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Ausgabe:

1886 Nr. 10

Spalte:

236-237

Autor/Hrsg.:

Weber, Thdr.

Titel/Untertitel:

Emil de Bois-Reymond 1886

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Theologifche Literaturzeitung 1886. Nr. 10.

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mehr gerade in der lebendigen Durchdringung, in welcher
beide Momente von Anfang bis zu Ende gehalten find.
Die Leibnizifche Philofophie foll möglich!! volhtändig aus
der wiffenfchaftlichen und ethifchen Culturihrer Zeit, fowie
aus der Perfönlichkeit und dem Bildungsgang ihres Urhebers
erfchloffen und begriffen werden. Den Gang der
Unterfuchung im Einzelnen kann ich hier freilich nur
durch die Capitelüberfchriften andeuten: I, 1. Leipzig
und die Schulbildung; 2. Mainz und die Erziehung durch
das Leben; 3. Paris und die Erfindung der Differentialrechnung
; 4. Hannover. Der Philofoph und Akademiker;
5. Controverfen; 6. Erfolglofe Verfuche und neue Anfänge
. Leibnizens Charakter. II, 1. die Principien; 2. das
Syftem; 3. Geift und Charakter; 4. das Schickfal der
Leibnizifchen Philofophie. In I, 1 kommen aufser .Geburt
und Elternhaus' u. a. auch die ,Urfachen des Verfalls der
Wiffenfchaft', .Folgen der deutfchen Politik', ,das religiöfe
Leben nach der Reformation'; in I, 5 neben der ,Ver-
gleichung Leibnizens und Nevvton's', die ,vereinfamte
Stellung' des erfteren; in I, 6 fein Plan zur Union der
Kirchen zur Befprechung u. f. w. Dafs in fachwiffenfchaft-
licher Beziehung befonders der Entwicklungsgang der
Mathematik im Allgemeinen fowie fpeciell in Leibnizens
eigenen Studien, und namentlich eine eingehende Unterfuchung
zu dem Prioritätsftreit in Betreff der Erfindung
der Differentialrechnung zur Geltung kommt, ift bei dem
Urfprunge des Buches von vorn herein zu erwarten. Das
Ganze ift aber um deswillen keineswegs etwa als eine
Tendenzfchrift zu betrachten und feine (von K. Schaar-
fchmidt veranlafste) Uebertragung für deutfche Lefer ein
durchaus gerechtfertigtes Unternehmen. Bei der objec-
tiven Scheidung desjenigen, was in der Entwickelung des
Philofophen auf Rechnung feiner Zeit kommt, von dem,
was er auf Grund feiner Individualität der letzteren ge-
leiftet hat, erfährt auch der Charakter desfelben eine neue
und felbftändige Würdigung, die zu feinem Vortheile ausfällt
; ja das beigebrachte Material wirkt auf den Lefer
jedenfalls noch günftiger, als fich das Endurtheil des Verf.'s
fchliefslich felbft geftaltet. Nicht ohne Befremden dürfte
wenigftens mancher die Sentenz auf S. 132 entgegennehmen
: .Obgleich wir fein ganzes Leben und alle feine
Schriften von Glauben und Liebe und Hoffnung durchdrungen
finden, fo war fein Glaube doch nur (?) unerschütterliches
Fefthalten an frühgefafsten Meinungen,
feine Liebe nur (!) die Glut allumfaffenden Wohlwollens,
feine Hoffnung nur (?) eine Zuverficht auf den fchliefs-
lichen Elrfolg der leitenden Principien feiner Philofophie',
— ein Satz, zu deffen Beurtheilung die eingefügten Lefe-
zeichen genügen mögen. Auch Leibnizens Patriotismus
fcheint mir (S. 133) unterfchätzt zu werden, fowie überhaupt
die Thatfache, dafs das eigentlich Geniale in feiner
Wirkfamkeit gerade in denjenigen Unternehmungen am
meiften hervortritt, in denen ihm der letzte Erfolg ver-
fagt war, in den Verfuchen nämlich, die Ergebnifse feiner
wiffenfchaftlichen Einheilten, namentlich auch nach der
ethifchen Seite hin möglichft praktifch zu machen. Die
Einwirkung auf die politifchen und focialen Verhältnifse
feiner Zeit im nationalen Sinne war für L. nicht ein gelegentliches
Nebenwerk, fondern ein perfönliches Bedürfnis
. Diefer Zug in feinem Wefen bildet das Gegengewicht
gegen diejenige Eigentümlichkeit, in welcher
mit feiner Stärke zugleich die Schwäche feiner wiffenfchaftlichen
Leiftungsfähigkeit enthalten ift, die unbegrenzte
Receptivität nämlich für Anregungen und Ein-
flüffe von aufsen.

In der Darstellung der Leibnizifchen Philofophie wäre
u. a. ein näheres Eingehen auf die Lehre von der Materie
und vom Räume als eines pliaenomenon bene fundatum zu
wünfehen gewefen; nicht minder der Hinweis auf den für
die Kritik der Atomiftik ebenfo wie für das Verftändnifs
der Monadenlehre wichtigen Begriff der Sollicitation. Der
Gedankengehalt derTheodicee verdiente vielleicht, wenigftens
in hiftorifcher Beziehung, doch etwas mehr Anerkennung
, als er hier gefunden hat, zumal von Seiten eines
Autors, der in L. fehr richtig den erheblichsten Vorläufer
von Leffing, Herder und Lotze erkennt.

Giefsen. H. Siebeck.

Weber, Thdr., Emil Du Bois-Reymond. Eine Kritik feiner
Weltanficht. Gotha, F. A. Perthes, 1885. (XII, 266 S.
gr. 8.) M. 5.-

Als im Jahre 1872 Du Bois-Reymond auf der Ver-
fammlung deutfeher Naturforfcher und Aerzte zu Leipzig
feinen bekannten Vortrag über ,üie Grenzen des Naturerkennens
' hielt, galt derfelbe vielen als ein erlöfendes
Wort gegenüber dem Gebahren der Darwiniftifchen Schule
in Deutfchland, welche das gefammte Gebiet des Erkennens
für fich in Anfpruch nahm. An zwei wefentlichen
Punkten, in der Frage nach dem Wefen der Materie und
der Entstehung des Bewufstfeins, wurde hier von berufenster
Seite erklärt: Ignoramus, Ignorabimus. Seitdem
hat D. B.-R. in einer weiteren Schrift ,Die heben Welt-
räthfel' jene zwei Punkte auf fieben vermehrt. Für
fchlechthin unlösbar hält er folgende Schwierigkeiten:
1. das Wefen von Kraft und Materie; 2. den Urfprung
der Bewegung; 3. das Entliehen der einfachen Sinnes -
empfindung; 4. die Frage nach der Willensfreiheit, wofern
man fich nicht entfchliefsen kann, die letztere überhaupt
zuleugnen und das fubjective P"rciheitsgefühl für Täufchung
zu erklären. Als bedingungsweife lösbar erfcheinen ihm:
1. die erste Entstehung des Lebens; 2. die anfeheinend ab-
fichtsvolle zweckmäfsige Einrichtung der Natur; 3. das vernünftige
Denken und der Urfprung der damit eng verbundenen
Sprache. Wir geben dem Verf. der oben
genannten Schrift Recht, dafs diefer Räthfel ein wenig
zu viel ift, fehen aber darin nur ein Zeugnifs von der
Gewiffenhaftigkeit des empirifchen Forfchers, der die
ungelösten Fragen einfach nimmt, wo und wie vielfach
er fie findet. Darin müffen aber auch wir den Grundirrthum
der D. B.-R.'fchen Weltanfchauung fuchen, dafs
Naturerkennen ihm das einzig mögliche ift. Wir fehen,
gerade bei der P"rage nach Gott und nach dem Menfchen
hält er uns fein Ignoramus entgegen und brandmarkt
jede pofitive Behauptung als unwiffenfehaftlich, fo dafs
die Schranken des Materialismus durchaus für ihn nicht
überwunden find.

Mit Recht geht die Kritik Theodor Weber's, welcher
von der wiffenfchaftlichen Bedeutung feines Gegners stets
in den anerkennendsten Ausdrücken redet, von der Kritik
der Materie aus. In feiner Vorrede zu feinen ,Unter-
fuchungen über thierifche Elektricität', Bd. 1, 1847, hatte
D. B.-R. erklärt: ,Geht man auf den Grund der Erfchei-
nungen, fo erkennt man bald, dafs es weder Kräfte noch
Materie giebt.' Beide erfchienen ihm damals als blofseAb-
ftractionen. In feinen fpäteren Schriften, befonders in
den für weitere Kreife berechneten Vorträgen, wie ,Ge-
dächtnifsrede auf Johannes Müller' über die wiffenfchaftlichen
Zuftände der Gegenwart', löft er die Materie in
phyfikalifche Atome, ,die die Körperwelt conftituirenden
chemifchen Elemente', auf, fo dafs ihm alsdann die
Wiffenfchaft fo weit reicht, als fich alles auf Veränderung
diefer Atome zurückführen läfst. Nach Weber nun ift
die Materie urfprünglich nicht als ein Vielfaches, fondern
als ein Einfaches zu denken, welches fich differenzirt und
zwar fo, dafs ebenfo objective Erfcheinungen, als das
fubjective Gefühl derfelben vermöge der Gehirnthätig-
keiten hervorgerufen wird. So genügt die materialiftifche
Erklärungsweife für alle Vorgänge einfchliefslich des thie-
rifchen Bewufstfeins und des dem entfprechenden im
Menfchen: die Kategorien und den Ichgedanken des
Menfchen vermag fie nicht zu deuten und es ift thöricht,
im Menfchen nichts weiter zu fehen, als eine Kette in der
Reihe der Naturwefen. Ebenfo aber ift es undenkbar,
fich die Materie als bewegt zu denken ohne einen Anftofs