Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1885 Nr. 23

Spalte:

569-571

Titel/Untertitel:

Verhandlungen des XXIII. Kongresses für innere Mission zu Karlsruhe vom 23. bis 25. Septbr. 1884 1885

Rezensent:

Schlosser, Georg

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

569 Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 23. 570

riellen Bewegungen abzuleiten, abgefchlagen hat. Unier
Verf. nun, welcher in crfter Linie gegen den rohen Materialismus
feine Vertheidigung richtet, unterläfst es, ähnlich
wie auch andere Beftreiter des Materialismus, davon
die verfeinerte materialiftifche Anficht fcharf und confe-
quent zu unterfchciden und ihr die Beachtung zu fchen-
ken, welche fie verdient. So erwähnt er die Annahme
Häckel's, dafs den materiellen Atomen felbft pfychifche
Thätigkeiten zuzufchreiben find, nur gelegentlich, um fie
a limine abzuweifen. Gegen unfere Forderung, dafs bei
der Bekämpfung des Materialismus die bezeichnete Un-
terfcheidung gemacht werden muffe, darf auch nicht eingewandt
werden, dafs ja die Materialiften felbft zwifchen

Zieten-Schwerin Recht, wenn er meinte, das fei Speife
mehr für die Starken, als für die Schwachen, und wenn
Oberamtmann Huzel im gleichen Sinne davor warnte,
das Ziel fo hoch zu ftecken. Uas gilt für die Arbeit im
einzelnen, und Bodelfchwingh hat es bewiefen, dafs ihm
der nüchterne praktifche Sinn dafür in ganz eminentem
Mafse eignet; aber ohne diefe fchöpferifche Einbildungskraft
feiner Liebe, die ihm ftets die ganze Noth und die
ganze Hilfe in glühenden Farben vor die Seele malt,
wäre er fchwerlich der Bahnbrecher geworden , als der
er vor uns fleht.

Neben der fo concreten und gegenwärtig die Gemüther
bewegenden Frage der Fürforge für die Vaganden
Erfcheinungen des geiftigen Lebens und den räum- j ten hatte das Thema der zweiten Hauptverfammlung:
liehen Bewegungen der Materie in unklarem Schwanken ,Wie kann die volksthümliche Wirkfamkeit der
bald ein Verhältnifs der Identität, bald nur ein Verhält- I evangelifchen Kirche durch die innere Miffion
nifs der Unterordnung der erfteren unter das Syftem der 1 gefördert werden?1 fchweren Stand. Das Referat des
letzteren conftatiren. Denn gerade, wenn die Materialiften I perfönlich abwefenden Generalfuperintendenten Dr.Nebe
in diefem Punkte nicht klar und confequent find, mufs aus Münfter verftand es, Sinn und hohe Bedeutung der
die Polemik gegen fie um fo mehr diefe Klarheit fchaffen. t Frage in Herz und Gewiffen erfaffender Weife ins Licht
Nur wenn die Pofitionen eines Gegners vollftändig aufge- zu ftellen. Ausgehend von den in fo hohem Mafse volks-
klärt find, ift ja der Sieg über ihn eine wirkliche Errun- j thümlichen Gaben, welche der evang. Kirche eignen: dem
genfehaft. ! kleinen Katechismus Luther's, der Predigt in der Volks-

In den beiden letzten Capiteln, welche fich gegen ! fprache, den herrlichen Liedern unferer Kirche, dem
den dritten und vierten Grundfatz des Materialismus evangelifchen Pfarrhaus, der evang. Gewiffensfreiheit und
wenden, treten die oben notirten Schwierigkeiten weni- 1 evang. Vaterlandsliebe, fordert er die Kirche auf, neue
ger zu Tage; hier wendet fich der Kampf gegen die j Wege zu gehen, um diefe Schätze wieder dem Volke

lieb zu machen. Dazu könne die innere Miffion ihr
wefentlich helfen: a. durch das Zeugnifs ihrer Liebeswerke
, b. durch directe Evangelifation, c. durch die
Preffe, d. durch ihre Vereinsorganifation. In der von P. Dr.
Hefekiel aus Bückeburg eingeleitete Discuffion wurde
neben anderem befonders das Bedürfnifs der Laienpredigt
betont, und dies fammt allen übrigen Vorfchlägen
dem Centralausfchufs zur weiteren Erwägung und Verarbeitung
übergeben.

Sehr reichhaltig waren die Specialconferenzen,
in denen in erfreulicher Weife die Laien zum Wort
kamen. Allen Refpect vor Referaten, wie fie von Direc-
tor Dr. Stark aus Stephansfeld bei Strafsburg über ,den

negativen Anflehten von Sittlichkeit und Religion, welche
auch ein verfeinerter Materialismus aufrecht erhalten mufs,
fofern er ja eben den Menfchen, auch feinem geiftigen
Wefen nach, als reines Naturwefen auffafst. Befonders
in diefen Abfchnitten, in welchen freilich auch noch
manche Einzelheiten weiterer Aufklärung und Erörterung
bedürftig wären, berührt wohlthuend der fittliche Idealismus
, welcher das ganze frifch und anziehend gefchrie-
bene Schriftchen durchweht.

Tübingen. Max Reifchle.

Verhandlungen des XXIII. Kongresses für innere Mission zu

Karlsruhe vom 23. bis 25. Septbr. 1884. Hrsg. vom : Kampf wider die Trunkfucht', fodann von Fabrikant

Sekretariate des Kongreffes. Frankfurt a/M., Schriftenniederlage
des Evangel. Vereins, 1884. Will, 200 S.
gr. 8.) M. 2.—

Die innere Miffion fängt an, ihr Knechtsgewand abzulegen
und vor der grofsen Welt und den Grofsen der
Welt in Ehren zu kommen, das ift der Eindruck, den
man aus dem Bericht über den äufseren Verlauf des Con-
greffes gewinnt. Das hat ja feine zwei Seiten, und bringt
feine grofsen Gefahren. Aber bis jetzt hat's damit, fcheint
mir, noch keine Noth, und wir haben nur Urfache, uns
der Gotteswege dankbar zu freuen, welche die alte Ver-
heifsung wieder wahr gemacht haben: ,Wenn Jemandes
Wege dem Herrn Wohlgefallen, fo macht er auch feine
Feinde damit zufrieden'. Viele Befucher des Congreffes

Steinheil aus Rothau und von Rathsherr Karl Sarafin
ausBafel über das nicht minder brennendeThema: .Frauenarbeit
und Familie nwohl'erftattet wurde, und vordem,
wasfonftvon Männern des praktifchen Lebens weiter dazu
geredet worden ift. Wie wohlthuend muthet das warme
Zeugnifs von Chrifto aus folchem Munde an, wie heil-
fam ift für theologifche Geiftesfülle die Correctur und
Ergänzung durch die nüchterne Erfahrung des praktifchen
Lebens! Die Dinge fehen fich eben doch zwifchen
den qualmenden Schornfteinen der Fabrik und in den
Räumen der Werkftätte etwas anders an, als vom Pfarr-
ftuhl aus. Wenn einmal von beiden Ausgangspunkten
aus die Noth unferes Volkes ernftlich ins Auge und an-
gefafst wird, dann kann's noch gut werden. Das ift der
Eindruck, den man aus diefen Berathungen empfängt.

haben dem Referenten bezeugt, dafs der Congrefs auf der j Aufserdem hat namentlich die Behandlung des letzteren
Höhe feiner Aufgabe geftanden habe an Reichhaltigkeit und I Themas werthvolle Ergebnifse in Aufftellung concreter
Wichtigkeit der behandelten Gegenftände, an Tiefe der j Ziele und Forderungen zu Tage gefördert,
chriftlichen Auffaffung, an Fülle des Geiftes. Diefen Ein- j Im Gegenfatz dazu mufs Ref. bekennen, dafs das
druck empfängt man auch aus dem Bericht. Voran fteht i Referat von Pfarrer Lic. Weber aus M.-Gladbach über
da das am erften Tag erftattetc Bodelfchwingh'fche Jünglingsvereine' trotz des warmen feelforgerlichen
Referat über .Arbeitercolonien und Verpflegungs- 1
ftationen'. Diefe ungefügen 23 Thefen, die B. autgeftellt
hatte, eine immer länger, wie die andere, darum auch
im Vortrag je nur mit einem kurzen Wort erläutert, wie
ein entfeffelt'er Waldftrom, fo braufen fie daher mit der
unwiderftehlichen Energie einer machtvollen, vom Feuer
der Liebe durchglühten Perfönlichkeit, die aus ihnen redet,

fo tieffinnig und tiefinnig in der Erforfchung der letzten
Gründe der Noth, fo hochgemuth und hochgeftimmt in
der Erfaffung der letzten Ziele, und dabei doch den
meifterhaften Organifator verrathend. Wohl hatte Graf

Ernftes, der daraus entgegentönt, ihm doch etwas von
der rechten Nüchternheit und evangelifcher Weitherzigkeit
zu entbehren fchien. Die Art, wie da, trotz der
Verwahrung ,vor methodiftifchen Bekehrungsfabriken',
von der Bekehrung der Jünglinge in den Jünglingsvereinen
geredet, und der Vorfchlag einer Unterfcheidung
von bekehrten und unbekehrten Mitgliedern, von welchen
die erfteren Subjecte und die letzteren Objecte der Arbeit
fein follten, ohne ernftliche Zurückweifung befprochen
wird, ift doch recht bedenklich; und Aeufserungen wie
die über das Turnen: ,Zwar ift die leibliche Uebung im