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Ausgabe:

1885

Spalte:

614

Autor/Hrsg.:

Schleusner, Georg

Titel/Untertitel:

Paulus Gerhardt, der evangelische Bekenner in Leid und Lied, ein Lebens- und Charakterbild im Sinne und Geiste Luthers, nebst erwecklichen Mitteilungen aus der Segensgeschichte der Gerhardt‘schen

Rezensent:

Schlosser, Georg

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613

Theologifche Literaturzeitung. 1885. No. 25.

614

liehen Werthe ift, liegt hier in der umfangreichften diefer
Feftfchriften vor, in Rietfchel's ,Luther und die Ordination
'. Als Refultat, und zwar meines Erachtens als
unwiderfprechliches, der mit äufserfter Akribie geführten
Unterfuchung ergiebt fich, dafs in der Lehre und
Praxis der luth. Kirche betreffs der Ordination zwei Perioden
zu unterfcheiden find, eine vor und eine nach
1535. In der erflen Periode ift die Ordination nur die
Einführung in ein beftimmtes geiftliches Amt. Der ganze
Ritus zerlegt fich in die 4 Momente 1) der Prüfung und
Erwägung der Würdigkeit und Tüchtigkeit der Perfon,
2) der eigentlichen Wahl, clectio, 3) der Confirmation oder j
Commendation vor der Gemeinde, bei welcher die nach
apoflolifchem Vorbilde beibehaltene Handauflegung nur
als äufserer Gestus der Bezeugung vor der Gemeinde
dient, dafs diefe erkenne, der auf welche Weife immer
Gewählte fei der ihr von Gott zugewiefene Diener am
Worte; und endlich als 4) Schlufs-Moment reiht fich an
die kirchliche Fürbitte für und über den Gewählten. Die
Ordination fällt alfo zufammen mit der Einführung, der
Introduction; fie galt immer nur für ein einzelnes Amt
und mufste demnach in allen ihren vier Momenten fich
wiederholen, fo oft ein Geiftlicher fein Amt wechfelte.
Eine Ucbertragung des ministerium verbi im Allgemeinen,
eine Einweihung und Einweihung in den geiftlichen Stand
der Gefammtkirche gab es in der erften Periode noch
nicht. Der Verfaffer weih im Anfchlufs hieran nach, wie
diefe kirchliche Introduction erft alimählich in immer weitere
Uebung kam, bis fie in den Bugenhagen'fchen Kirchenordnungen
(152g ff.) als ordnungsmäfsig eingeführt
auftritt. Die erfte Spur einer verbuchten Einführung der j
Ordination im jetzt gebräuchlichen Sinne des Wortes, 1
d. h. als einer P.rmächtigung im Allgemeinen, das Wort
Gottes zu predigen und die Sacramente zu verwalten,
welche blofs einmal, vor der Uebernahme des erften
geiftlichen Amtes zu vollziehen ift, findet der Verf. in
der von Franz Lambert von Avignon 1526 abgefafsten 1
Reformatio ecelesiae Hassiae, in welcher ein Capitel das 21.) I
de Ordiuatione ministrum ecelesiae per orationetn et
inanun111 iiiipositionem handelt. Bei dem Scheitern diefer
ganzen Kirchenverfaffung fchtiterte auch die darin geplante
Ordination. Erft mit dem Jahre 1535, wie aus
einem merkwürdigen Brief Luthers an den Gothaer
Pfarrer Myconius vom 15. Decbr. d. J. nachgewiefen und
deffen volles Verftändnifs hiermit zum erften Male er-
fchloffen wird, tritt die Ordination im Unterfchied von
der Introduction hervor als befonderer kirchenregiment-
licherAct und alsfolcher fowohl unwiedcrholbar, als auch
an Mehreren zugleich vollziehbar, und endlich nicht an
ein einzelnes Amt geknüpft, fondern fogar ,auf eine zukünftige
Condition', alfo abgefehen von einem augenblicklich
vorliegenden Bedürfnifs. Wie Luther diefe Ordi- ■
nation veranlafst, wie er fie gegen das anfängliche Wi-
derftreben Bugenhagen's durchgeführt hat und für Anderes
muffen wir auf die Schrift felbft verweifen. In einem
weiteren Abfchnitt ,Die Wirkung der kirchenregiment-
lichen Ordination auf die Berufung und die Prüfung der
Diener am Wort' macht der Verf. intereffante Mittheilungen
aus dem mit Juli 1537 beginnenden Wittenberger
Ordinandenverzeichnifs (deffen vollftändige Veröffentlichung
fehr zu wünfehen wäre), auch hinfichtlich des
feitherigen Berufes der Ordinirten, wo wir, neben den
eigentlichen Theologen und den ihnen naheftchenden
Cantoren, auch Stadtfchreiber, Setzer und Drucker, Buchbinder
, Schufter und Schneider u. f. w. vertreten finden. 1
Eine Darftellung des Freder'fchen Ordinationsftreites 1555
und eine Prüfung der feither aufgeftellten Theorien von I
der Ordination, bef. der Kliefoth'fchen und Zezfchwitz'-
fchen fchliefst die inhaltsreiche Arbeit ab. — Von einzelnen
geringen Verfehen, refp. finnftörenden Druckfehlern
, find zu verzeichnen: S. 60 Z. 7: Lübeck'fchen (ft.
Lübe'fchcn); S. 78 Z. 5: Zoe. 24 (ft. 26); ib. Z. 11 : sni
(lt. tut)', S. 86: der Brief Luther's an Graf Philipp von

Naffau ift nicht aus dem Jahre 1528, fondern 1538, wie
das vom Ref. eingefehene Original deutlich hat, der
Brief hätte demnach in der dortigen Reihenfolge eine
andere Stelle zu finden, und ift ein Beweis dafür, wie
lange der Theologenmangel dauerte.

Die übrigen in der Sammlung enthaltenen Schriften
find: D. H. Schmieder, Luther der Gottesmann, Ge-
fpräch zwifchen Vater und Sohn (eine feine Ausführung
des im Titel aufgeftellten Thema's; — S. 12 Z. 4 ift ft.
,fchön' wohl ,fein' zu lefen!); H. Stein, Gefch. des Lutherhaufes
(auf Grund gedruckter und handfehriftlicher
Quellen erfchöpfend behandelt und bis auf die jetzige
Zeit herabgeführt), und Jon. Abraham, Joh. Mathefius,
der treue Jünger Luther's (eine fleifsige Zufammenftellung
des in verfchiedenen Druckwerken zerftreuten Materials;
follte der Verf., was zu wünfehen wäre, einmal an eine
ausführliche Darftellung des Lebens und der Wirkfam-
keit des Mathefius gehen, fo dürften ihm die reichhaltige
Brieffammlung der Gothaer Bibliothek fowie die Copial-
bücher im Stadtarchiv zu Joachimsthal mancherlei Stoff,
auch über bis jetzt unferes Wiffens noch unbekannte
Verkommenheiten im Leben des M. liefern).

Oberrad. Ivnders.

Schleusner, Diak. G., Paulus Gerhardt, der evangelifche
Bekenner in Leid und Lied, ein Lebens- und Charakterbild
im Sinne und Gcifte Luthers, nebft erweck-
lichen Mitteilungen aus der Segensgefchichte der Ger-
hardt'fchen Lieder, im Lutherjubiläumsjahre dem deut-
fchen evangelifchen Volke dargeboten. Wittenberg,
Wunfehmann, 1883. (70 S. 8.) M. —. 75.

An Biographien P. Gerhardt's, auch an guten und
trefflichen, ift, wie Verfaffer felbft betont, kein Mangel.
Was Verf. trotzdem vermifst, ift ein eigentliches Volksbuch
über den grofsen Liederfänger, ein Buch, das auch
,auf die Segensfrucht, die des Sängers Lied bisher in
der Chriftenheit getragen hat', genauer eingehe. Ein
folches will er in der vorliegenden Schrift bieten. Er
hat darin das fpärlich fliefsende Material über die Lebens-
umftände P. G.'s fehr forgfältig zufammengetragen und
gefichtet. Vor allem hat es fich der Verf. angelegen fein
laffen, die bekannten Berliner Vorgänge in das rechte
Licht zu ftellen und die Handlungsweife P. G.'s pfycho-
logifch zu begründen und zu rechtfertigen. Er hält fich
dabei von parteiifcher Einfeitigkcit frei und bemüht fich,
auch den Gegnern gerecht zu werden. Eine befonders'
eingehende Würdigung läfst er dem ,Liedesausdruck
feines evangelifchen Bekennerthums' zu Theil werden,
und trägt zu feinem Lob und Preis Zeugnifse von
allen Seiten herbei. Was dann zur Illuftration der Bedeutung
, welche P. G.'s Lieder im Leben der Kirche und
des Volkes gewonnen haben, erzählt wird, ift faft ganz
dem letzten Bande von Koch entnommen, — wobei, beiläufig
bemerkt, die Art, wie S. 62 das Bunfen'fche Citat
eingeführt ift, das Mifsverftändnifs nicht ganz ausfchliefst,
als ob Bunfen felbft das doch von ihm verpönte Urtheil
gefällt habe. Gerade in diefer Partie aber, auf die der
Verf. fo befonderen Werth legt, tritt es meines Erachtens
befonders deutlich entgegen, dafs das Buch trotz
aller Vorzüge im einzelnen doch eben kein Volksbuch
ift. Dazu fehlt es an der rechten Plaftik der Sprache, der
rechten Fülle der Erzählung; die Darftellung ift oft zu
nüchtern und zu reflectirt, kurz es mangelt der rechte
Volkston. Für folche, welche eine kurze, aber zuver-
läffigc Quelle, fich über P. G.'s Leben und Bedeutung
zu unterrichten, fuchen, ift es jedoch beftens zu empfehlen.
Giefsen. Gg. Schloffer.