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Ausgabe:

1885 Nr. 3

Spalte:

72-76

Autor/Hrsg.:

Brüggemann, Franz

Titel/Untertitel:

Wünsche und Vorschläge zu der beabsichtigten Revision und Ergänzungen der landeskirchlichen Agende. Vortrag 1885

Rezensent:

Schlosser, Georg

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Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 3.

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ift, fo ift er ein liebenswürdiger Schwärmer, der eine,
grofse Belefenheit, ein poetifch-religiöfes Gemüth und
eine wohlmeinende Gefmnung bekundet.

Nr. 4. Verfaffer, der fich durch mehrere populäre
Schriften philofophifchen und ethifchen Inhalts fchon
bekannt gemacht hat, wendet fich auch in der vorliegenden
Schrift an die Gebildeten, um fie für fittliche
Lebenszwecke zu erwärmen; freilich muthet er ihnen
durch philofophifche Beweisführung mehr zu, als der
Durchfchnitt leihen kann und mag. Vom Gewiffen ausgehend
analyhrt er den fittlichen Procefs und kommt
beim kategorifchen Imperativ an, der darum abfolut
verpflichtet, weil er abfolute Werthe vorhält, nämlich
was dem innerften Wefen des Menfchen entfpricht und
dies ift das Sittliche. Wie die logifchen Gefetze für das
Denken, fo ift die abfolute Werthfehätzung des Sittlichen
ein Gefchenk des Weltgrundes. Daraus wird
entwickelt, dafs diefer Weltgrund einen einheitlichen
Weltzweck gefetzt haben muls, der die Sittlichkeit in
fich fchliefst, d. h. der Weltgrund mufs Perfon und gut
fein — Gott. So ift die Idee Gottes der gedanken-
mäfsige Ausdruck für das, was wir im Gewiffen erleben.
Das religiöfe Gefühl ift die Grundlage der Sittlichkeit.
Dafs wir zur Mitarbeit am göttlichen Weltziel benimmt
find, darin ift die Majeftät des Sittengefetzes und unfere
Würde begründet. Zum Schlufs des erften Capitels
hören wir, dafs diefe Wahrheiten ihren zutreffendften
Ausdruck in der chriftlichen Religion gefunden haben.
Weiter wird dargelegt, dafs die moderne Cultur die j
fittlichen Aufgaben infofern gefchädigt habe, weil die
noch unverdaute ausgedehntere Naturerkenntnifs und
die praktifche Verwendung der Naturkräfte den Sinn für
das Sichtbare gefördert und gegen das Sittliche vergleich-
gültigt habe. Die religiöfen Wahrheiten waren vielfach
in kindliche Naturanfchauung gekleidet und mit diefer
verlor man jene. Die Philofophie, trotz ernfter Wahr-
heitsforfchung und fittlicher Begeifterung, hat das nicht
verhütet; man verfuchte, die allgemeinften Begriffe, welche
die leerften find, als reale Principien zu faffen, während |
fie nur Hülfsbegriffe find, um dem Menfchen die Ueber- I
ficht über das Reale zu erleichtern. Im engen Anfchlufs
an Lotze's Metaphyfik wird die Willkür und Unklarheit
des Materialismus entwickelt und ihm gegenüber das
geiftige Leben als die einzige gewiffe Realität behauptet;
es ift nicht nebenfächliches Product eines todten Seins,
fondern Princip und Zweck alles Seins, dem der Naturmechanismus
als ein Syftem von Mitteln dient, als die
von Gott gefetzte Ordnung zur Realifirung des Guten.
Daher ftreitet die Naturerkenntnifs niemals gegen die
fittlich-religiöfe Wahrheit, fondern nur gegen deren
Einkleidungen- Schliefslich wendet fich Verf. gegen focia-
liftifche Gleichmacherei. Die fittliche Aufgabe kann in
jedem Beruf erfüllt werden; und gegen diefen Werth j
lind alle anderen Güter gering. Dafs aber jeder durch
feine Arbeit den täglichen Unterhalt finde, dazu müffen
alle mitwirken. Wenn die aufserordentliche Theilung
der Arbeit den Arbeiter zur Mafchine macht und ihm
die Freude der Arbeit raubt, fo foll auch hier der Zu-
fammenhang erklärt und durch Belebung der Religiofität
das fittliche Streben gegen die gröfseren Gefahren ge-
ftärkt werden. Auch von den höheren Schulen wird
gefordert, dafs fie vornehmlich durch Erweckung reli-
giöfer Gefinnung zu fittlicher Lebensführung vorbereiten.

Wir haben die Schrift mit fteigendem Intereffe gelefen
und find von dem fittlichen Ernfte derfelben wohlthuend
berührt worden. Beanftanden möchten wir nur die Bemerkung
(p. 107), dafs, weil die traditionelle religiöfe
Dogmatik den Geilt der Gebildeten nicht mehr befriedige,
eine gefunde, volksthümlichePhilofophie verbreitet werden
müffe. Diefe Aeufserung will ja verftanden fein in
Uebereinftimmung mit der wiederholt ausgefprochenen
Behauptung, dafs der Menfchheit das fittlich-religiöfe ;
Bewufstfein durch die chriftliche Offenbarung erft auf- 1

gegangen fei. Aber wir glauben, viele Gebildete werden
fich nicht anziehen laffen durch Philofophie, fondern
eher noch durch die kirchliche Gemeinfchaft. Und
andererfeits wiffen heute viele evangelifche Prediger,
dafs es nicht darauf ankommt, die traditionelle religiöfe
Dogmatik einzuprägen, fondern das fittlich-religiöfe Leben
zu wecken, wie es in Chrifto offenbart worden ift. Möchte
Verf. diefe kirchliche Arbeit unbefangen prüfen, fo wird
er da einen hoffnungsvollen Anfang finden, der zu bedeutend
ift, um ignorirt zu werden.

Herborn. Prof. D. Sachfse.

1. Spitta, Pfr. Privatdoc. Lic. Frdr., Luther und der evangelische
Gottesdienst. Vortrag. Halle, Niemeyer, 1884.
(40 S. 8.) M. —. 60.

2. Brüggemann, Pfr. Frz., Wünsche und Vorschläge zu der
beabsichtigten Revision und Ergänzung der landeskirchlichen
Agende. Vortrag, auf der Prediger-Konferenz
der Synode an der Ruhr gehalten. Effen, Bädeker,
1884. (48 S. gr. 8.) M. 1. 80.

3. Vorschläge für die Ordnung des Hauptgottesdienstes auf
Grundlage des Entwurfs einer Gottesdienftordnung
für die evang.-luth. Kirche der Provinz Schleswig-
Holitein. Von einem Mitgliede der fchlesw.-holft.
Gefammtfynode. Kiel, Lipfius & Tifcher, 1884. (16 S.
Lex.-8.) M. —. 30.

Die Nothwendigkeit einer gründlichen Reform der
evangelifchen Gottesdienfte wird immer allgemeiner gefühlt
. Ueber die dabei zu befolgenden Grundfätze, über
Wege, Mafs und Ziel jedoch gehen die Meinungen fehr
weit auseinander. Man wird daher in folchen Kirchengebieten
, welche nicht altüberlieferte, fefteingewurzelte
Formen befitzen, die nur da oder dort einer leifen
belfernden Hand bedürfen, in denen es fich vielmehr um
völligen Neubruch handelt, ficher gut thun, mit end-
giltigen liturgifchen Neuerungen noch fo lange zurückzuhalten
, bis über die grundlegenden Fragen ein gröfseres
Einverftändnifs erzielt fein wird. Die allerwärts in Gang
befindlichen mündlichen und fchriftlichen Verhandlungen
geftatten ja die Hoffnung, dafs wir nicht allzuferne von
diefem Ziele find.

Das erfte der drei zu befprechenden Schriftchen fucht
das Verftändnifs für diefe Fragen dem weiteren Kreis
der Gemeinde nahe zu bringen. Die beiden anderen
verdanken den Verhandlungen preufsifcher Provinzial-
fynoden über diefen Gegenftand ihr Dafein.

1. Der überaus frifche Ton, den Spitta in feinem
Vortrag anfehlägt, feine freimüthige Klarheit und edle
Wärme werden ihres Eindruckes auf die Zuhörer ficher
nicht verfehlt haben. Es ift eine Freude, feinen überall
auf gründlichen Studien ruhenden Ausführungen zu
folgen.

Mit Berufung auf Luther und feine kühnen Worte
tritt er zunächft dafür ein, dafs die Ordnung des Gottes-
dienftes eine Sache der chriftlichen Freiheit fei. In diefer
Beziehung erhebt er die Anklage: ,Ich fage aber nicht
zu viel, wenn ich behaupte, dafs die Kirche unferer Tage,
auch was die Grundvorausfetzungen des Cultus betrifft,
zurückgetreten ift hinter die Freiheit, welche Luther gepredigt
hat mit Wort und Werk'. Diefe Anklage erhebt
er eben fo fehr gegenüber einem engherzigen Archaismus
, als gegenüber jener afterproteftantifchen Philiftro-
fität, der die Kahlheit des ,cerimonienlofenl Gottesdienftes
Hauptdogma ift. Den vielgerühmten ,mafsvollen Confer-
vatismus' Luther's, hinter dem man moderne unproteftan-
tifche Unfreiheit zu decken fucht, Hellt er in das rechte
Licht, indem er ihn aus eben derfelben Freiheit erklärt,
die es ihm verftattete, unbefchadet feiner eigenen befferen
Ideen, fich doch ganz den Bedürfnifsen feiner Zeitge-
noffen anzupaffen.