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Ausgabe:

1886 Nr. 18

Spalte:

425-426

Autor/Hrsg.:

Harms, Friedr.

Titel/Untertitel:

Logik 1886

Rezensent:

Müller, Ferd. Aug.

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 18.

426

Philofophen. Es werden unterfchieden: die Gewifsheit
der Wahrnehmung, des Denkens und der Erinnerung
(diefe letzere identificirt der Verf. übrigens in ganz unzu-
läffiger Weife mit Kant's Einheit des Selbftbewufstfeins).
Jede diefer Gewifsheitsarten kommt nun nach Grung
durch das Zufammenwirken aller drei fogenannten
,Seelenvermö'gen' zu Stande; des Gefühls, des Verftands
und des Willens. Die Gewifsheit der Wahrnehmung
tntfteht durch das Gefühl des Kraftaufwands, die Reflexion
über die Gültigkeit und die Aufmerkfamkeit; die Gewifsheit
des Denkens durch das Gefühl der Uebereinflimmung,
die Reflexion über die Uebereinflimmung und die Bevor- j
zugung refp. Unterdrückung der Vorflellungen; die j
Gewifsheit der Erinnerung durch ein den Nachempfindungen
entfprechendes Gefühl, die Reflexion der Ver- 1
bindung und endlich das Intereffe.

Es liefse fleh gegen diefe Schematifirung des Er-
kenntnifsproceffes wohl mancherlei einwenden, indeflen
mufs anerkannt werden, dafs der Verf. durch Betonen
des Antheils, welcher dem Willen beim Zuftandekommen j
der Gewifsheit gebührt, auf eine intereffante Seite diefes ]
Vorgangs hingewiefen hat. Abgefehen von den exaeten 1
Wiffenfchaften, welche Grung ausdrücklich abtrennt, wird
in der That bei aller Forfchung das Intereffe und damit
der Wille Einflufs auf das Refultat haben. Diefes Intereffe [
aber foll nicht ausgetilgt werden, da es durchaus nicht .
etwa blofs fchädlich wirkt, fondern durch Erweckung
von Zweifeln den Verftand zu tieferem Nachdenken an- j
flachelt. Der Wille mufs vielmehr gereinigt, das perfön- j
liehe Intereffe in ein allgemein menfehliches übergeführt
werden, und es kommt fo auf fcheinbar ganz fremdem
Wege der Verf. zu demjenigen Ergebnifs, welchem die I
Kantifche Ethik fo erhabenen und wiffenfchaftlich exaeten
Ausdruck gegeben hat.

Unzweifelhaft wird der Verf. bei weiterer Vertiefung
in den feelifchen Mechanismus des Erkennens noch
manches werthvolle Refultat zu Tage fördern. Nur ift
es ein Irrthum, wenn unfer Autor glaubt, dafs derartige
pfychologifche Unterfuchungen die einzige Aufgabe der
Philofophie fei. Wenigftens fcheint er diefe Anficht zu
haben, da er auf Seite 52 behauptet: ,Am nächflen fleht
die Philofophie der Dichtkunft; denn fie fordert nicht
nur die Fähigkeit des Denkens, fondern auch die der
Phantafie .... Sowohl für den Philofophen als für den
Dichter gilt dasfelbe Grundgefetz: nur was er felbft erlebt
hat, vermag er mit der Innerlichkeit der Gewifsheit dar-
zuflellen'. Von diefer ,Innerlichkeit der Gewifsheit' aber,
denke ich, haben wir in den letzten hundert Jahren genug
bekommen, fodafs wir fie fürderhin gern den Poeten 1
allein überlaffen, und wenn Grung zur Unterftützung
feiner Thefe anführt, dafs bei den Franzofen die Philofophie
zu den belies lettres gezählt wurde, fo beruft er
fleh auf ein Volk, das für die wahren Probleme der
Philofophie keinen Sinn hat.

Giefsen. F. A. Müller.

Harms, weil. Prof. Dr. Friedr., Logik. Aus dem hand-
fchriftlichen Nachlaffe des Verf. hrsg. von Pfr. Dr.
Heinr. Wiefe. Leipzig, Th. Grieben, 1886. (XII, 308 S.
gr. 8.) M. 6.—

In der von Laffon herausgegebenen Gefchichte der
Logik hat Harms mit grofser Präcifion die Aufgabe der
Logik angegeben, indem er ihre Beziehung zu den
fpeciellen Wiffenfchaften folgendermafsen formulirte:
,Zwifchen den Wiffenfchaften und ihrer Logik geht durch
die Gefchichte hindurch eine Wechfelbeziehung. Die
Logik entfleht aus der Unterfuchung des Denkens, welches
Erkenntnifse und Wiffenfchaften hervorbringt, und ift
daher in ihrer Ausbildung von der Kunft des Denkens,
von der Thatfache der Erkenntnifs, der Exiftenz der

Wiffenfchaften, aus deren Unterfuchung fie entfleht, abhängig
, während zugleich umgekehrt auf die reale Wiffen-
fchaftsbildung die Theorie des Denkens, wie es ein Mittel
ift zur Erwerbung von Erkenntniffen und zur Ausbildung
der Wiffenfchaften, einen fördernden oder hemmenden
Einflufs ausübt. Der Fortfehritt der Wiffenfchaften ift
ein Anlafs zur Umgeflaltung der Logik und die richtige
Methodenlehre der Logik für alle Wiffenfchaften ein noth-
wendiges Bedürfnifs'. (S. 4). Diefen Standpunkt vertritt
der Verf. auch in dem erften Theil des vorliegenden
Syftems der Logik, welcher von dem Begriff der Logik
handelt. Es giebt zwei Arten von Wiffenfchaft, die Er-
fahrungswiffenfehaften und die Philofophie. Die Ver-
fchiedenheit liegt in Form und Methode des Erkennens.
Die Erfahrungswiffenfchaften fordern zu ihrer Ergänzung
eine allgemeine Wiffenfchaft von den Vorausfetzungen,
welche die Erfahrungswiffenfchaften machen. Diefe allgemeine
Wiffenfchaft von den Grundbegriffen der Erkenntnifs
ift nach Harms die Philofophie. Sie hat daher ein
Intereffe daran, dafs die empirifchen Wiffenfchaften fleh
immermehr ausbilden, denn mit jeder neuen Disciplin,
die fleh dort bildet, entfteht für die Philofophie ein neuer
Grundbegriff, den fie zu erklären hat. ,Das Wachfen
der Erfahrungswiffenfchaften ift auch eine Entwicklung
der Philofophie'. (S. 18). Aber andererfeits liegt die Fortentwicklung
der Philofophie im Intereffe der empirifchen
Wiffenfchaften; fie tappen im Dunkeln ohne das Licht,
welches ihnen die Philofophie anzündet.

Soweit folge ich gern dem Verf. Aber indem er
nun daran geht, die fpecielle Aufgabe der Logik zu entwickeln
, zeigt es fich, wie wenig es ihm Ernft war mit
dem aufgtflellten allgemeinen Programm. Die unglück-
felige Metaphyfik, eine leibhafte rationelle Ontologie foll
den Schlüffel geben zu den Formen des Denkens, deren
Ermittlung die Aufgabe der Logik ift. ,Die Logik kann
alfo ihr Problem nicht ohne die Metaphyfik löfen, wenn
fie die Formen des Denkens in Beziehung auf das Sein,
welches darin gedacht wird, zu unterfuchen hat.' ,Der
Verfuch ift unerläfslich, Logik und Metaphyfik mit einander
zu verbinden, wenn der Begriff der Wiffenfchaft
und der Begriff der Wahrheit erklärt werden foll.'

Dabei foll nicht geleugnet werden, dafs die Harms'fche
Logik im Einzelnen manchen werthvollen Beitrag bringt.
So wird die Definition des Unheils als Verbindung von
Begriff und Wahrnehmung manchem vielleicht recht wohl
behagen. Diefer Definition entfprechend theilt der Verf.
die Urtheile ein in ungewiffe und gewiffe. Zu den unge-
wiffen (problematifchen) rechnet er das hypothetifche
und disjunetive Urtheil, zu den gewiffen das affertorifche,
kategorifche und apodiktifche Urtheil. Die übrigen
Formen treten bei der Entfcheidung des Unheils auf:
die Entfcheidung kann fein pofitiv oder negativ, allgemein
oder particular. Das einzelne und limitirende Urtheil
verwirft Harms. Dem Schlufs kommt neben Begriff
und Urtheil keine Selbftftändigkeit zu; er ift nicht ein
Gedanke, fondern eine Verbindung von mindeftens zwei
Gedanken als Grund und Folge. Doch mufs ich, wem
diefe kurz fkizzirte Lehre zufagt, auf das Werk felbft
verweifen.

Giefsen. F. A. Müller.

Romundt, Dr. Heinr., Ein neuer Paulus. Immanuel Kants
Grundlegung zu einer ficheren Lehre von der Religion,
dargeftellt. Berlin, Nicolai's Verl., 1886. (IX, 309 S.
gr. 8.) M. S.Auf
die populären Darftellungen von Kant's Vernunftkritik
und Ethik läfst der Verf. unter obigem, etwas
fenfationell gefärbtem Titel eine Reconftruction von
Kant's Religionsphilofophie folgen. Die Aufgabe, welche
fich das Buch geftellt hat, ift durchaus keine leichte. Wer