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Ausgabe:

1886 Nr. 14

Spalte:

326-329

Autor/Hrsg.:

Becker, Bernh.

Titel/Untertitel:

Zinzendorf im Verhältnis zu Philosophie und Kirchentum seiner Zeit 1886

Rezensent:

Ritschl, Albrecht

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Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 14.

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neun, in dem Spicilegium d'Achery's enthaltene Stücke,
welche bisher als die gröfsten Zierden desfelben galten,
nämlich 1) das Testamentum Perpetui Turonensis Episcopi
vom l. Mai 475 — es wurde bisher als das alterte Acten-
rtuck aus der Merowingifchen Periode angefehen —,
2) das Epitaphium diefes Bifchofs, 3) das Schenkungsdiplom
Chlodwig's L an die Abbatia Miciaccnsis — das
einzige Diplom Chlodwig's, deffen Echtheit die Kritik
bisher unbeanstandet gelaffen hat —, 4) die ,Co/lalio
episcoporum praescrtim Aviti Viennensis episcopi, coram
rege Gundobaldo adv. Arianos' v. J. 499, 5) der Brief
des Leontius ep. an den Papft Hilarius v. J. 462, 6) der
Brief des Lupus von Troyes an Sidonius v. J. 472, 7)
des Papftes Gelafius v. 25. Jan. 494, 8) des Papftes
Anaftaüus II. v. J. 497, 9) des Papftes Symmachus v.
13. Oct. 501 — P'älfchungen find, angefertigt von dem
Priefter des Oratoriums Hieronymus V ignier 6) (geb.
zu Blois 1606, geft. zu Paris am 14. Nov. 1661) und bona
fide aufgenommen von d'Achery.

Mit diefen Schriftftücken verhält es fich durchweg
fo wie mit dem Theonasbrief: rte tauchen im Oratorium
auf, d'Achery erhält eine Abfchrift; aber eine Handfchrift
hat niemals irgend Jemand gefehen. Havet's Combi-
nation liegt daher aufserordentlich nahe, dafs der Theonasbrief
aus derfelben Schmiede flammt, wie jene ge-
fälfchten Actenftücke'). Dafs Vignier noch mehrere
auf Lager hatte refp. beabfichtigte, noch mehrere zu
fallchen, wirten wir, wie Havet gezeigt hat, von ihm
felber. Alfo kann der Theonasbrief recht wohl von ihm
fein. Batiffol hat fich nun auch bemüht, aus der
Diction des Briefes die Urheberfchaft Vignier's zu er-
weifen (f. oben). Allein diefer Erweis ift nicht fehr eindrucksvoll
. Ich vermag den von B. aufgeftellten Parallelen
ein befonderes Gewicht nicht beizulegen; es ift
hier wie dort moderner Stil; aber die Identität der
Schriftfteller ift nicht bewiefen. Das ,Peut-etre' Batiffol's
als Antwort auf die runde Frage, ob Vignier der Verf.
des Theonasbriefes fei, zeigt übrigens, dafs er felbft den
Beweis nicht als völlig erbracht anlieht. Auch ift nicht
zu vergeffen, dafs der Theonasbrief erft i. J. 1675 aufgetaucht
ift, während jene neun gefälfehten Stücke bei
Lebzeiten Vignier's refp. von ihm felber d'Achery
gliffirt worden find, ferner, dafs der Theonasbrief nichts
mit der Gefchichte der alten fränkifchen Kirche zu thun
hat, die zu bereichern Vignier's Abficht fonft gewefen
ift. Andercrfeits ift darauf hinzuweifen, dafs Vignier
ein fehr virtuofer Fälfcher gewefen ift, der fich in
mancherlei Stoffen verbucht und denfelben eine eigen-
thumliche Form und Haltung zu geben verftanden hat.

Batiffol hat jedenfalls in feiner kurzen Abhandlung
die Echtheit des Thconasbriefes fo ftark erfchüttert, dafs
man gefpannt darauf fein darf, ob fich noch ein Retter
finden wird. Man mufs indefs zugeben, dafs die Acten
noch nicht gefchloffen find. Die Zeit, in welcher der
Brief gefchrieben ift oder gefchrieben fein will, ift zu
unterfuchen; die Details find zu erklären und ihre Ge-
fchichtlichkeit zu prüfen; Argumente für die Echtheit —
fo jener auffallende Satz in c. 7: ,interdum et divinas
scripturas laudare conabitur . . . laudabitur et interim evan-
gelium apostolusque {Paulus) pro divinis oraculis' — find
zu erwägen. Wenn aber die Unechtheit über jeden
Zweifel ficher geftellt ift, dann erhebt fich die Frage,
auf welchen Quellen das Schriftftück fufst — Havet

6) Ueber die Perfönlichkeit diefes Vignier hat Havet p. 269 fr.
zufammengeftellt, was lieh aus d'Achery's Angaben gewinnen läfst, und
aufserdem S. 268 n. 2 auf einige biographifche Werke verwiefen. Dafs
er ein Fälfcher, und zwar ein dreifter, wenn auch kein gewinnfüchtiger,
gewefen ift, hat Havet befonders deutlich gemacht in 2 7 feiner Abhandlung
: Jiröme Vignier: Vie de S. Odile (p. 261 sq). Das Motiv
zu den Fälfchungen hat Vignier felbft deutlich genug angegeben: ,Quo
pio lectori bpti.it movealur nobisque gratulelur, qui Ihesaurum tslum
Uli minime iiwidemus'.

7) An eine Mitfchuld des Pafchafms Quesnel zu glauben, liegt kein
Grund vor.

hat fie für jene neun Stücke pünktlich angegeben —,
und wie es zur Fälfchung eines folchen Schriftftückes
gekommen ift. Indem ich wünfehe, dafs diefe Unter-
fuchungen recht bald unternommen werden mögen, will
ich eine Vermuthung — es ift nicht mehr als eine
folche — nicht unterdrücken: Diefe frommen und klugen
Chriften am Hofe des Princeps, diefer ebenfo fromme,
wie klaflifch gebildete und bildungseifrige BifchofTheonas,
diefe Rathfchläge, den Princeps für die chriftliche Sache
und für gute klaffifche Leetüre zugleich zu gewinnen,
diefe genauen Anweifungen, Sereniffimum nicht zu ver-
ftimmen, fondern bei heiterer Laune zu erhalten, diefe
Mahnungen zur täglichen, privaten Lcctüre der h. Schrift
und zur Contemplation (c. 9: ,non praetereat dies, quin
opportuno tempore dato aliquid sacrarum lectionum legatis,
aliquid contcmplemini, nec sacrae scripturae litteratu-
ram prorsus abiciatis; nihil adeo an im am pascit et nten-
tem impinguat, sicut sacrae faciunt lectiones'), diefe befon-
dere Hervorhebung des Paulus — darf man hier nicht
an den Hof Ludwig's XIV. und an die Janfeniften
denken, und führt nicht die Provenienz des Briefes auf
diefe Spur?

Giefsen. Adolf Harnack.

Becker, Bernh., Zinzendorf im Verhältnis zu Philosophie und
Kirchentum seiner Zeit. Gefchichtliche Studien. Leipzig,
Hinrichs, 1886. (VIII, 580 S. gr. 8.) M. 8. —

Um diefes Buch gerecht zu beurtheilen, mufs man
den Nebentitel: Gefchichtliche Studien beachten. Der
Verf., Lehrer am theologifchen Seminar der Brüdergemeinde
in Gnadenfeld, hat auf Grund einer fehr weit
greifenden Kenntnifs der Schriften von Z., auch der ungedruckten
, in fauberer, durchfichtiger, manchmal etwas
minutiöfer Darfteilung in 5 Büchern: 1. die Grundlagen
des Chriftenthums des Grafen, 2. fein Verhältnifs zur
philofophifchen Aufklärung, 3. zum deutfehen Pietismus,
4. zum lutherifchen Kirchenthum, 5. zur mährifchen Kirche
feftzuftellen unternommen. Dafs bei diefer Dispofition
manche Themata an verfchiedenen Orten wiederholt
vorkommen, foll nicht als Störung gerügt werden, weil
die nach den verfchiedenen Richtungen fich bewegenden
I Studien über die Anflehten Z.'s folche Wiederholungen
mit fich brachten. Die Biographie wird bei diefem Verfahren
nur beiläufig oder einleitungsweifc berückfichtigt,
fo weit fie zum Verftändnifs der Stellung oder der Löfung
der Fragen nach den Anflehten des Grafen nicht entbehrt
werden konnte. Nun fteht Ref. nicht an, die Er-
| gebnifse des 2. und des 5. Buches als fehr bedeutfam
| für die gefammte gefchichtliche Stellung von Z., und als
j neuen Erwerb der Forfchung zu bezeichnen. Im 2. Buch
weift der Verf. nach, dafs Z., ehe ihn die mährifchen
1 Exulanten völlig in Anfpruch nahmen, fich um die Unter-
fcheidung von Philofophie und Religion bemüht und feine
Anflehten darüber in einer periodifchen Schrift: ,Dcr
Dresdenifche (deutfehe) Socrates' verfochten hat. In diefer
Richtung ift auch feine Bcfchäftigung mit Bayle verftänd-
i lieh, deffen fkeptifche Auseinanderfetzung von Philofophie
I und Religion durch Z. in der ihm entgegengefetzten Richtung
zu Gunften der letztern entfehieden worden ift. Es
ift freilich Z. nicht gelungen, das Problem in genauen
Begriffsbeftimmungen zu löfen, — dies war ja überhaupt
nicht feine Leiftung —j er hat auch den allgemeinen Zug
der Aufklärung, der ihm zuwider war, nicht aufhalten
können; indeffen ift es für die gegenwärtige Discuffion
des Problems von Intereffe, wie Zinzendorf vor circa
150 Jahren fich dazu geftellt hat. — Im 5. Buch beweift
der Verf., dafs Z., indem er feine Stiftung der Brüdergemeinde
immer in Uebcreinftimmung mit der Augsb.
Conf. und dem Dicnft an der lutherifchen Kirche zu halten
befliffen war, in diefer Beziehung von den mährifchen
Brüdern Widerftand erfahren und mit ihnen zu ringen
I gehabt hat. In der Biographie des Grafen, welche durch