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Ausgabe:

1885

Spalte:

477-479

Autor/Hrsg.:

Ahlfeld, Heinrich

Titel/Untertitel:

D. Friedrich Ahlfeld, weiland Pastor zu St. Nikolai in Leipzig. Ein Lebensbild 1885

Rezensent:

Lechler, Gotthard Victor

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Theologifche Literaturzeitung. 1885. Mr. 20.

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bens erweifen fich als von Einflufs. Aber fie flehen in
keinem lebendigen Zufammenhang. Die Kirche fällt
auseinander in eine Anzahl von kirchlichen Verwaltungen,
denen vor allen Dingen der Ausbau der territorialen
Selbftändigkeit am Herzen liegt und die eben darum in
die Händel der grofsen und kleinen Dynaftengefchlechter
verwickelt werden, die fie umgeben und zu ihren Zwecken
auszubeuten fuchen. Das Laienfürltenthum einerfeits und
die Städte andererfeits haben das geiftliche Fürftenthum
überflügelt; auch bei der Königswahl find die Bifchöfe
nicht mehr mafsgebend, fondern in der Minorität: unter
den Kurfürften find nur drei geiftliche. Selbft die Ent-
wickelung der geiftigen Kräfte der Nation liegt nicht
mehr in erfter Linie in ihren Händen, fondern überwiegend
in denen des Laienthums, vor allem in den Städten.
Das ,prie(terliche' Stadium der deutfehen Gefchichte ift
damit für immer abgefchloffen.

Man hat von Niebuhr's hiftorifchen Arbeiten gefagt,
fie gehören zu den klaffifchen Büchern, die niemals überwunden
werden, auch wenn fie in jedem einzelnen Satz
widerlegt wären. Man darf dies mit einigem Recht auch
von Nitzfch's Deutfcher Gefchichte fagen, die ja wefentlich
in Niebuhr's Geift gefchrieben ift: es ift eben der Ver-
fuch. die Nation in der Fülle ihrer Arbeit und ihres
Schaffens zu verfolgen, was fie fo bedeutfam macht.
Dafs es auf einem Gebiet wie dem des deutfehen Mittelalters
hier bei einem erftmaligen Wurf nicht ohne Ver-
irrungen, Willkürlichkeiten und allzu kühne Combina-
tionen abgehen kann, ift felbftvcrftändlich. Die Fälle
find gar nicht feiten — und fie mehren fich namentlich
von da an, wo Nitzfeh nicht mehr in der bisherigen
Weife Quellenftudien für den ganzen Umkreis der deutfehen
Gefchichte gemacht hat, vom Ende der ftaufifchen Zeit,
manchmal recht bemerklich — dafs das Einzelne nicht
durchaus zuverläffig ift oder dem heutigen Stand der For-
fchung nicht ganz entfpricht: find doch auch bald 6
Jahre vergangen, in denen er zum letzten Mal feine
Deutfche Gefchichte gelefcn. Aber die grofsen Grundgedanken
und die ganze Methode diefer Gefchichts-
Ichreibung werden doch immer wieder die Arbeiter anziehen
und fruchtbar bleiben für die Zukunft.

Halle a. S. Karl Müller.

D. Friedrich Ahlfeld, weiland Paftor zu St. Nikolai in
Leipzig. Ein Lebensbild. Mit (Lichtdr.-) Portrait.
Halle, Mühlmann, 1885. (IV, 199 u. Gedicht-Anhang
58 S. gr. 8.) M. 4. 50.

Das Buch hat zwei Verfaffer. Der eine ift Heinrich
Ahlfeld, d. Z. Paftor in Caffel, zum Paftor und Superintendenten
in Hannover defignirt; der andere Johannes
Röntfch, Lic. Theol. und Paftor zu Noffen. Der Sohn
erzählt von der Kindheit und Jugend, bis zur Berufung
nach Halle (1810—1847); der Schwiegerfohn, vom Vaterhaufe
her mit Ahlfeld verbunden, Confirmand des Paftors,
fpäter als Mitglied des Prediger-Collegiums zu St. Pauli
von ihm zum geiftlichen Amte mit vorbereitet, behandelt
die 4 Hallifchen Jahre und die Wirkfamkeit in Leipzig
, bis zum Ruheftand und Tode (1847—1884.) Die
erftere Aufgabe war fchwer wegen Mangels an eigenhändigen
Aufzeichnungen, die letztere wegen überreichen
Stoffs. Das Ganze ift in vier Abfchnitte gctheilt: Die
Jugendzeit, Im geiftlichen Amt, Die Jahre in Halle (1847
—1851), Die Jahre in Leipzig (1851 —1884). Diefe Biographie
zeichnet fich vor vielen in den letzten Jahren
erfchienenen Lebensbildern von Männern unferes Jahrhunderts
(z. B. Bunfen, Blumhardt, Löhe, D. Wichern)
durch Befchränkung des Stoffes aus, und in der Be-
fchränkung zeigt fich erft der Meifter, während die zur j
Verfügung geftandenc Correfpondenz fowie Mittheilungen
von Freunden ohne Zweifel viele Verfuchung zur Weitläufigkeit
dargeboten haben. Für einen Mann wie Ahl-

. feld ift in der That ein Raum von nicht voll 200 Seiten
; das äufserfte Mafs von Einfchränkung. Eher dürfte ein
Lefer, der den Mann herzlich lieb gehabt hat und fein
' Gedächtnifs in Ehren hält, je und je etwas vermiffen.
Wir werden Gelegenheit finden, dies nachzuweifen. — Die
Jugendzeit A.'s kennen zu lernen, ift für Jeden von Werth
und den Meiften wohl neu. Er ift aus dem Kern des
Volks entfproffen, auf dem Lande (in der Mansfelder
Gegend) herangewachfen, mit Anfchauung der Natur genährt
, eine mens sana in corpore sano. Er hat zwar, wie
er felbft fpäter fagte, ,eine köftlich fröhliche Jugend verlebt
'; deffen ungeachtet hat er ,das Joch in feiner Jugend
getragen', und das ift ihm zu gute gekommen. Er war
| für das Handwerk benimmt, und follte, wie der Vater,
Zimmermann werden. Nur die Mutter hat es, unter
treuer Beihülfe des Ortspfarrers, Bobbe, ermöglicht, dafs
Fritz das Gymnalium zu Afchersleben, fpäter zu Deffau,
( befuchen durfte, — unter Entbehrungen und Hunger;
dennoch fprudelte der Jüngling bald über von PYöhlich-
keit und Jugendluft. Hatte er als Dorfjunge den Märchen
der ,Mutter Horn' mit freudiger Spannung gelaufcht,
fo hiefs es in Deffau jetzt: ,Antfeld erzähle was!'; der reife
Mann war ftets ein Meifter im Erzählen. Als Student
in Halle mehr von Rofenkranz und namentlich Heinrich
Leo und Ullmann, als von Tholuck angezogen,
trat der feurige Jüngling in die ,deutfche Burfchenfchaft'
ein. Wie es kam, dafs der Hauslehrer zu Reupzig, der
der Gymnafiallehrer und Infpector in Zerbft, der Rector
in Wörlitz, welcher zugleich Hilfsgeiftlicher war, das Netz
feiner bisherigen rationaliftifchen Anfchauung allmählich
zerrifs und zur Klarheit und Kraft des Glaubens durchdrang
, darüber möchte man wohl, wenn es thunlich ift,
ein genügenderes Bild fich wünfehen; denn was S. 37
43 f. zu lefen ift, befriedigt doch nicht ganz. Wie fchon
in Aisleben fein muthiges Eintreten in den Kampf
gegen die Trunkfucht, zumal der Schiffer, manche Gemüther
empörte, zeigen einige ergötzliche Proben aus
anonymen Briefen, die Ahlfeld erhielt. Auf einen fichtbareren
Porten wurde der ,Domprediger' von Alsleben
; geftellt, als er ftatt des feines Amtes entfetzten Wisli-
cenus zum Pfarrer der Laurentiuskirche in Halle ernannt
wurde. Hier hatte er erklärten Widerftand zu überwinden.
Und es ward ihm gegeben, durch einfache Predigt, ohne
Polemik, durch fein charaktervolles, packendes Wort,
durch nie wankende Treue zu fiegen, manche Herzen
aus der Gemeinde und den Studirenden zu faffen und
für das Reich Gottes zu gewinnen. Der Sturm des
Jahres 1848, die Cholera 1849, mufste, da Ahlfeld für
den Thron und die confervativen Intereffen mannhaft
einftand, und während der Seuche fich als unermüdlich
treuer Seelforger bewährte, zur Verbreitung und Vertiefung
feines Einfluffes mitwirken. Die Schilderung der
Hallifchen Zeit ift vermöge ihrer Lebendigkeit und An-
fchaulichkeit als befonders gelungen zu bezeichen.

Die Berufung Ahlfeld's nach Leipzig, mit allem, was
ihr voranging und zunächft folgte, z. B. dem Dresdener
Colloquium, ift in vielfeitig befriedigender Weife erzählt.
Bei Darftellung der 30jährigen Wirkfamkeit als Pfarrer
zu St. Nicolai in Leipzig ift es dem Biographen hauptfächlich
darum zu thun, feine paftorale Perfönlichkeit
im Rahmen feiner Wirkfamkeit als Prediger und Seelforger
vorzuführen. Dies ift denn auch in anerkennungs-
werther Weife gelungen. Was aber mehr, als gefchehen,
zu beachten war, das ift die Stellung, welche Ahlfeld
als hervorragende Perfönlichkeit in der öffentlichen Meinung
Leipzigs je und je eingenommen hat. S. 182 f.
wird erzählt, wie er in Leipzig Boden gefunden hat, wie
einmal während eines Aufenthaltes in Norderney fchänd-
liche Gerüchte über ihn ausgefprengt wurden, wie dies
aber nur eine geharnifchte Gegenerklärung des Magiftrats
und warme Bezeugungen unbeirrten Vertrauens der Gemeinde
zur Folge hatte. Wenn aber eben dafelbft behauptet
wird, die Stellung des Stadtraths, als Patron,