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Ausgabe:

1885

Spalte:

429-431

Autor/Hrsg.:

Witte, Leop.

Titel/Untertitel:

Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck‘s. 1. Bd. 1799 - 1826 1885

Rezensent:

Meyer, Ernst Julius

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furt war ein Sammelpunkt für evangelifche Flüchtlinge I Bildung vereinigt, ein Polyhiftor erften Ranges, viel zu
aus aller Herren Länder, das Stadtarchiv bietet, foviel fubjectiv und eklektifch, um ein Mann des Syftems oder
mir bekannt, eine reiche Fülle urkundlichen Materials; einer beftimmten Partei zu fein, der Sprachenvirtuos und
eine Gefammtdarftellung der Flüchtlingsgemeinden in j vor Allem der mächtige chriftliche Lebenszeuge und
Frankfurt, wie z. B. Mörikofer die Schweiz behandelte, j Lebenswecker, der in brennender Liebe für Chriftum und
oder eine weitere Ausführung diefer Skizze, beides i für die Menfchheit Taufenden ein Führer zum Evange-
wäre gleich willkommen. i num geworden ift — im Knaben und im Jüngling bildet

Qf . -ri cri,ntt er uc^ vor m höchft bezeichnender Weife. Sehr wohl-

btuttgart. 1 n. ocnort. thuend wirken die Geftalten, die verföhnend in den Sturm

und Drang des leidenfchaftlich bewegten Jugendgemüths
Witte, Superint. Prof. Infp. Leop., Das Leben D. Friedrich eingreifen, obenan der höchft originelle, würdige Prälat
August Gotttreu Tholuck's. I. Bd. 1799—1826. Mit dem von Diez und der edle .Patriarch' von Kottwitz, dem

Bilde Tholuck's aus dem Jahre 1825 und einem Fak-
fimile aus feinem Tagebuche von 1815. Bielefeld,
Velhagen & Klafing, 1884. (VII, 478 S. gr. 8.). M. 7.—

Tholuck in der ,wahren Weihe des Zweiflers' als feinem
geiftlichen Vater ein fchönes Denkmal in rührender Dankbarkeit
fetzt. Nächft diefem ift es befonders Neander,
der Tholuck in feinen Studienjahren nahe tritt und einen

Eine Biographie von Tholuck ift bei der mannigfach : wohlthätigen Einflufs auf ihn ausübt, während Schleier-
complicirten Individualität desfelben und bei den über- | macher ihm in hohem Grade unfympathifch ift, was
aus reichen Beziehungen, in denen der feltene Mann ge- j übrigens auf Gegenfeitigkeit beruht; in dem fpäteren
Banden hat, keine leichte, aber jedenfalls eine fehr inter- collegialifchen Verhältnifs zwifchen Beiden macht fich
effante und lohnende Aufgabe; intereffant ebenfo wegen die Antipathie Schleiermacher's gegen Tholuck, die Beide
der höchft eigenthümlichen Begabung Tholuck's und der 1 nach Seiten ihrer Ironie und ihres Witzes einander vieloriginellen
innern Gefchichte desfelben, als wegen des j leicht zu verwandt waren, um harmoniren zu können, in
bedeutfamen Einfluffes, den er auf die religiöfe Entwick- | fehr unerfreulicher Weife geltend, als es fich namentlich
lung in der evangelifchen Kirche diefes Jahrhunderts als j um die Creirung Tholuck's zum Doctor der Theologie
Mann der Wiffenfchaft und noch mehr als Mann des handelt.

Lebens in den weiteften Kreifen geübt hat. Der Verf. ! So intereffant diefe Partien über die Jugendzeit
hat fich diefer Aufgabe mit grofser Liebe und Hingebung Tholuck's, fpeciell diejenigen über feinen Verkehr mit
unterzogen. Das umfaffende Quellenmaterial, über das Prälat von Diez und Baron von Kottwitz find, fo würden
zu verfügen er in der glücklichen Lage ift, hat er mit diefelben unfers Erachtens wefentlich an Ueberfichtlichkeit
vielem Fleifs gerammelt und gründlich durchforfcht. gewonnen haben, wenn der Verf. fich noch mehr be-

Der vorliegende erfte Band umfafst die Zeit feiner fchränkt und z. B. der Verfuchung widerftanden hätte,
Kindheit und Jugend bis zu dem Zeitpunkt, wo der unter ein ausführliches Bild von dem religiöfen Leben Berlin's
Arbeit und Schmerzen früh gereifte Mann in die Glanz- '. zur Studienzeit Tholuck's zu geben, das bereits aus an-
periode feines Lebens, den Höhepunkt feiner Wirkfam- dem Darftellungen hinlänglich bekannt ift, und das Le-
keit eintritt und, wie es in dem minifteriellen Berufungs- bens- und Charakterbild des Baron von Kottwitz zu zeich-
fchreiben heifst: ,zur Beförderung eines gründlichen theo- nen, das eben erft Jacobi und Baur eingehend dargeftellt
logifchen Wiffens und einer gediegenen Frömmigkeit' I haben und das hier keine neue Beleuchtung erfährt, auch
nach Halle berufen wird, unter heftigem Widerfpruch der bei den ausgeprägten Zügen diefer Geftalt nicht wohl er-
Einen, zur lebhaften Freude der Andern, bei feinem fahren kann. Nicht minder, dünkt uns, könnten die fehr ausWeggang
von Berlin von Hegel mit den Worten verab- ; führlichen Auszüge aus den Schriften Tholuck's gekürzt
fchiedet: .Gehen Sie hin und bringen Sie ein Pereat dem werden. Da die Biographie mit Recht für einen weiten Lefer-
alten Hallifchen Rationalismus'. 1 kreis, auch für Laien, beftimmt ift, und da theilweife Th.'s

Mit befonderer Sorgfalt hat der Verf. die innere Schriften, namentlich die älteren, feiten geworden find,
Entwicklung des jugendlichen Tholuck von feiner Kind- fo ift es gewifs nur dankenswerth, dafs der Verf. eine
heit an verfolgt und läfst uns auf Grund der gerade hier Analyfe derfelben giebt, und in ihr Verftändnifs
befonders reichlich fliefsenden Quellen tiefe Blicke in i einführt; doch würde es zu diefem Zwecke genügen,
ein merkwürdig gährendes, bis zur Abnormität eigen- | die Haupt- und Grundgedanken derfelben darzu-
thümliches Jugendgemüth thun. Es ift überaus beweg- j legen, und auf die Refultate fich zu befchränken, ftatt
lieh und ergreifend, zu fehen, wie der Mann, der berufen j auch die Entwicklung zu geben, wie der Verf. übrigens
war, feine dem Evangelium entfremdeten Zeitgenoffen '■ mit grofser Sorgfalt und eindringendem Verftändnifs thut.
zu tieferer Erkenntnifs der Sünde und der Gnade zu Die epochemachende Bedeutung der erften Schriften
führen, durch die fchwerften Seelenkämpfe, durch falt Th.'s tritt Einem dabei lebendig entgegen; gelungen ift
dämonifche Anfechtungen hindurchgeht, die ihn nicht befonders die Würdigung der Bedeutung des Commen-
felten bis zur Verzweiflung, bis zu wiederholten Selbft- tars zum Römerbrief.

mordsverfuchungen treiben und in denen fich fein tief- i Von befonderem Intereffe find die mitgetheilten
religiöfes, aber leidenfchaftlich.es, den Sonnenfchein chrift- Correfpondenzen Tholuck's, des Virtuofen der Freundlicher
Elternliebe fchmerzlich entbehrendes, nach gött- fchaft, mit verfchiedenen hervorragenden Freunden: Rieh,
licher und menfehlicher Liebe und Freundfchaft dürftendes Rothe, Jul. Müller, Rud. Stier u. A. Die fchwär-
Gemüth hindurchringt; nicht minder ift's höchft intereffant, ; merifche Art der Freundfchaften jener Zeit findet in diefen
die geittige Entwicklung des reichbegabten, mit enormem Briefen einen charakteriftifchen, zum Theil pietiftifch ge-
Sprachentalent ausgeftatteten, phantaftifchen und doch färbten Ausdruck. Charakteriftifch ift infonderheit für
dabei gelegentlich kühl reflectirenden, in den hetero- den beiderfeitigen theologifchen Standpunkt die Corre-
genften Studien und der buntetten Leetüre fich ergehen- fpondenz Tholuck's mit dem ihm innigft befreundeten
den Knaben und Jünglings zu verfolgen, der feine Tage- Stier; während diefer, namentlich in feiner Stellung zur
bücher in allen möglichen, wie der Verf. ihm nachrechnet, ; heiligen Schrift, den Standpunkt ftrenger Orthodoxie in
nach und nach in 19 verfchiedenen Idiomen, mit befon- ; feiner energifchen Weife vertritt, neigt Tholuck, dem
derer Vorliebe in orientalifchen Sprachen, führt, und das ; ftets ein entfehiedenes Element verftändiger Kritik eigen
in dem Alter vom 14. bis zum 16. Jahre! Der zukünftige gewefen ift und der bei aller pofitiven Gläubigkeit und
Tholuck, der unendlich bewegliche Geift mit dem eigen- perfönlicher Ergriffenheit von Chrifto nie ein kirchlich
thümlichen Gemifch von Phantafic und Witz, von Naive- ; Orthodoxer im ftrengen Sinne des Wortes gewefen ift,
tat und Reflexion, der Mann des vielfeitigften Wiffens, in verfchiedenen Punkten zu einer freieren Anfchauung.'
der mit pofitiver Gläubigkeit alle Elemente moderner Die feine und fcharfe Beobachtungsgabe, wie den tref-