Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1886 Nr. 20

Spalte:

475-477

Autor/Hrsg.:

Sachsse, Eug.

Titel/Untertitel:

Die ewige Erlösung. Evangelische Predigten 1886

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

475

Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 20.

476

frei von allen theologifchen, homiletifchen, paftoralen
Sonderbarkeiten, fo durchaus wahr und evangelifch find
nicht viele Predigtfammlungen.

Schönbach. Rade.

Sachsse, Prof. Dir. d. theol. Sem. Dr. Eug., Die ewige
Erlösung. Evangelifche Predigten. Gütersloh, Bertelsmann
, 1885. (III, 148 S. gr. 8.) M. 2.20.

Die oft gehörte Klage, dafs die Predigten eigentlich
nur für die Frauenwelt Anziehungskraft hätten, wird
vor den Predigten Sachfse's verdummen. Vorzugsweife
fcheint eine männliche Zuhörerfchaft berückfich-
tigt; in den Induftrieftädten von Weftfalen und der
Rheinprovinz findet man zahlreiche Kreife von Männern,
die der Kirche wohlgefinnt, mit dem Paftor befreundet,
von allerlei Zweifeln und Einwürfen gegen die Wahrheit
des Evangeliums bewegt, diefe zum Gegenftande des
Gefpräches bei ihren Zufammenkünften machen und
gern darüber nicht allzu tief debattiren. Daher die
apologeti fche Haltung diefer Predigten des Herrn
Verfaffers, der offenbar mit den Geiftesftrömungen feiner
ehemaligen Gemeinde in Hamm genau vertraut ift.
Die Art des Herrn Verfaffers entfpricht den Bedürfnifsen
und Wünfchen feiner Gemeinde; verftändige Erörterung
herrfcht vor, ,die Wahrheiten der Religion' gilt es zu erkennen
; Klarheit und Ordnung der Gedanken wird nie
vermifst, und die grofse Energie der Sprache, mit welcher
der Herr Verfaffer den Leuten zu Leibe geht, fteigert
fich zu Vorwürfen über unfere ,Stumpffinnigkeit' (S. 10),
über ,eingetrocknete' Seelen (S. 87), über ,einen Köhlerglauben
, ärger als die Kalmücken ihn haben' (S. 21),
zu dem Ausruf: ,wer fich da noch befinnen kann, der
mufs allen Verftand verloren haben' (S. 131).

Die kraftvolle und eindringliche Art, mit welcher
der Herr Verf. gefchickt feine Sache führt, fchicfst allerdings
nicht feiten über das Ziel hinaus, fo dafs biblifch
unhaltbare Sätze (wie: dafs die Ewigkeit ohne das Wie-
derfehen der Unferigen uns kalt und öde fei, S. 34) und
Widerfprüche entftehen: ,unfere Schmach und unfer Leiden
[das wir um des Glaubens willen zu erdulden haben]
,ift oft fo grofs, dafs wir muthlos werden', klagt er S. 9,
ähnlich S. 17; doch S. 16 und 129 verfichert er, dafs
die Gewiffensfreiheit überall hochgefchätzt werde und
dafs von einem Märtyrerthum nicht die Rede fein könne;
nach S. 104 ift all unfer Leid nicht Strafe, fondern Heilmittel
, nach S. 124 bleibt unfer Vaterland durch Frömmigkeit
von göttlichen Gerichten verfchont, nach S. 137
hat Gott bisher fein Evangelium mächtig gefördert, nach
S. 138 hat es feit zwei Jahrhunderten Rom gegenüber
gar keine Fortfehritte gemacht. Diefelbe Energie, welche
fehr concrete Schäden bekämpft, wirft auch den Schatten
, dafs mehr die Sünden, als die Sünde angegriffen
werden, dafs die Vorurtheile gegen die Perfon des
Herrn, welche in der Gemeinde fich finden, als eitel
Unglaube und Gottlofigkeit charakterifirt werden (S. 49 ff.),
dafs die centrale Beziehung alles Glaubens, aller Lehre,
alles Lebens auf die Verföhnung der Welt mit Gott
durch Chriftum meiftens vereinzelten Betrachtungen, Belehrungen
, Ermahnungen weicht.

Der apologetifchen Tendenz mancher Predigten
mangelt es keineswegs an Erfolg, wenn es gilt, landläufige
Anftöfse und Einwendungen zu befeitigen; aber
das Zugeftändnifs, dafs die chriftliche Religion doch
recht fchwierig zu verftehen, dafs uns nur fo viel geoffenbart
fei, wie zu unferer Seligkeit abfolut nothwen-
dig fei, dafs unfer Weg, von dichter Finfternifs umhüllt,
nur für unfere Schritte durch die Offenbarung, wie durch
Laternen in düfterer Nacht, erhellt fei, fcheint doch zu
weit zu gehen. Ihren Höhepunkt erreicht die apolo-
getifche Tendenz in der Doppelpredigt 8 und 9, in der
die Wahrheit der Auferftehung Jefu gegen die Annahme

! des Jüngerbetrugs und gegen die Vifions-Hypothefe ver-
theidigt wird. Natürlich kann folche Apologie nicht
Glauben begründen und nicht Unglauben überwinden,
fie kann nur den vorhandenen Glauben' gegen Anfechtungen
beruhigen; aber diefe Aufgabe erfüllt auch jene
Doppelpredigt nach manchen Seiten hin mit grofsem
Gefchick. Allein Klarheit der Erkenntnifs wird doch
nur erreicht, wenn 1) die Unterfcheidung zwifchen dem
ewigen göttlichen Leben und der göttlichen Herrfchaft
des Erlöfers einerfeits und den finnenfälligen Erfchei-
nungen des Lebendigen vor feinen Jüngern andererfeits
klar durchgeführt und 2) der Beweis angetreten wird,
dafs die Glaubensgewifsheit über die göttliche Herrfchaft
Chrifti nur durch diefe Erfcheinungen und Offenbarungen
des Lebendigen ermöglicht wurde und ermöglicht
wird, dafs jene Glaubensgewifsheit ohne diefe da-
hinfällt; und diefer doppelten Forderung wird nicht
genügt. Auch manche Einzelgedanken werden ausge-
fprochen, die, von der apologetifchen Tendenz eingegeben
, recht anfechtbar erfcheinen; dahin rechnen wir
den Satz S. 50: ,Gcwifs hätte uns Gott auf mancherlei
Weife erretten können, er hätte Pingel fenden, Todte
auferwecken können; es hat ihm aber gefallen,
feinen Sohn zu fenden' u. f. w.; dahin S. 88 die Erklärung
des Sprech- toder Hör-?) Wunders des Pfingftfeftes,
die Apoftel hätten nur die hebräifche, griechifche und
lateiniiehe Sprache, die ja überall verftanden feien, be-
fonders geläufig geredet.

Das Vorwiegen des verftandesmäfsigen Denkens

I giebt auch der Form der Predigten einen eigenthüm-
lichen Charakter; die Dispofition der Gedanken ift

I überall fehr fcharf durchgeführt; nirgends finden fich
Wiederholungen, nirgends Abfchweifungen; die Gedankengruppen
innerhalb der Theile werden durch a b c
u. f. w. als folche von einander gefchieden und kenntlich
gemacht und ohne transitus an einander gereiht. Allein
jenfeits der logifchen Dispofitionsarbeit beginnt die künft-
lerifche F'ormirung der Propofition, und auf diefe
künftlerifche Arbeit verzichtet der Herr Verf. durchweg.
Worüber im Befonderen gehandelt wird, erfährt man
erft durch eigenes Nachdenken, nachdem man die Predigt
gelefen hat; der Herr Verf. nimmt das Vertrauen
der Hörer und Lcfer in Anfpruch, dafs fie fich ihm über-

j laffen, wohin er fie führen will; man wird ja freilich

j immer recht wohl geführt, allein man möchte doch gern

j zuvor wiffen, wohin die Reife gehen foll. Um den Text
ift der Herr Verf. oft recht wenig beforgt. Die n. Predigt
: ,Das Chriftenleben eine Bergfahrt' wird auf Micha
4,1 aufgebaut, in welchem Wort doch keinerlei Andeutung
liegt, das Chriftus und fein Reich einem Berge,

' unfer Chriftenleben einer Bergfahrt gleiche; in der 6.
Predigt wird der Text nur in der Einleitung benutzt,
und man fragt fich, ob es dann nicht beffer wäre, reli-

j giöfe Reden ohne Text zu halten. Befonders hervorzuheben
ift die 7. Predigt. Sie hat den Text Lc. 18,
31—43: Jefu Leiden' ift die Ueberfchrift, die Theile find
I) mit welchen Gefühlen Jefus feinen Leiden entgegenging
, 2; mit welchen Gefühlen wir ihn begleiten. Aus
dem Texte laffen fich die Gefühle Jefu feinen Leiden
gegenüber nun fchlechterdings nicht entnehmen; aber
gleichwohl werden als folche Gefühle namhaft gemacht:
der klare Blick Jefu, fein demüthiger Gehorfam, feine
freudige Hoffnung, fein unverdroffenes Wirken; aber
find das Gefühle? Statt der Gefühle wird in der Predigt
gefchildert, wie Jefus fich in feinen Leiden bewährt
habe; allein das gefchieht in unvollftändiger Weife;
Jefu Berufstreue im tieffiten Sinne des Wortes bis in den

I Tod kommt nicht zur Sprache, und der innere Kampf
Lc. 12, 49 ff. wird nicht erwähnt.

An Einzelheiten dürfte vielleicht zu beanftanden
fein: die exegetifche Auffaffung des Textes der 1. Pre-

1 digt (das Reich Gottes ift inwendig in euch); in der
zweiten Predigt der Zweifel des Johannes (des N. Tj