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Ausgabe:

1886 Nr. 12

Spalte:

273-277

Autor/Hrsg.:

Réville, Jean

Titel/Untertitel:

La religion à Rome sous les Sévères 1886

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1886. Nr. 12.

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bedenklich-ebionitifch, marcionitifch, montaniftifch, thco-
dotianifch, traurig-moraliftifch, enkratitifch, abgefeimt-
byzantinifch unter durchfichtiger Maske, Standpunkt nicht
feftzuftellen, da der Verf. von feinem .Glauben' nicht gehandelt
hat, klaflifch-evangelifch — Bedeutung: ift der
wichtigfte Fund der letzten Jahrhunderte, follte in den
Kanon des N. T.'s aufgenommen werden, ift eine ganze
Bibel in n?ice, löft die fchwerften Räthfel, ift fingulär und
daher mit Vorficht zu benutzen, zeigt das Durchfchnitts-
chriftenthum, ift als Compilation unbrauchbar zur Cha-
rakteriftik irgend einer Zeit, zeigt eine grofse Dürftigkeit
, das Chriftenthum des Verfaffers ift lediglich bedauerlich
, rationaliftifch öde und flach, immerhin inter-
effant, ein ganz trauriges Machwerk ohne Bedeutung für
feine und für unfere Zeit; das Buch ift nur für die by-
zautinifchen Fälfcher charakteriftifch — Abfaffungsort:
Aegypten, Griechenland, Syrien, Jerufalem, Rom, Klein-
afien und Conftantinopel.

Dies wäre eine kleine Mufterkarte; fie könnte beliebig
vermehrt werden, wenn man auf die Adreffe und
Auffchrift des Buches, auf die einzelnen in ihm enthaltenen
Stücke u. f. w. eingehen wollte. Nur noch Eines:
dasBuch bezeugt die apoftolifche.die presbyteriale, die epi-
fkopale und gar keineVerfaffung. Es ift befonders wichtig,
weil es den proteftantifchen, katholifchen, baptiftifchen,
antibaptiftifchen, chiliaftifchen, antichiliaftifchen, irvingia-
nifchen und einigen anderen Kirchengemeinfchaften zu
Gute kommt, weil es noch apoftolifch und vorkatholifch,
zugleich aber katholifch ift, weil feine Propheten noch
wirkliche urchriftliche Propheten find, nein neue Propheten,
nein überhaupt keine Propheten, fondern erfindungsreiche
Schwindler und Parafiten — keineswegs erfindungsreiche
Schwindler, fondern vom P'älfcher erzeugte liomuncidi.
Mit den ,Apofteln' fleht es kaum beffer.

Mufs nicht ein Unbetheiligter angefichts diefer Ur-
theile fagen, entweder ift hier wirklich Alles im Dunkel
— auffallend genug freilich, dafs Niemand das deutlich
fagt, vielmehr faft Alle eine beftimmte pofitive Anficht
vertreten — oder aber es haben hier Viele das Wort
genommen, die dazu kein anderes Recht hatten als eine
ihnen zur Verfügung geftellte Druckerpreffe? Doch Ref.
wird nicht fo unhöflich fein, diefes Urtheil auszuführen
oder zu illuftriren. Er fchliefst vielmehr diefen erften Artikel
mit der Bezeugung der Freude darüber, wie viel fchätz-
bare Gelehrfamkeit der neue Fund an's Tageslicht gefördert
hat. Unter den hunderten von Arbeiten find nicht
wenige, die wirkliches Licht, fei es in Bezug auf Einzelheiten
, fei es in Bezug auf Hauptfragen verbreitet haben,
und felbft durch Unterfuchungen, die als ganze nicht erfreulich
und beifallswürdig find, ift Manches gefördert
worden. In den folgenden Artikeln follen einige der
wichtigften Fortfehritte und Controverfen dargelegt werden.

Giefsen, 1. Mai. Adolf Harnack.

Reville, Jean, La religion ä Rome sous les Severes. Paris,
Leroux, 1886. (VII, 302 S. gr. 8.) Fr. 7. 50.
Das, was wir katholifches Chriftenthum nennen, hat
feine erfte Geftalt erhalten in dem Zeitraum, der von dem
Tode Marc Aurel's bis zur Reaction des Decius reicht
oder — um einen der Schlufsfätze des vorftehenden
Werkes anzuführen — le catliolicisme est ne du syncre-
tistne päien et du christianisme primitif. Innerhalb der
Religions-, Sitten- und Culturgefchichte der römifchen
Kaiferzeit hat fomit keine Epoche für den Kirchen- und
Dogmenhiftoriker ein höheres Intereffe als die vom J. 180
bis z. J. 250 reichende. Während wir aber für die Zeit
bis zu Marc Aurel's Tode in den Werken von Friedländer
, Renan und Boiffier {La religion romaine
d''Auguste ante Antonius. 1878) ausgezeichnete Darftellungen
befitzen, und die innern Zuftände im Reich unter
der Regierung des Diocletian und Conftantin von Burck-
hardt, Mafon u. A. gefchildert worden find, entbehrte

die oben bezeichnete Epoche — von dem älteren Werke
Tzfchirner's (Der Fall des Heidenthums S. 347 ff), Marquardts
zufammenfaffender Darfteilung des römifchen
Sacralwefens und Aube's drittem Bande (f. Theol. Lit-
Ztg. 1882, Nr. 8) abgefehen, der die Lücke keineswegs
ausfüllt — in Bezug auf Religion, Sitte und Cultur noch
I einer eingehenden Schilderung. Es darf bereits als ein
j Zeichen trefflicher gefchichtlicher Einficht betrachtet
j werden, dafs Reville, welcher Kirchenhiftoriker ift, diefen
j Mangel empfunden und die Aufgabe, die fich einft der
treffliche Tzfchirner im 2. Buch des oben genannten
Werks geftellt hatte, wieder aufgenommen hat; zu der
i Art, wie er dem Mangel in vorftehendem Werke abgeholfen
hat, dürfen wir uns und ihm aufs befte gratuliren.

Ref. fleht nicht an, diefe Schilderung ,der Religion
in Rom unter den Severen' als ein ausgezeichnetes
Werk allen l^achgenoffen auf das wärmfte zu empfehlen.
Dasfelbe reiht fich würdig an die Arbeit Boiffier's an
und hält in jeder Hinficht den Vergleich mit ihr aus. Es
beruht auf den eingehendflen und überall felbftändigen
j Studien der Kirchenväter l), der für den Zeitraum leider
fo fpärlichen profanen Quellen und — was befonders
anerkennenswerth ift — der Infchriften. Dazu find die
I einfchlagenden Unterfuchungen auf das fleifsigfte benutzt
und — ich hebe es hervor, da z. B. Aube und andere
Franzofen es darin haben fehlen laffen — überall auch
die deutfehen Arbeiten herbeigezogen. Die Darfteilung
ift lebhaft und fein ohne Schwulft und Flitter, an einigen
Stellen etwas zu breit. Das geftellte Thema ift ftreng
innegehalten; jüngere und ältere Quellen find nur benutzt,
wo fich eine folche Benutzung rechtfertigen läfst. Da das
Chriftenthum nicht in den Synkretismus fich hat hineinziehen
laffen, fondern vielmehr die fremden Elemente
eigenthümlich affimilirt hat, fo hat der Verf. fich darauf
befchränkt, an geeigneten Stellen, namentlich am Schlufs,
das Verhältnifs der Kirche zu den fynkretiftifchen Bil-
' düngen zu beleuchten. Er hat eben damit einen feften
j Hintergrund für die Betrachtung der Kirche in dem angegebenen
Zeitraum gefchaffen. Was er in dem Schlufs-
j capitel über den Monotheismus des Synkretismus, über
die ,/atniliarisation de la conscience päienne avec Video de
la necessite des mediateurs entre Dien et Vkomme*, über die
,politique syncretiste favorable au christianisme* und die
,superiorite de Vintransigeance chritienne', endlich über die
Elemente des Katholicismus bemerkt hat ift durchweg
ebenfo befonnen wie zutreffend. Man darf es hoffnungsfreudig
fagen — die richtigen Erkenntnifse über den Ur-
fprung des Katholicismus liegen bereits in der Luft; man
braucht nur die Hand nach ihnen auszuftrecken. Speciell
der Ref. hat diefes Werk mit Freuden begrüfst. Der
Verf. ift von feinen Arbeiten fo unabhängig, wie der
Ref. von denen des Verfaffers, und doch herrfcht im
Einzelnen wie in den Hauptideen die höchfte Ueberein-
ftimmung, die fich hie und da felbft bis auf's Wort er-
ftreckt. Es wird den Lefern erwünfeht fein, wenn ich
die Schlufsausführungen des Verfaffers unverkürzt mittheile
:

■ ■ . . Jlais quel mcn>eil/eux organisme que celui de
Vhglise des le III' siede! Combien eile s'entend micux que
les idealistes d'esprit vague qui voulaient reformer le paga-
nisme, ä s'incorporer les doctrines ou les pratiques origi-
nairement distindes! Elle ne se borne pas a les absorber;
eile les digere, eile en fait chair de sa chair, eile se les
assimile si bien que Von ne tarde pas a ne plus reconnaitre
leur origine drängere. Une bonnc partie des idees et des
sentiments propages par le synerdisme paien du III' siede
y a passe, et le monde depuis lors en a fait lionneur au
christianisme. II fallait une puissance de vie singulierement
intense dans VEglise du Christ pour aecomplir une parcille
oeuvre.

I) Auffallend ift, dafs der Verf. den Tractat dt dea Syra für echt
zu halten fcheint.

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