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Ausgabe:

1886 Nr. 20

Spalte:

473-475

Autor/Hrsg.:

Spitta, Friedr.

Titel/Untertitel:

Festpredigten 1886

Rezensent:

Rade, Martin

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Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 20.

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und Zeit zu ähnlichen Refultaten, wie die erfte in Betreff
der Kategorien. Raum und Zeit find zwar wirklich
lediglich in der Anfchauung exiftirende Einheiten, blofse
Vorftellungsformen, aber fie muffen als Formen der Vor-
ftellung .objectiv-realer Verhältnifse' angefehen werden
(S. 73). Kein Reales ift, objectiv genommen, ausgedehnt;
aber ebenfo gewifs ift es, ,dafs jede beharrliche Realität
in der Anfchauung als ein Ausgedehntes vorgeftellt
werden mufs und dafs demnach auch die Atome ....
nicht anders als im Raum befindlich und folglich ausgedehnt
vorgeftellt werden können' (S. 78). Die Welt
ift daher nicht unendlich, denn dafs fie es in unferer
Vorftellung ift, entfcheidet nicht darüber, was fie an fich
fei. Zeitlich aber ift die Welt ohne Anfang und Ende.
Dem Kantifchen Einwand, dafs, fobald wir die Welt
ohne zeitlichen Anfang fetzen, in jedem Augenblick eine
unendliche Reihe abgelaufen fei, begegnet der Verfaffer
mit der etwas myfteriöfen Lehre, dafs der Weltprocefs
ein fich abgefchloffener, in fich zurücklaufender fei, wodurch
wieder der Anfchlufs an Spinoza hergeftellt wird.

Der dritte, die Atomiftik behandelnde Auffatz ftellt
lieh eine doppelte Aufgabe: indem einerfeits betont wird, [
dafs der Atomismus in den Rahmen einer wahrhaft philo-
fophifchen Weltanfchauung eingefügt werden müffe, wendet
fich der Verf. andererfeits energifch gegen den Materialismus
, d. h. gegen den Verfuch, durch das Atom
und die zwifchen denfelben wirkenden Kräfte auch die
philofophifchen Probleme löfen zu wollen. Die gegen
den Materialismus in's Feld geführten Argumente find
im wefentlichen die, welche du Bois-Reymond in feinem
Vortrag: ,Ueber die Grenzen des Naturerkennens' auffuhrt
: Die Unbegreiflichkeit des Atoms feinem Wefen
an fich nach, die Unbegreiflichkeit des Bewufstfeins aus j
mechanifchen Principien und endlich die Unbegreiflichkeit
jedes erdenkbaren, vermeintlichen Urzuftandes der Welt.
Der Verf. bringt diefe Inftanzen gegen die materialiftifche
Weltauffaffung mit feiner in den früheren beiden Abhandlungen
aufgeftellten Lehre recht gefchickt in Zu-
lammenhang und mir fcheint, dafs diefe Erörterungen
die werthvollften des ganzen Buches find.

Ueber das Thema der vierten Abhandlung giebt die
Ueberfchrift vollftändigen Auffchlufs. Es werden da im
Handumdrehen neun Kategorien mit fchneidiger Selbft-
zufriedenheit todtgefchlagen.

Giefsen. F. A. Müller.

Spitta, Friedr., Festpredigten. Bonn, Habicht, 1886.
(VIII, 151 S. gr. 8.) M. 2.—; geb. M. 3. —

Zum Beften feiner Eilialgemeinde Beuel hat
Friedrich Spitta, Pfarrer zu Obercaffel, Docent an
der Univerfität Bonn, eine Sammlung von fünfzehn ,Feft-
predigten' herausgegeben. Der Titel ift mifsverftändlich.
Mit Ausnahme einer Miffionspredigt find es nicht Feft-
predigten im Sinne aufserordentlicher Leiftung bei den
aufserordentlichen Feilen, die hin und her unter grofsem
Zulauf von Nah und Fern gefeiert werden und bei denen
dann auch ein ,Feftprediger' auftritt, fondern es find
Predigten, gehalten an unfern mit dem Kirchenjahr immer
wiederkehrenden Fefttagen, die der Pfarrer mit feiner
Gemeinde feiert im eigenen Kirchlein: Adv., Weihn. (2),
Neuj., Paffion und Kaifers Geburtstag, Confirm., Karfr.,
Oft., Bufst., Himmelf., Pfingften, Erntef., Ref., Todtenf.
Dennoch hat die Sammlung auf den gewählten Titel ein
befonderes, inneres Recht. Es geht ein feftlicher Ton,
ein Zug froher Begeifterung durch alle die Predigten.
Es herrfcht darin jene fiegreiche Freudigkeit, welche die
Zagenden mit fortreifst und uns Muth macht, ,durch
Sorgen und Schmerzen uns hindurchzuringen zu trotzigem
Glauben an den Sieg des göttlichen Geiftes in
der Welt (S. 113)". Selbft die Bufse ift diefem Prediger
,ein frühlingsfrohes, öfterliches Thun (S. 86)'. Diefes echt
Luther'fche Zeugnifs der Freude an Gottes Evangelium

ift nun aufs glücklichfte verbunden mit einer uner-
fchrockenen Anerkennung der Wirklichkeit des modernen
Lebens und des modernen Menfchen. Der Prediger
nimmt ihn wie er ift und ftellt fich auf den gleichen
Standort der Bildung; aber fo als Seinesgleichen fagt er's
ihm defto freimüthiger ins Angefleht, dafs das alte Evangelium
das einzige Heil ift auch für ihn und für feine
ganze vielgerühmte moderne Welt. Das ift das Erquickende
an diefen Predigten: nichts als religiofe
Auslagen, nichts als religiöfe Begründungen — und fo
gerade von den Gebildeten unferer Zeit Verftändnifs und
Annahme fordernd. Kein Satz, dem man feine Herkunft
aus einer alten oder neuen Dogmatik nachweifen
könnte. Vielmehr ausdrücklich abgelehnt wird am Karfreitag
eine Auseinanderfetzung mit den ,Schriftgelehrten
der Kirche': ,Ich werde auch nicht wiederholen, was die
kirchliche Wiffenfchaft in ernftem Nachdenken über Jefu
Tod gefagt hat. Und wäre felbft bei den Theologen
kein Streit entbrannt unter dem Kreuze Jefu, keine leiden-
fchaftliche Rede wie bei denen, die vor den Augen des
Leidenden um feine Kleider feilfehen und würfeln —
heute mufs ich dem Herrn felbft ins Antlitz fehen'
(S. 66, vgl. 71). Ausgezeichnet ift vor allem die Ofter-
predigt wie durch den Verzicht auf alle apologetifchen
Fündlein und Verficherungen, fo durch die Macht und
Einficht der religiöfen Polition, befonders intereffant die
Himmelfahrtspredigt durch die kurze und treffende Auseinanderfetzung
mit den Anftöfsen, welche in die Predigt
diefes Tages theils von den Theologen, theils von den
Laien hineingetragen werden: ,Ich würde darüber fchwei-
gen und die, welche draufsen find, plaudern laffen nach
Herzensluft, wenn man nur unter fich einig wäre darüber,
dafs das Mafs der Chriftenfreude an diefem Tage nicht
bedingt ift durch die gefchichtliche Klarheit eines
äufseren Ereignifses, fondern auf einem Glaubensgrunde
ruht, der nicht wechfelt mit den verfchiedenen Auf-
faffungen der Himmelfahrt Chrifti' .... (S. 97; vgl. 107
über die Pfingftthatfache). —- Ich flehe nicht an, diele
Art Verkündigung als muftergültig anzuerkennen gegenüber
unfern Gebildeten. Und auch die minder Gebildeten
werden dadurch erbaut werden, wenn gleich mancher
feine und geiftreiche Gedanke, den Sp. anfehlägt (z. B.
S. 81), ihnen fchwerer eingehen mag. Sie würde ihnen
für's Erfte unbehaglich fein, denk' ich mir, aber ebenfo
heilfam; fie würden die vielfach abgebrauchten und allzu
gewohnten F'ormeln der Verkündigung vermiffen, aber
um fo mehr aufgerüttelt und durch das frifch und
lebendig aus dem Glauben hervorgehende Zeugnifs ergriffen
werden. — Spitta's Sprache ift im Ganzen klar
und wohlverftändlich, edel und bedeutend, oft voll Klang
und Poefie (ans Ueberfchwängliche ftreift die zweite
Weihnachtspredigt; ein zu realiftifch durchgeführtes Bild
S. 61). Die homiletifche Kunftform vernachläffigt er in
der Regel völlig; eine förmliche Dispofition beliebt er
nur bei der Miffionspredigt (m. E. das mindeft gelungene
Stück der Sammlung). Diefe Freiheit fchadet darum
weniger, weil der Prediger fich durchweg einer löblichen
Kurze befleifsigt (die Predigt durchfehnittlich zu neun
Seiten bei befcheidenem Format; und der Gedankengang
für den urtheilsfähigen Hörer auch fo deutlich
genug herausfpringt. Hier zu Lande würde die Gemeinde
freilich eine grobe Pflichtverfäumnifs dahinter vermuthen,
wenn fie keine ,Theile' zu hören bekäme, und die Alten,
die fich feit vierzig, fünfzig Jahren jede Dispofition aufzeichnen
, würden in gelinde Verzweiflung gerathen. Ich
geftehe übrigens, dafs ich den Mangel einer Dispofition
erft wahrgenommen habe, nachdem ich fchon einige
diefer Predigten gelefen hatte: der belle Beweis dafür,
wie wenig man fie vermifst. — Summa: diefes Bändchen
Predigten ift eine fehr dankenswerthe Gabe, recht geeignet,
Gebildeten, die noch empfänglich find für religiöfe Rede,
zum Chriftenthum Luft zu machen, und wenn fie matt
werden wollen, fie zu neuer Freudigkeit zu ftärken; fo