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Ausgabe:

1886

Spalte:

17-19

Autor/Hrsg.:

Eucken, Rudolf

Titel/Untertitel:

Prolegomena zu Forschungen über die Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Menschheit 1886

Rezensent:

Siebeck, Hermann

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17 Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 1.

Eucken, Prof. Rud., Prolegomena zu Forschungen über die
Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der
Menschheit. Leipzig, Veit & Co., 1885. (V, 114 S. gr. 8.)

M. 3. -

Die wenig umfängliche Schrift ift nicht leicht in
Kürze zu beurtheilen ; fchon dem Lefer bietet der con-
denfirte Gedankengehalt manche Schwierigkeiten. Neuen
und ungewohnten Zielen der Speculation zugewendet,
rechnet fie auch in der ganzen Art der Darftellung bis
in die Einzelheiten der Terminologie in erhöhtem Mafse
auf das felbftthätige Verftändnifs desfelben. Dazukommt,
dafs die vorliegenden Prolegomena für den neuen Inhalt
, der ihnen folgen foll, im Wefentlichen nur erft die
Methode zu umfchreiben bemüht find, diefe felbft mithin
ihr volles Licht erft von dem empfangen dürften,
was fie zunächft im Voraus zu erhellen bemüht find.
Den Eindruck freilich, dafs die Sache, um die es fich
handelt, von hohem Intereffe fei, werden diefe einleitenden
Fingerzeige nirgends verfehlen. Der Verfaffer
erklärt fich ,gegen alle Verbuche, den Kerngehalt der
Philofophie in allgemeinen Vorftellungen begrifflicher
Art zu finden und den lebendigen Gehalt des Dafeins
in möglichft farblofe Kategorien zu zwängen' (S. 113).
Gegen folche Einheit durch Reflexion ftellt er den Begriff
der Einheit des Geiftcslebens in fortwährender
That; die Philofophie eines Spinoza, eines Hegel ,be-
deutet doch nicht ohne weiteres Ueberzeugung und
thätiges Wirken der Menfchheit' (15); letzteres aber (als
,Inbegriff) foll herausgearbeitet werden, in der Einficht
nämlich, wie ,die ganze Arbeitswelt durch lebendige
That in einen Procefs zufammengenommen' wird, dem
gegenüber die abftract begriffliche Ausdeutung der Wirklichkeit
vom ,Standpunkt' diefes oder jenes Beobachters
bedeutungslos erfcheint (73). Diefe Aufgabe fei auch
nothwendig angefichts der Zeitlage, in der das Ethifche
vom Technifchen überwogen wird und auf rein geiftigem
Gebiete der Zwiefpalt zwifchen den Refultaten metho-
difch-wiffenfchaftlicher Erklärung und gefühlsmäfsiger
Auffaffung der Welt immer noch der rechten Ausgleichung
harrt. Es gilt befonders zu erkennen, wie
gegenüber dem wiffenfehaftlichen modernen Bewufstfein,
welches die Bedeutung der Perfönlichkeit herabfetzt, gerade
der Blick auf die moderne Cultur felbft, wenn
man ihr Bild nur nicht in die Abftractionen metaphy-
fifcher Begriffe verflüchtigt, mächtige Strömungen zeigt,
welche die Bedeutfamkeit des perfönlichen Lebens prak-
tifch wie theoretifch erhöhen müffen. Das .Problem des
Inbegriffs' erheifcht (20) ,ein allumfaffendes Gefchehen
aufzufuchen, in dem die Widcrfprüche aufhören Wider-
fprüche der Sache zu fein und beharrende Gegenfätze
fich in Gegenfeiten verwandeln'. Gelöft foll es werden
mitteilt der Unterfcheidung zweier Stufen, ,deren eine
wir als Geiftesnatur, als Naturgefchehen des Geiftes, die
andere aber als exiftentes Leben bezeichnen könnten'
(22). Letzteres würde als ,erfter Lebensbefund' von der
Stellung der Thatfache zu blofser Erfcheinung herabgedrängt
werden, von der aus fich die .Berufung an die
höhere Inftanz des Naturgefchehcns' (23), an die eigentliche
geiftige Realität (25) ermöglichte. Der Menfch kann
(29) dem eigenen Bilde des Weltlebens, wie es das Bewufstfein
darbietet, nicht trauen, weil hier Reflexion
und Phantafie in ihren Ergebnifsen zunächft ungefchieden
durcheinander laufen. Aber auch dann, wenn ,ein ge-
wiffer Beftand des Lebens in Sicherheit gebracht' ift,
fragt es fich noch, ob jene Wirklichkeit primärer Daten,
weil fie jenfeits blofser Combination liegt, fchon ein
Naturgefchehen in unferem Sinne' bilde (31). Mit der
unleugbaren Thatfache z. B., dafs der herrfchende Trieb
des menfehlichen Dafeins auf Sclbftbehauptung des Individuums
geht, ift noch nicht erwiefen, dafs derfelbe
,dem Naturftande des Geiftes als wefentliche Zubehör'
beizulegen fei. — Der Gefchichte der Philofophie (der

Metaphyfik fowohl wie des Kriticismus) entnimmt der
Verf. die Lehre, ,dafs es verfehlt ift, fei es im Anfang,
fei es im Ergebnifs einen befonderen Punkt zu befeftigen
und daran alles Andere zu hängen' (38). Liefse fich dagegen
,von einem Lebensboden und einem Lebensträger
fprechen, die alles Gefchehen halten und führen, fo wird
ihre Art allem Erleben ein eigenthümliches Gepräge
geben, es allgemeinen Gefetzen unterwerfen, feiner Entfaltung
fefte Richtungen weifen' (34). Von diefen Bedürfnissen
aus richtet fich der Blick (45) auf die Arbeit
der Menfchheit. ,Hat die Menfchheit gemeinfamen Ge-
genftand aus gemeinfamen Zwecken behandelt, fo befitzt
fie einen Zufammenhang des Thuns; . . . unvollkommen,

I wie fie ift, befitzt doch die Arbeitswelt gegenüber dem

! anderen Thun einen höheren Grad der Confiftenz und
bietet der Forfchung das, was wir bislang vermifsten,
einen zufammenhängenden Beftand von Phänomenen'.
Der Begriff der Arbeit wird hierbei weit genug gefafst,
um auch ,die der Neuzeit eigenthümliche Vernunftkritik'
einzufchliefsen (46).

Es handelt fich demnach bei dem neuen Princip der
Speculation nicht um Aufhebung des concreten Inhalts
der Wirklichkeit und der Gefchichte in eine Verflechtung
von Begriffen, fondern um ,die Zufammenordnung mannigfacher
Erfcheinungen in ein Ganzes der That'; nicht
ein Syftem wird erftrebt, fondern ein ,Syntagma' (74).
Freilich wird das durchgreifende einheitliche Syntagma
aus verfchiedenen Theilganzen erft herausgeftellt werden
müffen. In der Neuzeit insbefondere und ihrer Arbeit

| find verfchiedene Strömungen folcher Art zu entdecken.
Diefes Alles fafst fich fchliefslich zufammen zu zwei
Haupttheilen der Aufgabe: ,Charakteriftik vorhandener
Lebensconcentrationen und Verfuch, zu neuer Ganzheit
vorzudringen' (83 f.).

Auf die Darftellung der Art, wie fich die logifche
Methode zur Erreichung des aufgewiefenen Zieles für
den Verf. geftaltet, mufs hier verzichtet werden. Dafs
fein Unternehmen, dem abftract-metaphyfifchen Dogmatismus
gegenüber einen Pofitivismus neuen Stiles, und
zwar einen ethifchen und gefchichtsphilofophifchen an-
ftrebt, kommt am Schluffe des Vorliegenden (113) noch
deutlich zum Ausdruck. Eine eigentliche Kritik der
Aufgabe felbft dürfte, bevor ihre Durchführung wenig-
ftens zum erheblichen Theile vollendet ift, verfrüht fein.
Der Werth eines Räthfels läfst fich erft beurtheilen, wenn
die Auflöfung gegeben ift; der letzteren mit befonders

j angeregten Erwartungen entgegenfehen zu laffen, ift die
hier gebotene, in prägnanter Form nach der Breite wie
nach der Tiefe ftrebende Vorausdeutung jedenfalls geeignet
.

Dafs dem neuen Vorhaben bei aller Originalität docli
auch Verwandtfchaft zu Früherem innewohnt, wird fich
dem Verf. felbft nicht verbergen. Lediglich im Princip
verftanden erfcheint dasfelbe wie eine umgeftaltende
Aus- und Durchführung gewiffer platonifcher (vielleicht
auch auguftinifcher) Tendenzen, mit welchen auch von
früher her in der neueren Cultur manche von der traditionellen
Philofophiegefchichte abfeits liegende Leiftun-

j gen (wie die eines G. B. Vico) innere Verwandtfchaft
zeigen mögen. Ein Bedenken möchten wir in diefer
Stelle fchliefslich gegen die Beziehung geltend machen,
in welche nach der Anficht des Verf.'s die Ausführung

j feines Werkes zur Erkenntnifstheorie kommen würde.
Auch die letztere foll (109) nur dann etwas ausrichten
können, wenn fie fich nicht auf das Erkennen für fich,
fondern ,auf das Gefammtthun des Geifteslebens' bezieht
, um zu fragen, ,ob fich hier eine umfaffende Einheit
herausftelle und gegen alle Verzweigungen des
Lebens und Wiffens eine felbftändige Aufgabe durchfetze
'. Das Problem der Erkenntnifslehre wäre hiernach
in der Aufgabe des Verf.'s fchon mit eingefchloffen und
hätte von deren Durchführung felbft erft Ziel und Ge-
ftaltung zu empfangen. Dafs diefe Umkehrung des bis-