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Ausgabe:

1885 Nr. 23

Spalte:

555-556

Autor/Hrsg.:

Charteris, A. H.

Titel/Untertitel:

The New Testament sriptures: their claims, history, and authority. Being the Croall lectures for 1882 1885

Rezensent:

Lemme, Ludwig

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555

Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 23.

556

ift. Eine durchgreifendere Umarbeitung hat der in Anmerkungen
beigegebene textkritifche Apparat erfahren,
fofern der Ertrag der neueren englifchen Textkritik
(Tregelles, Weftcott-Hort) allenthalben zur Geltung gebracht
, auch cod. — {Rossani) verglichen wurde. Wir
muffen diefen Theil der Weifs'fchen Arbeit eine wahre
Bereicherung des Commentars nennen. Möge denn in
diefer feiner neuen Geftalt das Werk des verewigten
Meyer dankbare Benutzung finden.

Leipzig. Wold. Schmidt.

Charteris, Prof. A. H., D. D., The New Testament scrip-

tures: their claims, history, and authority. Being the
Croall lectures for 1882. London 1882, James Nisbet
& Co. (XII, 227 S. gr. 8.) 7 s. 6 d.

Charteris hat fich durch feine bisher vollftändigfte
Quellenfammlung zur Gefchichte des neuteftamentlichen
Kanons (Canouicity) ein Verdienft erworben. Aber wenn
er von jener Arbeit hier die Refultate für die Werth-
fchätzung des Kanons zu ziehen verfucht, fo war im
Grunde genommen jene Quellenfammlung hierfür völlig
überflüffig; denn Charteris' Schrifttheorie ift fertig vor
jeder gefchichtlichen Unterfuchung. Es ift das im We-
fentlichen die Schrifttheorie der alten reformirten Dog-
matik. Die gefchichtlichen Darlegungen von Charteris
gehen überall darauf aus, diefe zu beftätigen; von unbefangener
Erforfchung des Thatbeftandes ift keine Rede.
Diefe Vorlefungen mögen uns zeigen, wie in Edinburgh
die Fragen nach Werth und Bedeutung des Schriftkanons
vor einem gröfseren Publicum behandelt zu werden pflegen
: in die Verhandlungen der deutfehen Theologie find
fie nicht im Stande einzugreifen.

Die Frage, was denn die neuteftamentlichen Schriften
felbft zu fein und zu gelten beanfpruchen (Lect. I), lohnt
fich ficherlich der Unterfuchung. Aber nach den Formeln
der dogmatifchen Schrifttheorie vindicirt Charteris einfach
den neuteftamentlichen Schriften Anfpruch auf veritas, uni-
tas, auetoritas. Gewifs bilden fie auch meiner Auffaffung
nach eine Einheit. Aber genügt denn nicht die Erkennt-
nifs, dafs der neuteftamentliche Schriftkanon thatfächlich
eine innere Lebenseinheit ift? Mufs denn diefe Erkenntnifs
nothwendig durch die Behauptung geftützt werden, dafs
die Schriften Anfpruch auf Einheit erheben, während
doch offenkundig ift, dafs eine Reihe derfelben ohne jede
Beziehung zu den übrigen entworfen ift?

Nach Charteris erheben die neuteftamentlichen Schriften
Anfpruch auf kanonifche Geltung, und diefe allein.
Die Beobachtung, dafs in demSchriftthum aufserchriftlicher
Religionen ähnliche Anfprüche wiederkehren, erklärt er
für unrichtig. Er kennt trotz Luc. 1, 1. 2, 1 Cor. 5, 9,
2 Cor. 7, 8. 10, 16 keine Spuren von Evangelien oder
Briefen, die den unferen gleichwerthig gewefen und verloren
gegangen find. Er hält feft an einer Reihe folcher
Behauptungen, deren Hinfälligkeit und Ueberftüffigkeit
bei uns längft erkannt ift.

Die traditionelle Anficht vom neuteftamentlichen
Kanon fällt für Ch. zufammen mit dem Glaubenszeugnifs
der gefammten Chriftenheit, und zwar fo fehr, dafs die
blindere oder bedingtere Annahme des Kanons den Stufen
in der Entwickelung des chriftlichen Glaubens ent-
fpricht. Indem Luther kritifche Urtheile über einzelne
Theile des Kanons abgab und fo eine Berechtigung der
individuellen chriftlichen Freiheit zur Kritik des Kanons
begründete, hat er ynagnified the Christian to the exclusion
of Cliristendom' (!S. 213). Die Lehre von Graden und
Stufen der Infpiration wird abgewiefen mit der unüberlegten
Behauptung: , There is not in Scriptum any trace of
one writer subordinating himself to another' (S. 40).

Das Schwergewicht legt Charteris auf die Zeugnifse
über den Kanon. Aber eine Gefchichte der Bildung des
Kanons erhalten wir ebenfowenig als eine Entwickelung

der Vorftellungen über Kanonicität, und wozu auch, wenn
alles von vorn herein fertig war? In der Beugung der
Galatcr unter die apoftolifche Auctorität nach Empfang
des Galaterbriefs fieht Charteris fofort die gefetzliche Ka-
nonifirung diefes Briefes. Nach ihm war das neue Tefta-
ment fchon vor dem Ende des 2. Jahrhunderts das Buch,
wie wir es jetzt haben; ja er fagt S. 96 f.: Indeed I be-
lieve it may now be said tliat the debate does not extend
beyond the middle of the Century, so tliat zue can prove the
books of our New Testament to have been in the hands of
men zuho had met and talked zuith the apostles of the lord.
1 believe it can be proved tliat the church zuas built lipon
the revelation of God which zve have in the New Testament
'. Und fo müffen denn alle kirchlichen Zeugen fich
wohl oder übel in das Schema hineinpreffen laffen, die
uranfängliche kanonifche Geltung unferer neuteftamentlichen
Schriften und diefer allein zu beweifen. Das Hebräer
-Evangelium hat niemals kanonifche Geltung gehabt.
| Die kirchliche Vorlefung von Schriften wie dem Barna-
I basbrief beweift nur liturgifche, aber keine kanonifche
I Geltung. Niemals ift der Clemensbrief unferen kanoni-
I fchen Büchern gleichgeftellt. Die Gnoftiker haben nicht
! daran gedacht, irgendwelche ihrer apokryphen Schriften
den neuteftamentlichen an die Seite ftellen zu wollen,
fie wollten fie höchftens ergänzen und erweitern u. dergh,
! beftätigen aber die volle Kanonicität derfelben. Wenn
| er S. 134 fein Urtheil über die Gnofis im Ganzen darin
zufammenfafst: ,of the Gnostics as a zuhole we may say
tliat they tend to confirm the position of the canonical books',
fo zeigt fich darin die völlige Unkenntnifs darüber, dafs
gerade die Gnofis die Grofskirche dazu geführt hat, fich
für die Berufung auf die apoftolifche Tradition an die
tradirten apoftolifchen Schriften anzulehnen. Papias hat
nicht daran gedacht, die mündliche Tradition dem fchrift-
lichen Evangelienbericht überzuordnen oder auch nur
an die Seite zu ftellen; die bekannte diesbezügliche
i Aeufserung des Papias legt Charteris dahin aus, dafs ihm
| die Auslegung der heiligen Schrift durch traditionelle
Nachrichten höher ftand als die gnoftifche Auslegung
des Evangeliums durch gnoftifche Ideen. Ich will offen
geliehen, dafs ich Charteris' gefchichtlichen Gang nur
bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts genauer verfolgt
habe; es wird mir das jeder mit der Gefchichte des Kanons
Bekannte verzeihen, wenn er erfährt, dafs Ch. S. 134
bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts gefunden hat, dafs
unfer neuteftamentlicher Kanon in feiner gegenwärtigen
Geftalt ,is the centre of life alike in the orthodox Church
and in the Gnostic sects outside of ib. Für Ch. giebt es
eben einen Kanon und Zeugnifse für denfelben, aber
keine Gefchichte des Kanons. Ift denn aber die Gefchichte
des Kanons nothwendig ein Peind desfelben?

Bonn. L. Lemme.

Eugippii Opera. Pars I: Excerpta ex operibus S. Augustini
, recensuit et commentario critico instruxit Pius
Knoell. [Corpus scriptorum ecclesiasticorum lati-
norum, vol. IX.] Wien, Gerold's Sohn, 1885. (XXXII,
1149 S. gr. 8.) M. 22. —

Von Eugippius, dem Verfaffer der vita S. Severini,
welcher im erften Viertel des 6. Jahrhunderts fchrieb,
befitzen wir noch eine der auch von Fulgentius von
Rüspe hochverehrten gottgeweihten Jungfrau Proba in
Rom gewidmete Sammlung von Excerpten aus den ver-
fehiedenften Schriften Auguftin's, welche asketifchen

| Zwecken diente und, wie die zahlreichen vorhandenen

i Codices zeigen, fehr häufig abgefchrieben und viel ge-
lefen worden ift. Die editio prineeps, von Johann Herold
beforgt, erfchien 1542 zu Bafel unter dem Titel D. Eugypii

abbatis Aphricani Thesauri ex d. Augustini operibus selecti.
Für die gegenwärtige, von dem fchon durch anderweite

| Arbeiten vortheilhaft bekannten Wiener Gymnafialpro-