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Ausgabe:

1885 Nr. 2

Spalte:

44-45

Autor/Hrsg.:

Oldenberg, Friedrich

Titel/Untertitel:

Johann Hinrich Wichern. Sein Leben und Wirken. 1. Bd., 4. u. 5. Buch 1885

Rezensent:

Schlosser, Georg

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Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 2.

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tigung feiner Würde durch die Sünde. Die Sünde macht,
da fie nur begriffen werden kann als eine freie That des i
Menfchen,dieMenfchenzuSchuldnernGottes. DasRechts- [
verhältnifs, welches diefem Zuftande entfpricht, drückt
fich aus in dem .Fluche' Gottes über die Sünde und der
Strafe (.diejenige Folge einer Handlung, in welcher der
durch fie vollzogene Bruch einer Ordnung lieh ihrem Urheber
felbft zum Nachtheile wendet'), die er dem Men-
fchen zu erfahren giebt. Gleichwohl unterfteht Gottes I
Zorn dem aufrechterhaltenen Zweckgedanken des Liebesraths
, demzufolge Gott ihn nur foweit wirkfam werden
läfst, als er die Verwahrung Gottes gegen die Solidarität
mit der Sünde fein mufs. Indem Gott feinen Liebesrath
als Heilsrath durchführt, fo bahrt diefer an fich ganz
freie Entfchlufs Gottes (.Gnade ) darauf, dafs der .Sünder
von feiner Sünde gefchieden werden kann'. In der Erfüllung
von Gefetz und verheifsung wird Chriftus derjenige
, der Gottes Liebe unter eben der letzteren Bedingung
wirkfam werden läfst. Bei diefer Gelegenheit
kommt K. auf die Trinität, die er entfprechend dem
.Bekenntnifs der ganzen Kirche' als eine immanente fafst.
Der etwas eilige .Rückfchlufs', den er hier zur Rechtfertigung
des .Bekenntnifses' vollzieht, enthebt ihn auch hier
noch der wichtigften Aufgabe aller Chriftologie, in Chrifto
Gott wirklich aufzuweifen. Dafs Chriftus Gott ift, das ;
bleibt eine ,Vorausfetzung'. Nachgewielen wird an der
Perfon Chrifti der Inhalt des Willens Gottes als Ver- i
gebungs- und Erlöfungswille. Die Lehre von der
,Perfon' Chrifti als folcher verläuft daher auch bei K. in
einer Unterfuchung der .Denkbarkeit' der Incarnation.
Er hndet eine Löfung des Problems, indem er den Gedanken
der Einigung .zweier Naturen' als wenig zutref-
fend bei Seite ftellt und eine .Wechfelwirkung zweier j
perfönlichen Bewegungen' conftatirt. Jefus'ift eine .Aus- !
nähme' unter den Menfchen, fofern in ihm die Gottheit
felbft .Träger' eines fich entwickelnden Menfchenlebens j
ift (die ,unerhndbare' Nachricht von der jungfräulichen 1
Geburt kommt dem letzteren Gedanken von Seiten der ;
Gefchichte zu Hülfe), deffen .Wahrheit' darin beruht, !
dafs die Gottheit fich nur in dem Mafse ganz Chrifto
als fein eigenes Wefen zu verftehen giebt, als derfelbe '
lieh ihr in freier Selbftbeftimmung als volles Organ ihres
Zweckes hingiebt. K. ift nicht Kenotiker, wenigftens j
fagt er nicht, dafs er es fei. Bleibt feine Conftruction 1
der .Perfon' Chrifti auf fich beruhen, fo fcheint mir die j
Entwicklung der Lehre von Chrifti Werk wieder eine
der glücklichften Partien. K. fafst Chrifti Aufgabe fehr t
richtig unter dem doppelten Gefichtspunkte auf, dafs er 1
fowohl der (bürgende Offenbarer' (nämlich der Liebe
Gottes), als der .bürgende Vertreter' (nämlich der Erlös-
barkeit des Menfchen) fei. Das find nicht zwei gefon-
derte Sach- oder richtiger Perfonleiftungen, fondern
eine und diefelbe, kraft deren es Gott möglich ift, die j
Sünde zu vergeben, ohne fich Etwas zu vergeben, und
uns, an die Sündenvergebung zu glauben. Chriftus mufs,
indem er Gottes Liebe geltend macht, zugleich Gottes
Zorn über die Sünde unverkennbar mit geltend machen. ]
,In der Geftalt eines Menfchenlebens läfst fich jene Auf- !
gäbe nur in der thatkräftigen Anerkennung des durch |
die Sünde bedingten Rechtsverhältnifses der Menfchheit [
zu Gott löfen. Eine folche Anerkennung vermag der
fchuldlofe Menfchenfohn nicht anders zu vollziehen, als I
durch bereitwilliges Eintreten unter den Fluch'. Indem
Chriftus die äufserfte Form desfelben in der That in 1
feinem Berufe, d. h. unter den Erfahrnifsen von Seiten !
der .Menfchheit', die er doch nur retten will, erträgt,
ohne weder an Gott, noch in feiner Liebe zu den Menfchen
irre zu werden, fo wird er der .bürgende Vertreter'
und der .bürgende Offenbarer'. K. bemüht fich fchliefs-
lich um ein Verftändnifs des Gedankens, dafs Chrifti
Leiftung eine ,Sühne' und einen .Erfatz' für Gott bedeute
in einer Weife, von der ich nur fagen kann, dafs fie
nicht aus dem Rahmen der Gefammtbetrachtung des

.Werkes' Chrifti heraustritt. Die noch folgenden Gedanken
über die Heilsaneignung mit ihrer gefchichtlichen
Vermittlung durch die Kirche oder durch Wort und
Sacrament und ihrem .übergefchichtlichen' Abfchlufs find
befprochen. Die ziemlich ausführliche Efchatologie, d. h.
die Lehre von dem Abfchluffe der Gefchichte und dem
Ziele des Einzelnen in feinem Zufammenhange mit der
Gefammtheit, bafirt wefentlich auf den Gedanken von
der metaphyfifchen Herrenftellung Chrifti und dem Ge-
fammtgefchöpf.

Giefsen. F. Kattenbufch.

Oldenberg, Friedr., Johann Hinrich Wichern. Sein Leben
und Wirken. Nach feinem fchriftlichen Nachlafs und
den Mittheilungen der Familie dargeftellt. IV. u. V.
Buch. Hamburg, Agentur des Rauhen Haufes, 1884.
(1. Bd. XVI u. S. 349—602. gr. 8.) M. 3. —

Mit diefem IV. und V. Buch ift der 1. Band diefer
Biographie beendigt. Er reicht bis in das Jahr 1848, alfo
bis an den Flöhepunkt der Wirkfamkeit Wichern's. Diefe
beiden Bücher fuhren uns vor allem in das innere Leben
des Rauhen Haufes ein. Wir fehen das Werk fenfkorn-
artig wachfen und fich ausdehnen. Bewundernswerth ift,
wie klar fchon vom erften keimartigen Anfang an vor
W.'s Seele die Grundzüge des gefammten Werkes ftanden,
von welch weittragenden Gelichtspunkten aus er auch
das Kleine und Einzelne ordnet, wie fich ihm allmählich
von feinem begrenzten Wirkungsgebiet aus die Grundgedanken
der inneren Miffion entfalten, und wie fich ihm
fo die Rettungsarbeit an den Kindern zu einer Pfianz-
fchule für die gefammte Arbeit der inneren Miffion ausweitet
. Das bringt ihn dann mehr und mehr in eine
fruchtbare Wechfelwirkung mit allen chriftlich-lcbendigen
Kreifen, auch mit dem edlen König Friedrich Wilhelm IV.
und feiner Regierung. Wie ein Fingerzeig der Vorfehung
gemahnt es uns, dafs er, der Mann, der fich zur Lebensaufgabe
gemacht hatte, die tiefen Schäden unferes Volkslebens
mit den Lebenskräften des Evangeliums und der
barmherzigen Liebe zu heilen, zur erften Audienz bei
dem Könige beftellt war am — 18. März 1848, und bei
feinem Einzug in Berlin vom Donner der Kanonen
empfangen wurde. Fls find höchft intereffante und lebensvolle
Bilder aus der Zeitgefchichte, welche uns in diefen
Capiteln geboten werden. Das F'effelndfte vor Allem
aber ift die Schilderung W.'s im Kreife der Kinder und
der Brüder des Rauhen Haufes. Da tritt er uns entgegen
als der Mann mit dem feurigen Herzen, als der gottbegnadigte
Pädagoge, der es wunderbar verftand, die Herzen
zu gewinnen und zu regieren, als der geniale ürganifator,
der das cornplicirte Gefüge des Rauhen Haufes nach
grofsartigen Gedanken zu ordnen wufste, als der Mann
der evangelifchen Freiheit, dem nichts mehr zuwider war
als Gefetz und Schablone.

Die Darftellung ift, wie wir es an 0. gewohnt find,
meifterhaft lebendig, plaftifch, anfehaulich. Man merkt
es ihr an, dafs fie auf genauefter perfönlicher Kenntnifs
beruht. Dabei ftanden ihm als treffliche Quellen die von
W. mit grofser Sorgfalt geführte Hauschronik, die Pro-
tocolle der Bruderconferenzen und Bruderverfammlungen
und des Verwaltungsrathes und ein reicher Schatz von
Briefen zu Gebote. Befonders werthvoll ift, was an Auszügen
aus Briefen W.'s an feine Gattin mitgetheilt wird.
Es ift ein erquickliches Bild, das wir daraus empfangen,
wie innig das Leben beider Gatten miteinander und
wiederum mit ihrem Berufe verwachfen war. Auch in
die fchweren Kämpfe, die W. mit feinem heftigen Naturell
zu führen hatte, wird uns ein Blick eröffnet, und wir lernen
verftehen, dafs der Mann, der fo ernft und aufrichtig mit fich
in's Gericht geht, ein Recht hat, der Zeit Bufse zu predigen
. Summa sianmarum: W. fteht am Schlufs diefes
Lebensabfchnittes als der Mann vor uns da, der berufen