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Ausgabe:

1885

Spalte:

615-616

Autor/Hrsg.:

Beck, J. T.

Titel/Untertitel:

Briefe und Kernworte. Hrsg. von J. Lindenmeyer und P. v. Zychlinski 1885

Rezensent:

Lemme, Ludwig

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Seite 1

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Beck, weil. Prof. Dr. J. T., Briefe und Kernworte. Hrsg.
von J. Lindenmeyer und P. v. Zychlinski. Gütersloh,
Bertelsmann, 1885. (280 S. gr. 16.) M. 3. —; geb.
M. 3- 75-

Die von Lindenmeyer mitgetheilten Briefe Beck's
find zum gröfsten Theil ausgezeichnet durch tiefgehende
chriftliche Einficht. Ich verweife auf den Brief S. 54 ff.,
der Anweifungen darüber giebt, wie fich ein Geiftlicher
Anfeindungen gegenüber verhalten foll, auf den Brief
S. 61 ff. über den Werth des Leidens, S. 58 ff. über das
Mitfterben mit Chrifto. Will man fehen, wie Beck tröffen
konnte, fo lefe man den Brief S. 71 ff., wie er erheben
und aufrichten konnte, S. 38 ff., wie er mahnen und i
ernftlich ftrafen konnte, S. 67 ff. Es ift zu bedauern,
dafs folche Briefe dem Herausgeber nicht in gröfsercr
Anzahl zur Verfügung geftanden haben. Unter den mitgetheilten
Briefen ift vielleicht der intereffantefte der
erfte, an die Aelteften der Baptiftengemeinde in Stuttgart
gerichtete: wird in diefem Briefe auch lange nicht
alles gefagt, was zur Vertheidigung der Landeskirche j
gegenüber dem Freikirchenthum gefagt werden mufste,
fo wird doch hinfichtlich des Werthes der beftehenden j
Kirche und ihres Verhältnifses zur Gemeinde der Gläubigen
vieles in ausgezeichneter Weife gefagt; doch möchte
ich faft bezweifeln, dafs der Brief auf die Baptiften einen
ftarken Eindruck gemacht hat, nachdem ihnen Beck in
dem erften Satz, mit dem er feine Ausführungen beginnt,
zugeftanden hat: ,Ich erkenne, wie Luther fchon, unfere |
beftehende Kirche nicht als eine Gemeinde Chrifti an,
ihre kirchliche Einrichtung nicht als eine völlig nach ]
dem Evangelium geordnete; es fehlt zum Theil an einer
evangelifchen Sacrament-Verwaltung, Gottesdienft-Ordnung
, Gemeinfchaft und Kirchenzucht, weil es an dem j
Fundament zu dem Allen fehlt, ohne das diefe Dinge,
wenn auch der apoftolifchen Kirche nachgemacht, todter,
leerer Schein wären, nämlich daran, dafs es eine freie j
Verbindung von Gläubigen wäre'. Charakteriftifch für |
Beck's einfeitigen Individualismus ift der Brief, in dem
er eine etwaige Landtagswahl ablehnt, S. 34 ff. Mag j
alles, was er über den Landtag als ein ,permanentes kri- j
tifches Schwatzinftitut' fagt, noch fo berechtigt fein, das
rein negative Verhalten zu den modernen ftaatlichen In-
ltitutionen, wie Beck es empfiehlt, zeigt doch, dafs Beck ,
in einfeitiger Weife im apoftolifchen Zeitalter, wie er es !
verftand, zu Haufe war, und dafs es ihm an der ethifchen
Würdigung der ftaatlichen und focialen Einrichtungen
der Gegenwart gebrach. Ein nur negatives Verhalten
der Chriften zu allem, was nicht direct dem Reich Gottes
entfprungen oder dem Wefen desfelben adäquat ift, ift
aber unmöglich — auch nicht nach dem neuen Tefta-
ment — das richtige fittliche Verhalten.

Die .Kernfprüche' beftehen aus Ausfprüchen und
Ausfprachen, die Beck in den Vorlefungen neben dem
eigentlichen Vortrag eingeftreut hat, die alfo nicht für
die Aufzeichnung beftimmt waren, aber von dem gegenwärtigen
Paftor in Pilgramsdorf, Paul von Zychlinski, aufgezeichnet
find. Darf ich hinfichtlich diefer Kernfprüche
einen Wunfeh ausfprechen, fo ift es der, dafs fie wefent-
lich befchnitten wären. Einzelne bieten nach den Beck'-
fchen Vorlefungen gar nichts Neues und konnten fortbleiben
. Andere lehnen fich in ihrer aphoriftifchen Tonart
fo eng an die Vorlefung an, dafs fie nur als Anmerkungen
zu diefer verwerthet werden durften, fo aber,
wie fie jetzt ftehen, in ihrer Vereinzelung vom Leibe los-
geriffenen Fetzen gleichen. Sehr vieles aber ift fo werthvoll
gar nicht blofs für die Kenntnifs Beck's, fondern für
die wirkliche Bereicherung chriltlicher Erkenntnifs, dafs
der Verluft desfelben entweder hinfichtlich des Inhalts
oder hinfichtlich der Form, in der es ausgefprochen
wird, zu bedauern gewefen wäre. Ich will als Probe
nur ein Paar Ausfprüche herfetzen : ,Die chriftliche Ethik
wird nur gedacht vom Standpunkt des Gefetzes als eine

fyftematifche Zufammenftellung von Geboten, Pflichten,
nicht aber vom Standpunkt des Geiftes als Lebenspädagogik
. Was GeifH Jetzt kommt wieder das Wort Zucht,
Disciplin. Sie foll den Geift erfetzen!' (Nr. 65). ,Die
in Chrifto vorhandene und fich offenbarende Gnade trägt
eine Lebensfubftanz in fich, das unbefleckte, unwandelbare
Wefen der überirdifchen Welt. Die Sündenvergebung
ift nur ein Theil; vielmehr das Leben gilt's'.
(Nr. 26). .Königreich — der Himmel! fragt darnach,
wie ihr hineingeht; es verwirklicht fich nicht in uns als
Reich. Wir müffen hineingeboren werden!' (Nr. 30).
,In allem hat der Herr fich ethifch durchgerungen. Jetzt
will man fich immer mit Chrifti Blut reinigen, ohne fich
ethifch zu reinigen'. (Nr. 72). Dafs manches Scharfe und
Harte mit unterläuft, wird Niemand, der Beck nicht als
unabhängiger Schüler gegenüberftcht, in Verwunderung
fetzen. Je höher mir Beck fteht, defto mehr bedauere
ich bei ihm den Mangel an Selbftethifirung, den es ver-
räth, dafs ihm eine gerechte Würdigung anderer, die der
eigenen Schablone nicht entfprachen, abging. Wenn
Beck in der theologifchen Literatur im Ganzen und
Grofsen nur ,das wogende Meer der grofsen 7ildv->t' zu
erkennen vermag, fo zeigt fich darin die Unfähigkeit
diefes biblifchen Monismus, biblifchen Lebensgehalt anders
als in der von ihm gewünfehten Form zu erkennen.
Hätte man nicht fortwährend diefe herben und lieblofen
Urtheile über alles, was nicht dem eigenen Geift ent-
fpricht, vor fich, fo könnte man ungetrübtere Freude
haben an dem geweihten chriftlichen Ernft, der fich in
der heiligen Hingabe an den Lebensgehalt der heiligen
Schrift forglich in den Bahnen des Reichs Gottes zu
halten bemüht ift.

Aus den S. 84 ff. mitgetheilten akademifchen An-
fprachen möchte ich, dafs kein Student der Theologie
die Worte unbeherzigt liefse, mit denen Beck eine neue
.Promotion' ins Tübinger "Stift eingeführt hat S. 87:
.Fliehen Sie den Wahn wie eine Peft, dafs echt wiffen-
fchaftliche Bildung möglich fei ohne Gemüths- und Charakterbildung
, ohne fittliche und religiöfe Durchbildung';
S. 89: .Recht ftudiren heifst recht fein und leben lernen,
befonders wenn als die Krone des Studiums Theologie
dafteht, Theologie freilich nicht als eine von der Mode
der Zeiten eingekleidete Puppe, fondern als die Wahrheit
aus Gott und zu Gott, wo der meditatio immer
die oratio und tentatio rechts und links zur Seite geht'.

Bonn. L. Lemme.

Dorner, Dr. J. A., System der christlichen Sittenlehre. Hrsg.
von Dr. A. Dorner. Berlin, Hertz, 1885. (XI, 560 S.
gr. 8.) M. 9. —; geb. M. 10. 50.

Die zahlreichen Verehrer des verewigten Berliner
Theologen werden es dem Herausgeber diefes Buches,
dem Sohne des Heimgegangenen, Dank wiffen, dafs er
die Vorlefungen über die chriftliche Ethik, mit welchen
Dorner eine lange Reihe von Jahren hindurch die ftudi-
rende Jugend in befonderem Mafse anzuregen wufste,
dem gröfseren Publicum zugänglich gemacht und damit
J die Abficht Dorner's zur Ausfuhrung gebracht hat, das
Ganze feiner fyftematifchen Theologie zu veröffentlichen.
Es tritt dem Lefer aus diefem Buche überall der wohl-
thuende Eindruck chriftlichen Ernftes und evangelifcher
Milde entgegen, die Dorner's Perfönlichkeit auszeichneten
, und man wird auf dem weiten Gebiete, welches es
behandelt, kaum einen Punkt finden, der nicht mit
Sorgfalt und Umficht und aus dem Mittelpunkte der
evangelifch-chnftlichen Lebensanfchauung erwogen wäre.
Andererfeits wird man weniger neue und fchlagende Gedanken
, als ruhige Erwägungen,—weniger entfeheidendes
Abfchliefsen der grofsen ethifchen Fragen, als weife Vermittlung
der Gegenfätze finden. Es haftet dem Werke,
obwohl es zum Theil von feinem Verfaffer zum Drucke