/Untertitel:

Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im 19. Jahrhundert 1886

Rezensent:

Bornemann, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 21.

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ten Apparat, deffen Vorführung und Behandlung Hym-
nologen von Fach vorausfetzt, und der mehr für Schüler
berechnet fcheinenden Erklärung, in der manches auseinander
gefetzt wird, was fich eigentlich für wiffen-
fchaftlich gebildete Lefer von felbft verftehen follte;
allein man wird über diefen Contraft hinweggehoben
durch die edle Begeifterung, ich möchte fie zugleich
liebende Zartheit nennen, mit welcher der Herr Verf.
in die Dichtungen fich verfenkt, und durch den mehr als
äfthetifchen Genufs, welchen er dadurch den Lehern
feines Buches verfchafft.

Wir nehmen es dem römifch-katholifchen Herrn
Verf. nicht allzu übel, dafs er die von Katholiken herrührenden
Ueberfetzungen der Sequenzen und Hymnen
den theilweife gelungeneren proteftantifcher Ueberfetzer
vorzieht und diefe kaum einer Bemerkung würdigt oder
fie ftillfchweigend übergeht. Bedenklicher ift uns die Befangenheit
, dafs er über Luther's: ,Mitten wir im Leben
find' nur recht Dürftiges zu fagen weifs, während er das
entfprechende Lied in Michael Vehe's G. B. in extenso
mittheilt. Diefelbe Befangenheit tritt uns in der Ueber-
fchätzung des religiöfen und poetifchcn Werthes jener
Sequenzen, befonders des Veni sancte Spiritus, entgegen,
eine Ueberfchätzung, in deren Ausdehnung über den
ganzen Hymnenfchatz der mittelalterlichen Kirche übrigens
manche proteftantifche Theologen dem Herrn Verf.
nichts nachgeben. Wir vermuthen jedoch, dafs diefe
Ueberfchätzung bei den proteftantifchen und den katho-
lifchen Hymnologen auf einem verfchiedenen Grunde
erwachfe; dort ift es ein romantifches Schwärmen für
mittelalterliche Poefie und Kirchlichkeit, hier eine Unterwürfigkeit
unter Roms Urtheil und Satzung, welche bedauerlicher
Weife felbft das fittliche Urtheil unfers
Herrn Verf.'s fo zu trüben vermag, dafs er auch die bekannten
Schamlofigkeiten und Verrücktheiten eines Jaco-
pone als wenn auch wunderliche, fo doch bewunderns-
werthe Tieffinnigkeiten uns erkennen zu lehren fich
bemüht. Diefe Unterwürfigkeit des Herrn Verf.'s findet
einen charakteriftifchen Ausdruck in dem Verfahren,
welches derfelbe in Betreff des Textes der Sequenzen
einfehlägt. Die in dem römifchen Miffale reeipirte Re-
cenfion des Textes wird einfach abgedruckt; in den
Fufsnoten werden die Varianten notirt; erft in der Erklärung
aber werden die befferen Lesarten zu Grunde
gelegt und die fchlechteren des römifchen Miffale als
folche gekennzeichnet. Diefe eigenthümliche Art findet
ihren Kommentar in der weitläufigen Vertheidigung
S. VI f. des Vorwortes über das wiffenfehaftlich doch
zu rechtfertigende Unternehmen, das dem Herrn Verf.
von manchen Seiten ernft verdacht werde, überhaupt
eine Kritik an dem durch das Miffale doch bereits kirchlich
feftgeftellten Texte vorzunehmen. Die Sorge jedoch, ob
es denn wirklich erlaubt fei, fcheint trotz feines Eintretens
für das Recht der Wiffenfchaft den Herrn Verf.
nicht verlaffen zu haben, und das Refultat der gegen-
fätzlichen Rückfichten ift jene Aengftlichkeit und Halbheit
des wiffenfehaftlichen Charakters, der bei aller Anerkennung
grofser Belefenheit und forgfältigfter Arbeit
dem Lefer ein tiefes Mifstrauen gegen Darftellung und
Urtheil des Herrn Verf.'s ftets von Neuem erzeugt. Wir
beklagen dies um fo mehr, als wir mit Freude und Dank
der mannigfachen Belehrung und des geiftigen Genuffes
gedenken, welche die Lefung des Buches uns verfchafft
hat.

Marburg. Achelis.

Zahn, Dr. Adf., Abriss einer Geschichte der evangelischen
Kirche auf dem europäischen Festlande im 19. Jahrhundert.

Stuttgart, Metzler's Verl., 1886. (VIII, 204 S. gr. 8.)
M. 3. -

Es ift felbftverftändlich, dafs man auf kaum 200
Seiten keine ausführliche Gefchichte der evangelifchen

Kirche im 19. Jahrhundert geben kann. Auch das vorliegende
Buch, welches nur den Proteftantismus des eu-
ropäifchen P"eftlandes berückfichtigt, ift, wiewohl es in
gedrängter Kürze einen reichhaltigen Stoff zu lebendiger
Darftellung bringt, weniger eine Gefchichte als eine
Heerfchau über die Kräfte, mit welchen die evangelifche
Kirche in den Kampf gegen Rom gegenwärtig eintreten
kann. Bei diefer Mufterung ift Z. hinfichtlich des aufser-
deutfehen Proteftantismus von den Paftoren Ludwig in
Fredericia, Appia in Paris, Dilloo in Soldin, Erdös
in Ujsove in Ungarn, Seeberg in Stuttgart unterftützt
worden. Befonders aufmerkfam zu machen ift aber auf
den Abfchnitt über üefterreich (p. 127—150), der eine
felbftändige Arbeit des Oberkirchenraths von Tardy in
Wien ift und, ftiliftifch den übrigen Abfchnitten ungleich,
an Gründlichkeit und Klarheit ihnen überlegen, fich auch
durch den ruhigen, fachlichen Ton und das Gleichmafs
der Arbeit deutlich abhebt. Freilich entbehrt er dasjenige
, was die Z.'fche Darfteilung intereffant macht: das
Prägnante des Ausdrucks, das Eigenartige der Wendungen
, die deutlich hervortretende Beurtheilung der
Perfönlichkciten und Verhältnifse, die tragifche Stimmung
und Beleuchtung.

Z. hat fich bemüht, die ,räthfelhaft packende, eigenartige
, unnachahmliche Schreibekunft' Karl von Hafc's
nachzuahmen, nicht ohne Gewandtheit, aber zuweilen
auch nicht ohne ftiliftifche Härte (f. pp. 16. 27. 35. 36.
144). Der eigentliche Reiz und das Charaktcriftifche
der Z.fchen Arbeit liegt aber nicht im Stil, auch nicht
im Stoff — diefer findet fich in andern Werken voll-
ftändiger, überfichtlicher und gleichmäfsiger verarbeitet,
■— fondern in dem Mafsftab der Beurtheilung und feiner
eigenthümlichen Anwendung. Diefer unwandelbare Mafsftab
ift für Z. der ,Confenfus evangelifcher Lehre', wie
ihn Calvin in feinem Tractat über die Acrgernifse auf-
geftellt hat. Die Anwendung diefer fachlichen Norm
ift freilich im Einzelnen eine fehr fubjective und vielfach
von herben oder geiftreich-pathetifchen Urteilen begleitet,
deren Gültigkeit theilweiie fehr zu beanftanden ift. Davon
nur einige Beifpiele!

Schleiermacher ift ,ein gewaltiger Mann, aber eine
geheimnifsvoll verfchleierte Truggeftalt'; feine Religion,
,an der jüdifchen Herzensflamme entzündet', war von
vornherein eine Täufchung, fpätcr wohl gar bewufste
und abfichtliche Täufchung, die nachfolgenden Gene-
i rationen unheimlich verwirrend. Stahl war ,ein bedeutender
Geift, aber kein echter Proteftant', Bunfen ein
vielfeitiger Dilettant, nach dem Urtheil bedeutender Gewährsmänner
liebenswürdig und verlogen; Tholuck ein
grofsartiger Ekletiker, eine liebebedürftige, für Schmeicheleien
empfängliche Natur, ohne fettes Bckenntnifs,
viele ,bis an den Weg des Heils geleitend', ein riefen-
haftes Talent ohne die rechte hohe, heilige Einfalt.
Hengftenbcrg heifst ,ein brauchbarer, nützlicher Theologe
und fleifsiger pietätsvoller Gelehrter', der fich manches
Unterdrückten angenommen, viele geftärkt und gefördert
hat und ,weit hinausfteht über die, die ihn wiffenfehaftlich
widerlegen wollten und oft nur an einzelnen
Schwächen ihn greifen konnten', aber er hat fich durch
feine Rechtfcrtigungslehre felbft geftürzt, — ein Beweis,
,wie wenig auch er zu einer reformatorifchen That berufen
war'. BeiVilmarwerden,feinegewaltthätigen, lügnerifchen
Angriffe gegen das gute Recht der reformierten Kirche
in Kurheffen' gegeifselt. Ströbel ift ,faft der einzige confe-
quente Lutheraner'. Richard Rothe's ,architektonifch
hochftrebenden, eifig kalten und eifig fpitzen Specula-
j tionen' find ,der reinfte Gegenfatz der paulinifchen und
I lutherifchen Wahrheit', ,ein Syftem voll riefiger geiftiger
1 Höhe, in dem fich noch einmal der menfehenverherr-
I hellende Geift des ganzen Jahrhunderts zufammenfafste'.
j Hafe ift ,mit Schleiermacher, Müller, Tholuck und Rothe
I nur ein Beweis, dafs es Gott unferm Jahrhundert nicht
1 gegeben hat, Luther's Glauben in wahrer Angft des Ge-