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Ausgabe:

1885 Nr. 23

Spalte:

567

Autor/Hrsg.:

Clüver, J.

Titel/Untertitel:

Die Bender‘sche Lutherrede und ihre Gegner 1885

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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567

Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 23.

568

Stoff behandelt, unumwunden anzuerkennen. Um zu
einer Verffändigung zu gelangen, liegen die Ausgangspunkte
zu weit aus einander, aber fo weit fieht man fich
doch nicht von dem Verf. getrennt, dafs kein gegenfeiti-
ges Verftändnifs mehr möglich wäre.

Darmftadt. K. Köhler.

Cliiver, Paff. J., Die Bender'sche Lutherrede und ihre Gegner.

Bonn, Cohen & Sohn, 1885. (104 S. gr. 8.) M. 1. 40.

Man kann zweifelhaft fein, ob es angezeigt war, wenn
der Verfaffer, Paftor zu Mühlhaufen in Thüringen, noch
einmal gerade über Bender's Lutherrede das Wort nahm.
Clüver hat ja gewifs Recht, dafs der Streit, der fich an
diefe Rede geknüpft, eine allgemein-kirchliche Bedeutung
hatte: derfelbe war fymptomatifch fehr lehrreich für
jeden, der die Zuftände unferes gegenwärtigen deutfch-
evangelifchen Kirchenthums zu verftehen bemüht in.
Aber der Anlafs war doch nicht fo ausgiebig, dafs der
Streit in feiner erften Form nicht mit Recht allfeitig für
abgethan erklärt wäre. An der Weife, wie C. die Rede
behandelt hat, wird Bender fich freuen und freuen auch
wir uns. Denn C. ift ernftlich bemüht, Bender's kurze,
in ihrer rhetorifchen Pointirung für feine Gegner zumal
hier und dort wirklich mifsverftändlichen Ausführungen
in das richtige Licht zu rücken. Aber nicht um
defswillen würde ich die Schrift hier weiterer Beachtung
empfehlen. Das gefchicht vielmehr, weil C. felbft
manch treffliches Wort fagt fowohl zur Beleuchtung
der Probleme, die Bender angerührt hat, als auch der
Stimmungen und Strömungen, die unfer kirchliches
Leben dermalen beherrfchen. Unter Zurechtftel-
lung der Aufchauungen der Gegner Bender's über Bender
's Meinung befpricht C. im Anfchluffe an Bender und
doch in einer Weife, die von folidem Studium und eigenem
felbftändigem Urtheile zeigt, nacheinander 1) das
chriftliche Lebensideal, 2) den Pietismus, 3) das Bekennt-
nifs. Er zeigt dabei, dafs er in der Vorrede mit Recht
von fich fagen durfte, er möchte mit feiner Schrift keiner
Partei, fondern lediglich dem kirchlichen Frieden
dienen. Zumal der 2. Abfchnitt, mit feinem fehr gerechten
Urtheil über den modernen Pietismus, die Stärke des-
felben ganz ebenfo als feine fchweren Mängel, ift
mufterhaft innerhalb einer Schrift wie diefer. Ein Schlufs-
urtheil behandelt noch apart die Kampfesweife, die Bender
gegenüber geübt worden. Wer diefe betrachtet,
wird befonders trübe Gedanken bekommen über die heutigen
journaliftifchen Vertreter der Intereffen der
Kirche. Es ift ein geringer Troft, dafs die Parteien felbft
in einer Reihe von Vertretern thatfächlich beffer find,
als ihre zum Theil unberufenen Wortführer in der Preffe
fie erfcheinen laffen.

Giefsen, 18. Septbr. 1885. F. Kattenbufch.

Stiiven, Herrn., Darstellung und Kritik der Grundsätze des
Materialismus. Ein Beitrag zur Bewahrung und Erneuerung
des deutfchen Geifteslebens. Hamburg, Seip-
pel, 1885. (55 S. gr. 8.) M. -. 75.

Der Verfaffer beftimmt felbft auf S. 4 den Zweck
des Schriftchens mit den Worten: er beabfichtige, ,die
Haltlofigkeit der materialiftifchen Weltanfchauung in ihren
entfcheidenden Pofitionen darzulegen und den Nachweis
zu führen, dafs die Refultate der von Kant in feiner Kritik
der reinen Vernunft angeftellten Unterfuchung für alle
Zeiten unerfchüttert feftftehen, jeden Verfuch die Welt
zu entgeiften oder die Materie über den Geift, das Sinnliche
über das Nichtfinnliche und Ideale zu fetzen von
vornherein zu Schanden machen und alle Verftandesan-
griffe auf Sittlichkeit und Religion als unberechtigte Ge-
bietsüberfchreitungen zurückweifen'. Der Verf. ftellt fich
diefe Aufgabe in der Ueberzeugung, dafs der Materialis-

; mus auch in unferen Tagen noch keineswegs vollftändig
überwunden ift; und man wird diefer Ueberzeugung Recht
i geben müffen, wenn man unter Materialismus in einem
weiteren Sinn alle Verfuche verfteht, das Geiftcsleben
! dem Naturmechanismus unterzuordnen und imZufammen-
hang damit die Gültigkeit ethifcher und religiöfer An-
! fchauungen zu negiren. In unferem Schriftchen werden
nun, nach einem kurzen Ueberblick über die Gefchichte
des Materialismus, welcher fich, wie das ja auch kaum
anders fein kann, wefentlich an Fr. A. Lange anfchliefst,
die Behauptungen des Materialismus in die 4 Grundfätze
zufammengefafst: 1) Die einzige wirklich exiftirende Sub-
ftanz ift die Materie; 2) alle geiftigen Vorgänge find nur
Thätigkeit der Materie; 3) die Freiheit des Willens und
die Unbedingtheit eines fittlichen Gcfetzes ift zu leugnen;
4) die religiöfen Vorftellungen find ein Irrwahn; in 4 Ca-
piteln wird alsdann eine Widerlegung diefer 4 Grundfätze
unternommen. In richtiger Weife fetzt dabei der Verf.
mit der Beftreitung des zweiten jener Grundfätze ein,
welche fich dann im 2. Capitel zu einer kritifchen
Befprechung des erften Grundfatzes erweitert. Wie fchon
das obige Citat aus dem Vorwort ankündigt, bemüht
[ fich Stüven, in principieller Weife, im Anfchlufs an die
' Kant'fche Erkenntnifstheorie, fich mit der bekämpften
' Anficht auseinanderzufetzen; und fo werden denn die
Hauptfätze aus der Kr. d. r. V. in kurzer, jedoch nicht
immer ganz präcifer Formulirung, ins Feld geführt.
Vorangeftellt wird mit Recht der als ein Ergebnifs der
Kant'fchen Unterfuchungen feftftehende Satz, dafs die
Materie felbft nur ein Gegenftand unferer Vorftellung
ift. Daran fchliefst unfer Verf. den Nachweis, dafs Empfindung
, Verftandes- und Vernunftthätigkeit fich nicht
; aus materiellen Vorgängen erklären laffe, und zwar gleichfalls
mit Anlehnung an Kant, wobei aber Argumentationen
fich einmifchen, welche nicht direkt aus Kant
entnommen find. Das ganze Beweisverfahren Stüven's
aber fcheint mir in Einem Punkte der vollen Klarheit
zu entbehren: Wenn wir die Thefis aufrechterhalten
, dafs die geiftigen Thatfachen fich nicht aus
den räumlichen Bewegungen der Materie ableiten, fich
nicht auf die letzteren reduciren laffen, fondern dafs
diefe und jene ,verfchiedene Genera, verfchiedene Er-
fcheinungsgebiete' find, fo behaupten wir damit eine
kaum des Beweifes bedürftige, heutzutage auch kaum
mehr beftrittene Wahrheit. Wir haben aber damit auch
nur den roheften Materialismus zurückgewiefen, für welchen
die Beftandtheile der Materie ,nicht etwa ein an
fich denkender Stoff find, fondern Körper, die fich nach
rein körperlichen Principien bewegen' (Lange, Gefch. des
Mat. 3. Aufl. I, S. 123). Aber wenn diefer rohefte Materialismus
abgewiefen ift, erhebt fich nun erft die zweite
wichtigere Frage: laffen fich die pfychifchen Thatfachen
nicht den materiellen Vorgängen wenigftens in
der Weife unterordnen, dafs fie doch nur eine andere
Seite, eine (allerdings eigenartige) Function der materiellen
im Raum fich bewegenden Atome und dabei eben-
denfelben Gefetzen mechanifcher Nothwendigkeit wie die
Raumbewegungen der Atome unterworfen find? Diefe
letztere Schwenkung des Materialismus follte fcharf ins
Auge gefafst und hiegegen vor allem die Front gerichtet
werden; denn hier liegt die gröfste Schwierigkeit und
die letzte Entfcheidung des Kampfes. Darum handelt
es fich, feftzuftellen, dafs die Thatfachen des geifligen
Lebens mit ihrer Einheit des Bewufstfeins und ihrer Con-
centration im fühlend-wollenden Ich den Thatfachen des
Naturgefchehens in ihrer mechanifchen Gefetzlichkeit in
dem Sinne ungleichartig find, dafs fie dem Verfuch einer
Einordnung in das Syftem der blofs mechanifchen Gefetzlichkeit
Widerftand leiften (vgl. Dilthey, Einleitung in
die Geifteswiffenfchaften I, S. Ii ff.). Man darf nicht
glauben, auch die fe Ungleichartigkeit gegenüber einem
verfeinerten Materialismus genügend erhärtet zu haben,
wenn man die Verfuche, geiftige Thätigkeiten aus mate-