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Ausgabe:

1886 Nr. 21

Spalte:

485-488

Autor/Hrsg.:

Diehl, Charles

Titel/Untertitel:

Bibliothèque d‘art ancien. Ravenne. Études d‘Archéologie byzantine 1886

Rezensent:

Pohl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 21.

486

holt in der Darfteilung einer ihm cigenthümlichen fama-
ritanifchen Wirkfamkeit Jefu bis in die Einzelheiten hinein
gerade die Stoffe, welche der kanonifche Matthäus über
den kanonifchen Marcus hinaus hat, und wiederholt diele
Matthäusftoffe im Grofsen und Ganzen unverkennbar nur
in der Gedanken- und Sprachform des kanonifchen
Matthäus; es vermehrt diefe Stoffwelt des kanonifchen
Marcus und Matthäus nur mit verhältnifsmäfsig wenigem
Stoffe, der wohl gröfstcntheils aus der immer noch reichlich
fliefsenden Quelle der ungefchriebenen Ueberlieferung
flammte' (S. 152 f.).

Die Auffaffung Holften's ift, wie man fieht, mit der
,Benützungshypothefe', wie fie z. B. Hug, von Hofmann
und Kloftermann vertreten haben, nahe verwandt
. Die kanonifchen Evangelien find in der Reihenfolge
entftanden, wie fie im Kanon flehen; und ihre Ver-
wandtfehaft ift nicht aus der Benützung gemeinfamer
Quellen, fondern daraus zu erklären, dafs je der fpätere
Evangelift feinen Vorgänger oder feine Vorgänger unter
gewiflen Gefichtspunktcn umgearbeitet hat. Auf diefem
Wege allein glaubt der Verf. eine befriedigende Löfung
des fynoptifchen Räthfels finden zu können und gefunden
zu haben. ,So lange die Löfung diefes Räthfels in
Schriften gefucht wird, von denen wir keine Kenntnifs
haben, ift jeder begründeten und luftigen, finnvollen und
finnlofen Hypothefe die Thür geöffnet. Nur wenn die-
felbe auf Schriften gegründet werden darf, von denen
wir ein Wiffen haben, ift eine wiffenfehaftliche Löfung
denkbar' (S. 213).

Ich fürchte, dafs der Verfaffer für letzteren Satz, und
damit überhaupt für feine ,Löfung' des Problems wenig
Zuftimmung finden wird. Mir fcheint vielmehr, dafs die
Gefchichte der fynoptifchen Kritik gerade dies mit Evidenz
gelehrt hat, dafs das complicirte Verwandtfchafts-
verhältnifs der Synoptiker durch die ,Benützungshypo-
thefe' nicht erklärt werden kann; und zwar deshalb nicht,
weil jeder der drei Synoptiker im Verhältnifs zu jedem
der beiden andern ein Doppelgeficht zeigt: fowohl ur-
fprüngliche als fecundäre Züge aufweift. Diefer That-
beftand fcheint mir auch durch die fcharffinnige Unter-
fuchung Holften's nicht widerlegt. Wird derfelbe aber
anerkannt, dann giebt es nur eine ,wiffenfehaftliche Löfung
': die Annahme gemeinfamer Quellen, welche von
unferen kanonifchen Evangeliften in verfchiedener Weife
benützt worden find. Freilich mufs dann, da mit unbekannten
Gröfsen zu rechnen ift, auf eine Feftftellung
alles Details in der Art der Quellenbenützung verzichtet
werden.

Giefsen. E. Schürer.

Diehl. Charles, Bibliotheque d'art ancien. Ravenne. Etudes
d'Archeologie byzantine. Paris, Rouam, 1886. (80 S.
4. grav. 34.)

Ravenna nimmt in der altchriftlichen Kunftgefchichte
eine ganz befondere und hervorragende Stelle ein. Das
merkwürdige Gefchick diefer Stadt hat uns aus der Zeit
vom V. bis VII. Jahrh., wo in Rom und anderswo im
Abendlande die erhaltenen Denkmäler das Bild der chrift-
lichen Kunft nur zerftückelt und verwifcht wiedergeben,
eine Fülle von Schöpfungen auf allen Gebieten der bildenden
Kunft hinterlaffen, die uns für das Untergegangene
und Fehlende einen vollen Erfatz bieten. Zwar
hat hier, mehr noch wie an anderen Orten, im Laufe der
Jahrhunderte die Natur felbft ihr Antlitz gewandelt; das
Meifte von dem, was Menfchenhände gefchaffen, ift im
Sturm der Zeit verweht, Vieles zerfallen, und doch ift
die Zahl und Bedeutung der uns erhaltenen Denkmäler
diefer Stätte fo grofs, dafs wir die Zeit ihrer Entftehung
als eine der fruchtbarften und bedeutfamften Epochen
der altchriftlichen Kunftgefchichte bezeichnen müffen.
Diefe Schätze der frühchriftlichen Zeit, die grofsen Erinnerungen
einer ereignifsvollen Vergangenheit, welche
das einft blühende Ravenna, die Refidenz der Galla
Placidia, des letzten Kaifers des Weftrömerrciches, des
Theodorich, der Statthalter der byzantinifchen Kaifer
mit der Gefchichte des weit- und oftrömifchen Reiches
aufs engfte verknüpfen, haben Archäologen und Kunft-
forfcher, Gefchichtsfchreiber und Alterthumsfreunde dann
auch immer wieder nach der jetzt füllen und cinfamen
Provinzialftadt am adriatifchen Meere gezogen.

Die Hauptfchriftquellen für die Gefchichte Ravcnna's
und feiner Denkmäler bilden die Lebensläufe der ravenna-
tifchen Bifchöfc in dem Liber ßontificalis des Presbyters
Agnellus aus dem Anfang des IX. Jahrhs. (bei Mura-
tori, Renan italicarum Seriptores, Toni. II, S. 1 —187)
und des Hieronymus Rubeus (Roffi), Jtalicarum et Ra-
vennatiun historiarum libri XT (Venedig 1572, 1589, 1590
und 1603, zuletzt Leyden 1722 im Thesaurus anliquita-
tuni et historianan Italiae, Tom. VII, 1). — In neuerer
Zeit haben die architektonifchen Monumente Ravenna's
zuerft von Ferd. von Quaft eine auf hiftorifcher und
kritifchcr Grundlage bafirende Behandlung erfahren (Die
altchriftlichen Bauwerke von Ravenna, Berlin 1842), dann
von Hübfeh (Die altchriftlichen Kirchen, Karlsruhe 1852),
• Mothes (Die Baukunft des Mittelalters in Italien, 1882),
Adamy, Dehio und Bezold, Reber u. A. m. Eine be-
fonders werthvolle Studie über Ravenna hat auch R. Rahn
1868 in den Jahrbüchern für Kunftwiffenfchaft (hrsg. von
Zahn, Bd. I) geliefert. Die Mofaiken Ravenna's find von
Ciampini (Vetcra monumenta, Romac 1690), ausführlicher
von Garrucci {Storia dell arte cristiana, Prato 1881,
Tom. IV), hiftorifch und kritifch aber von J. P. Richter
(Die Mofaiken von Ravenna, Wien 1878) in einer fehr
forgfältigen Arbeit behandelt worden.

In dem vorliegenden Werke hat der Verf. fich nun
die Aufgabe geftellt, diefe vorangegangenen Studien zu
refumiren und deren Refultate im Zufammenhang vor die
j Augen zu führen. Mit der den Franzofen eigenthüm-
lichen Gcfchicklichkeit, wiffenfehaftliche Ergebnifse litera-
rifch zu verwerthen, hat er fie durchgeführt. Wenn er
fich auch im Wefentlichen an die Arbeiten feiner Vorgänger
hält, von denen er namentlich diejenigen Quast's,
i Rann's und Richter's ausgiebig benutzt, fo darf man ihm
I doch die Selbftftändigkeit nicht abfprechen, die in der
j forgfältigen Vergleichung fremder Anfchauungen der
Denkmäler mit feinen eigenen zu Tage tritt. — ,Ptudes
d'Archeologie byzantine' nennt der Verf. feine Arbeit,
weil er den Nachdruck auf den Einflufs und Ausdruck
der orientalifchen Kunftrichtung in den Monumenten
Ravenna's legt. ,Dans cette Pompei italo-byzantinc, plus
greque encore qu'italienne, lart chretien du V' et du VI'
siecle a laissc ses plus vivants et ses plus magnifiques
Souvenirs', fagt er S. 2 u. S. 1: ,Ici, micux qu'en Orient,
natu» qua Constantinople meme, on peut ctudier lart
byzantin du V' et du VI* siecle; ici, mieux qu'a Rome on
peut saisir sur le vif et comprendre l'inßuence si remar-
quable qu'exerca sur üItalic l'art chretien d'Oricnf.

Die Arbeit ift in vier Abfchnitte getheilt: I. Ravenne
ä l'epoque byzantine, S. 6—26, II. L'Architecture,
S. 27—39, III. Lcs Mosaiqucs, S. 40—68, IV. La Sculp-
ture, S. 69—79.

Im erften Capitel entrollt der Verf. ein anziehendes
Bild. Um Ravenna und feine Monumente verliehen zu
lernen, genügt es nicht, die Stätte zu befchreiben, wie
fie heute ift. Er baut das alte Ravenna vor uns auf.
Wie ganz verfchieden ift das Alles von dem Anblick
der heutigen Stadt! Wo das Vieh heut auf dürftiger
Weide geht, da ankerte' einft die kaiferliche Flotte im
prächtigen Hafen der ,Claffis', der mächtigen Vorftadt
j Ravennas, da glänzten an den Mafien der Schiffe die
Embleme aller Völkerfchaften des Mittelmeeres, da
ftrömte und fluthete unaufhörlich das nie ruhende Leben
der Grofsftadt. Wo heute endlofe Sümpfe fich ausbreiten
, da prangten einft Strafsen und Plätze mit ihren koft-