Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1886

Spalte:

404-405

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf

Titel/Untertitel:

Miscelle. Der falsche Theophilus und Claudianus Mamertus 1886

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

403

404

völlig original. Wenn ferner der Verf. gerade dem
Johannesevangelium nachrühmt, dafs ,nirgends der Heiland
fo überrafchend treu nach feinen menfchlichen
Zügen' gezeichnet fei, als in diefem, und von der tagebuchähnlichen
Sorgfalt der johanneifchen Zeichnung bis
ins Einzelne fpricht, fo ift dies das andere Extrem zu
der allerdings nicht minder einfeitigen Anfchauung von
dem angeblich rein idealen Charakter der johanneifchen
Darftcllung. Um noch auf Einzelnes einzugehen, fo gedenken
wir zunächft der Auslegung des Gefpräches Chrifti
mit Nikodemus; fo viel Treffendes diefelbe enthält, fo
ift doch die Geftalt diefer fchüchterncn, aber aufrichtig
nach dem Heil verlangenden, fuchenden Seele entfchieden
verzeichnet und künftlich ausgedeutet, wenn derfelbe als
der Repräfentant des Fleifches in feiner höchften Verfeinerung
, in religiöfem Schmucke aufgefafst wird, als
ein Mann, dem zunächft Alles, was Jefus gebracht habe,
nur .intereffant', nur ,eine Nahrung für fein Steckenpferd'
gewefen fei; ebenfo gefucht erfcheint es, die Maria
Magdalena, deren Verhalten gegenüber Jefu im Haufe
des Pharifäers fehr eigenthümlich combinirt wird, als
einen ,Schöngeift' aufzufaffen, oder den ,Uonnersfohn'
fo zu deuten, dafs diefer Ausdruck ein ,ehrfurchtsvolles
Offenfein für das Erhabene, Ucberirdifche' bezeichne,
weil der Donner die hehre Stimme fei, die unfichtbaren
Urfprungs hoch über der Erde hinrolle und allen Erdbewohnern
Ehrfurcht gebiete und erwecke. Ingeniös,
aber höchft gezwungen und offenbar gegen den Context
ift die Combination von Joh. 4, 3 mit Matth. 4, 12—16,
wonach Jefus in diefem Moment nicht feine Heimath
verlaffen, fondern feine Heimath aufgefucht habe, um
eine Zeit lang verborgen zu fein und nichts zu gelten;
als diefe Heimat fei Galiläa zu verliehen, wo er aufge-
wachfen fei. Sehr feltfam ift die Verbindung, in die das
,Dämonium' des Sokrates mit den ,Dämonen' gebracht
wird, nicht minder paradox, wenn auch geiftreich gedacht
und durchgeführt die Deutung von Luc. 11, 5—8,
wonach unter dem Freund, der des Nachts bittet, Jefus
felbft zu verftehen fei, der im Namen der Menfchheit
mit kühnen, bisher unerhörten Bitten den Vater andringt.
Nicht ganz ohne Eintragung ift auch die Deutung, die
das Wort: er ,ergrimmte' in der Gefchichte der Auf-
erweckung des Lazarus erfährt. Nach dem Verf. foll
Jefus empört gewefen fein durch die ,Weinenswuth', die
lieh der ganzen Verfammlung, auch der Maria, bemächtigt
habe, durch die Luit der Menfchen, in ihren Wunden zu
wühlen, die er dort wahrgenommen, diefe fülle Verherrlichung
der Allmacht des Todes, die ihre Spitze murrend
gegen Gott wende. Dies bedeute das: er ergrimmte.
Aber wenn auch die allgemeine Weheklage über den
Tod in diefer Gefchichte als ein Triumph des Todes in
Jefus einen heiligen Unwillen erregt hat, fo liegt doch
in dem ,ergrimmte', in diefem Act tieffter Erregung,
offenbar nach dem ganzen Zufammenhang eine Mifchung
vonBeidem, von heiligem Zorn und von tiefftem Schmerz,
eine Mifchung, die in jener Deutung nicht zu ihrem
Rechte kommt. Sehr gelücht erfcheint in derfelben Gefchichte
die Vermuthung, dafs Jefus durch feinen Ruf:
Lazare, komm heraus! auf die Seele des Lazarus eine
moralifchc Kraftwirkung habe üben wollen. Für die
eigentümliche Annahme, die der Verf. bei der Darftellung
der Verklärung Jefu ausfpricht, dafs er durch diefelbe
der Notwendigkeit, zu fterben, die durch Adam's Fall
über Alle gekommen fei, enthoben worden fei, ift durchaus
kein Anhalt in der Gefchichte gegeben, abgefehen
davon, dafs der Nexus, in welchen die Menfchen mit
Adam's Fall gekommen find, an fich für Jcfum nicht gilt.
Die merkwürdige, anerkennende Deutung der Jüngerfrage:
wer unter ihnen der gröfsefte fei, ftimmt jedenfalls nicht
mit der Zurechtweisung der Jünger durch Chriftum. Dafs
Jefus im Gleichnifs vom grofsen Abendmahl der vornehmen
Tifchgefellfchaft mit ihrem eiteln Gaumenkitzel
nach intereffanter Unterhaltung und Selbftbewunderung

ihrer Gciftreichigkeit habe vorhalten wollen, wie es ihr
am rechten geistlichen Hunger fehle, ift offenbar künftlich
eingetragen.

Trotz des Widerfpruchs aber, zu dem das Buch an
den gedachten und anderen ähnlichen Stellen unwillkürlich
herausfordert, verdient es im Ganzen doch als ein Pro-
1 duet tiefer, finnvoller Verfenkung in den grofsen Gegen-
ftand ohne Zweifel eine gröfsere Beachtung, als es bisher
gefunden zu haben fcheint; auch in feinen Faradoxien
und in der fchroffen Einfeitigkeit feiner realiftifchen Darfteilung
ift es geeignet, auf das Verftändnifs des Lebens
Jefu und der evangelifchen Gefchichte anregend zu wirken.

Dresden. Meier.
M i s c e 11 e.

Der falsche Theophilus und Claudianus Mamertus.

In meiner Abhandlung über den angeblichen Com-
mentar des Theophilus zu den Evangelien habe ich
nachgewiefen, dafs die Abfaffungszeit höchft wahrfchein-
lich zwifchen c. 470 u. c. 530 anzufetzen (f. Texte und
Unterf. I, 4 S. 170 ff), und dafs der Verf. in Südgallien
zu fuchen ift. ,Die Nachforfchungen nach dem Namen
des Verfaffers' — fchrieb ich S. 175 —, haben mich bisher
zu einem Ergebnifse nicht geführt'. Ich vermag auch
jetzt noch kein Ergebnifs mitzutheilen, wohl aber auf
eine Spur aufmerkfam zu machen, die der Ueberlegung
werth ift. Der der Excerptenfammlung vorangeftellte
Prolog des ,Theophilus' zeigt in Anleitung des Stils, des
Wortvorraths und der Abhängigkeit von Vergil frappante
Parallelen zu den Werken des Claudianus Mamertus, Presbyters
zu Vienne, deffen Tod um d. J. 475 angefetzt
wird. Ich laffe den Prolog des .Theophilus' hier folgen
und ftelle die Parallelen dazu:

,Apis favos de omnigenis floribus operatur eos-
que melle lapso caelitus reglet et in f raglantibus
ceris fetus edit ore secundo, haut aliier ego famulus
dei hortantibus vobis in evangelii inlerprctatione tracta-
itöribus dcfloratis opusculum spiritale composui quod
ecclesiasticum gignat examen, invidorum amaret
conloquia velut gryneas taxos effugiens, neclar quoque
est in eo divina adspirationc dulcissimum. hoc si quis
audebit reprehendere spicula sendet propriis operata
ovulncribus quia obtrectans propositi sui potest affectum
prodere, non tarnen Studium devotionis auferre'.

Claudianus Mamertus benutzt den Vergil und ahmt
ihn nach, fo

p. 108, 6 der Wiener Ausgabe die Stelle Georg. 4, 83

über Bienen (!),
p. 109, 1 Aeneis IV, 402 ff. über Ameifen, p. 107, 25

Aeneis XI, p. 381,
p. 184, 15 Aeneis VI, p. 130.

Zu vergleichen ift vor allem der Brief des Claudian
an Sapaudus p. 205, 8 sq.: ,quod in Hyblae iugis Votums
atque opifex apicula caelitus deciduum haustu capicns
fabrefactis manso florigeris infundit filiorumque fabri-
catrix virginitatis suae feturam alit atque imbuit uberc
favorum, ita tu scilicet e summis auetoribus velut e
magnis montibus doctiora quaeque velut thyma fraglau tia
veluti quaedam florida praecerpens quos ingenii melle
repleas eloquentiae conficis favos, e quibus item disci-
pulorum tibimet velut filtorum numerositas dilecta
formatur, quae Graecarum quoque dtsciplinarum nectare
imbuta aesi melle Attico pasta . . . eloquentiae favos et
ipsa conßcief.

Z. 1. omnigenis] Claudian p. 47, 4: ,omnigenum corpus',

p. 184, 7: ,omnigenum natura vitarum'.
Z. 2. fraglantibus] Claudian p. 46, 17; 68, II; 76, 17 —
an dielen drei Stellen ficht das Subft. fraglantia'; das
Verbum findet fielt />. 43, 23; 76, 21 dazu f. oben
205, 13.

Z. 4. tractatonbus] Claudian p. 25, 17; 41, 9; 134, 8;
135. 7i l96> 6i 30, 8; 138, 4.