Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1886 Nr. 1

Spalte:

20-21

Autor/Hrsg.:

Wasserschleben, F.V. v.

Titel/Untertitel:

Anti Nordau. Eine Kritik des Buches 1886

Rezensent:

Hartung, Bruno

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

«9

Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 1.

20

herigen Verhältnifses zwifchen Erkenntnifslehre und Er-
kenntnifsleiftung durch das aufgehellte Princip und die
davon bedingte Methode fchon zum Voraus mitgedeckt
fei, erfcheint zweifelhaft. Ift doch das, was der Verf. in
diefen Prolegomenen bietet, in der Hauptfache felbft erft
eine umfaffende erkenntnifs-theoretifche Vorunterfuchung
zum Zwecke der Abgrenzung feiner neuen Aufgabe.

Giefsen. H. Siebeck.

Koch, Dir. Dr.J. L. A., Grundriss der Philosophie. 2., erweit,
u. durchgefeh. Aufl. Göppingen, Herwig, 1885. (VIII,
243 S. gr. 8.) M. 5. —

Diefer Grundrifs ift durchaus etwas anderes, als man
fleh unter einem folchen Titel vorftellen könnte, nämlich
nichts weniger, als etwa ein Hülfsmittel beim Lernen
oder Repetiren für Anfänger, fondern, unter Weglaffung
aller Einzelnheiten und des meiflen zum pofitiven Wiffen
Gehörigen, ein Gefammtüberblick über das Ganze der
Philofophie, welcher in grofsen Zügen auch durch die
Einzelwiffenfchaften hindurchführt. Zwar erfährt man
von letzteren meift nicht einmal genügend, womit fie
es zu thun haben, und doch folgt man dem Verf. mit
Intereffe von der erflen Seite bis zur letzten und fcheidet,
nicht ohne die mannigfachften Anregungen im Ganzen
und im Einzelnen empfangen zu haben.

Derfelbe ift nicht Philofoph von Fach, fondern Irrenarzt
und hat fleh auch in feinen Publicationen bis vor
kurzer Zeit auf fein fachmännifches Gebiet befchränkt.
Daher erklärt fleh die feine pfychologifche Beobachtungsgabe
, welche auch die Thatfachen der Phyfiologie in
gefchickter Weife verwerthet, ohne diefer Wiffenfchaft
den Primat zuzugeftehen, wie es jetzt in diefen Kreifen
oft Sitte ift. Daher darf er fleh aber auch nicht wundern
, dafs die erfte Auflage feiner Schrift von den Philo-
fophen viel Anfechtung erfahren hat. Denn er fleht
nicht in der Philofophie, fondern über derfelben mit
feinem wiffenfehaftlichen, fittlichen und religiöfen Urtheil.
Den Hauptgedanken, welchem er Ausdruck geben will,
hätte er beffer in einer Schrift über die Grenzen der
Philofophie, als in einem Grundrifs der Philofophie
ausgefprochen.

Unfer Erkennen, fo führt er aus, und foweit er dies
thut, läfst er es nicht an der eingehendften Beweisführung
, die Ref. durchweg als richtig anerkennt, fehlen,
fordert einen dreifachen Glauben, an die Welt aufser
uns, an die Welt in uns, an die Welt über uns, denn
von keiner diefer drei Welten, darin hat auf der einen
Seite Kant, auf der anderen Seite der Materialismus
Recht, läfst fleh die Wirklichkeit durch förmlichen Beweis
feftftellen. Nicht nur an das Dafein Gottes, auch
an das Dafein der Seele, ja an das Dafein der Aufsendinge
, deren Vorftellung wir in uns tragen, mufs man
glauben. Nun leuchtet die Ungeheuerlichkeit einer Welt-
anfleht ein, welche nichts aufser dem Menfchen als wirklich
annehmen, welche an der Realität des inneren Lebens
felbft zweifeln wollte. — Nach dem Mafsftab ftrengfter
Wiffenfchaft aber ftellt diefes Alles keine geringere Anforderung
an unfer Denken, als den Glauben an Gott.
Die Theologie ift fomit im Kreife der philofophifchen
Disciplinen wohl berechtigt.

Die Eintheilung der Einzelwiffenfchaften in Mathematik
, Phyfik, Biotik, Theologie will der Verfaffer felbft
nicht unbedingt aufrecht erhalten. In der That ift in
der Biotik, als der Wiffenfchaft vom Lebenden, zu viel
zufammengepackt, wenn fie von der Botanik bis zur
Ethik einfchliefslich der formalen Logik und der Aefthetik
Alles umfaffen foll, was von lebenden Wefen in wiffen-
fchaftlicher Weife ausgefagt werden kann, und die Grenze
zwifchen dem organifchen Leben der Natur und dem
Leben des perfönlichen Geiftes ift darin weniger betont,
als die Anfchauung des Verf.'s felbft dies fordert.

Wohin unter den beftehenden Syftemen foll man
diefe Gefammtanfchauung einfügen? Der Verfaffer felbft
würde gegen jede beftimmte Rubricirung proteftiren. Er
fufst auf der Erkenntnifstheorie Kant's und den phyfio-
logifchen Unterfuchungen Weber's. Am nächften fleht
er Fechner, auf deffen Pfychophyfik er hohen Werth
legt, und wohl auch Lotze. Aber weit entfehiedener
noch, als bei jenen, ruht der Schwerpunkt auch feines
Denkens in der fittlich-religiöfen Welt. Vielleicht ift
man dies letztere von den Philofophen von Fach zu
wenig gewohnt, um es im einzelnen Fall nicht wunderbar
zu finden. Aber auch die Theologie hat doch ein
gutes Recht, einem ,Grundrifs der Philofophie' als folchem
gegenüber fleh kritifch zu verhalten, fo gern und gerade
weil fie mit deffen Ergebnifsen fachlich übereinzuftimmen
bekennt.

Für eine etwaige dritte Auflage fei ein doppelter
Wunfeh ausgefprochen. Einmal braucht es nicht fo oft
erwähnt zu werden, dafs fich die Ausführungen nur auf
das Allgemeine befchränken hönnen. Das ift bei diefem
Umfang und bei diefer Anlage felbftvcrftändlich. Sodann
follte weniger auf andere Schriften des Verf.'s und gar
nicht auf die vorhergehende Auflage verwiefen werden.

Leipzig. Härtung.

Wasserschieben, F. V. v., Anti Nordau. Eine Kritik des
Buches ,Die konventionellen Lügen der Kulturmenfch-
heit'. Berlin, C. Duncker, 1885. (71 S. gr. 8.) M. 1. —

Das bekannte Nordau'fche Buch gehört zu den trau-
rigften Erfcheinungen der letzten Jahre. Alfo dazu hat
der Verfaffer an der Kette feiner intereffanten Schilderungen
das deutfehe Publicum ,vom Kreml bis zur Alham-
bra' gefuhrt, damit feine Stimme von recht Vielen
vernommen werde, wenn er dann fagt: Alles, was den
Völkern in diefer grofsen Culturwelt wichtig und heilig
ift, ift eine grofse Lüge? So vornehm und eynifeh, fo
| aburtheilend und widerfpruchsvoll, bald roh, bald fenti-
mental, hat feiten Einer gefchrieben. Für das Letztere
j nur ein Beifpiel: Er befchreibt das Leben eines modernen
| Menfchen, welcher wegen der fortwährenden Nörgelei
! des Staates zu keinem Frieden kommt. Nachdem nun
endlich auch feine Frau geftorben ift, hindert man ihn
— das wird als der ftärkfte Trumpf gegen Staatsbevor-
j mundung ausgefpielt — diefelbe unter dem Baume vor
feinem Haufe, der ihm fo lieb ift, zu begraben!! Alfo
auch die Sanitätspolizei ift eine Conventionelle Culturlüge!
Für die Lefer diefer Zeitung bedarf Nordau's Buch keiner
Kritik. Und doch durfte es, nachdem es in fo vielen
Auflagen verbreitet ift, auch abgefchen von den vielfachen
Besprechungen in Zeitfchriften nicht unbeantwortet
bleiben. Ref. weifs es dem Verf. Dank, dafs er
in feinem ,Anti-Nordau' an diefes Werk gegangen ift,
und fpricht dies um fo lieber aus, nachdem er in einer
Befprechung einer anderen Schrift desfclben bei aller
Anerkennung aufrichtigen Wahrheitsftrebens, feinen tiefen
Diffenfus mit deffen Anfchauungen hat erklären müffen.
Gerade von einem Manne, den niemand orthodox oder
feudal nennen kann, wird M. Nordau am wirkfamften
die Wahrheit gefagt werden. Selbft Ausdrücke, die
anderwärts unparlamentarifch wären, find hier begreiflich,
denn der Verf. hat recht, bei der unleugbaren fchrift-
ftellerifch.cn Begabung N.'s fällt es einem fchwer, diefe
Schrift für ernft gemeint zu halten.

Im Einzelnen folgt die Kritik ihrem Gegenftand,
indem fie die einzelnen Thcile desfelben, z. B. die poli-
tifche, die religiöfe, die Ehelüge u. f. w. behandelt. Das
Gefpräch am Schlufs zwifchen einem Idealiftcn und einem
Materialiften, aus welchem der Idealift nach vier Seiten
als glänzender Sieger hervorgeht, hat die Schattenfeiten
1 aller derartigen Scheingefechte, in welchen die Waffen
I recht parteiifch vertheilt find. Zudem ift mir ein Idealift,