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Ausgabe:

1885 Nr. 16

Spalte:

372-373

Autor/Hrsg.:

Kahnis, Karl Friedr. Aug.

Titel/Untertitel:

Ueber das Verhältniss der alten Philosophie zum Christenthum 1885

Rezensent:

Möller, Wilhelm

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37i

Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 16.

372

Händen den Germaniften ausliefern und maffenhaft
Dinge aufnehmen oder beibehalten laffen, die gegenwärtig
nun einmal falfch oder unverständlich find? Und wie
kann man hinterdrein diejenigen fchmähen, welche den
von der Commiffion felbft aufgestellten Kanon nach
feinem Wortlaut gehandhabt wiffen wollen? Wenn freilich
die Probebibel, wie Schlotttnann S. 12 den voreiligen
Beurtheilern' verfichert, die erfte Bearbeitung des
Luthertextes ist, in welcher die wirklich abgestorbenen
fprachlichen Elemente, die jetzt allgemein entweder nicht
verstanden oder mifsverftanden werden, planmäfsig be-
feitigt find (!!) — dann haben wir in der That nichts
weiter zu bemerken.

Eine ganz andere Kategorie von Gegnern hat Prof.
Schlottmann im zweiten Theil feiner Brofchüre zu bekämpfen
, nämlich folche, denen die Probebibel noch viel
zu viel geändert hat und die nur eine ,allmählich auf
gefchichtlichem Wege vollzogene', unter allgemeiner
Uebereinftimmung aller Urtheilsfähigen erfolgte Revision
gestatten wollen. Diefer Anficht ift durch die oben erwähnte
öffentliche Erklärung der Herren Kliefoth und
Luthardt ein für weite Kreife mafsgebender Ausdruck
verliehen worden. Gegen fie wendet fich Schlottmann,
zum Theil in ziemlich fcharfem Tone, S. 28 ff. der Brofchüre
; der letzte Abfchnitt, S. 60 ff. polemifirt bef. gegen
die Brofchüre von Pastor Haack in Schwerin und bringt
fönst noch Allerlei ,zur ferneren Verständigung'. Die
von Kliefoth und Luthardt in der Ev.-luth. KZ. veröffentlichte
Antwort auf Schlottmann's Brofchüre hat nun
allerdings mittlerweile gezeigt, dafs von einer Verständigung
' mit diefen Gegnern kaum die Rede fein kann.
Jene Antwort giebt in aller Deutlichkeit einen höchst
lehrreichen Auffchlufs darüber, was nach der Auffaffung
der Evang.-luth. KZ. unter dem Schlagwort von der
,Kirche des reinen Worts, der reinen Lehre' u. f. w. zu
verstehen ist. Diefes ,Wort' ift nicht etwa der möglichft
forgfältig ermittelte Inhalt des Grundtextes, fondern
fchlicfslich eben der Wortlaut der lutherifchen Ueber-
fetzung. Auf ihm beruht der Bekenntnifsftand der Gemeinde
, ihre Erbauung, kurz der Bestand der Kirche.
Seine Confervirung ift daher die oberste Pflicht; die Pflicht
fortgefetzter Schrifterforfchung kommt daneben erst als
etwas fecundäres, als eine Art geistiger und geistlicher
privater Luxus in Betracht, von dem man freilich nicht
recht begreift, warum er dann von allen Dienern der
evangel. Kirche gefordert wird. Dafs wir in der Beur-
theilung diefer Anfchauungen mit Prof. Schlottmann
einig gehen, bedarf keiner befonderen Verficherung. Wir
können aber noch mehr fagen: in diefer Polemik entwickelt
Schlottmann in Betreff der Nothwendigkeit einer
durchgreifenderen Revifion der Lutherbibel Grundfätze,
mit denen man nur einigen Ernft zu machen braucht,
um den Wünfchen der im ersten Theil der Brofchüre bekämpften
Gegner fast durchaus gerecht zu werden. So
wenn Schlottmann zu Hagai 2, 7 (Luther: aller Heiden
Trost; Probebibel: Köstlichstes) bemerkt: ,dergleichen
flehen zu laffen, wäre, da es doch dem Gedanken nach
richtig und biblifch ift, unbedenklich, wenn die Bibel
nur ein Spruch- und Lofungsbuch wäre, aus dem man
fich Einzelnes nach Bedürfnifs zur Erbauung herausnimmt
. Soll fie aber von den dazu fähigen Gemeindegliedern
fo viel als möglich im Zufammenhang gelefen
und verstanden werden können, fo ift eine Berichtigung
nothwendig' u. f. w. (S. 41). Vergl. auch S. 50: ,Es dürfte
fich aber doch empfehlen, im Intereffe nicht der Gelehrten
, fondern der ganzen Gemeinde das ,Sinnftörende' in
etwas weiterer Bedeutung mit Einfchlufs auch des ,Sinnvermindernden
' zu faffen. Dem folgen eine ganze Reihe
trefflicher Belege und Bemerkungen, wie fie einem pro-
teftantifchen Theologen wohl anstehen, der in erster Linie
nicht nach dem Gewohnten, felbft nicht nach dem Erbaulichen
, fondern nach dem Wahren zu fragen hat.
Nicht minder haben wir die Auseinanderfetzung Schlott-

1 mann's mit Pastor Haack fast durchweg mit warmer Zu-
I ftimmung lefen können. Sobald Prof. Schlottmann dazu
hilft, dafs die dort von ihm vertretenen Grundfätze
praktifche Geltung erhalten, wird er eine grofse Zahl von
Gegnern des Revifionswerks zu Freunden desfelben
machen, denn die Meisten wollen sicher nichts anderes,
als was er felbft S. 96 fo fchön als den Zweck der Revifion
bezeichnet, ,manche unnöthigen Hindernifse und
Anfitöfse felbft für den treuen frommen Bibellefer aus
dem Wege zu fchaffen und die Herrlichkeit des deutfehen
Schriftworts, die einst zur Verbreitung des reinen Evangeliums
. . . wefentlich beitrug, den Söhnen unferer Zeit
zugänglicher zu machen'.

Je länger der Streit über die Probebibel währt, desto
mehr tritt nach der Anficht des Referenten auch die
eigentliche Wurzel des Streits zu Tage. Es ift dies die
Discrepanz zwifchen dem urfprünglichen Auftrag zur Revifion
und den viel weitergehenden Bedürfnifsen nach
einer folchen, die fich im Lauf der Arbeit herausgestellt
haben. Der urfprüngliche Auftrag wollte in der Hauptfache
einen gereinigten Luthertext. Die Mitarbeiter am
Werke aber fahen Dank dem Wahrheitsfinn, der fie bc-
feelte, gar bald, dafs man dabei nicht stehen bleiben,
dafs man als ,revidirte Bibel' nicht einen Text bieten
könne, der die Refultate 30ojähriger Schriftforfchung fo
gut, wie ganz ignorirte. Da aber die Erinnerung an den
urfprünglichen Auftrag daneben noch immer fortwirkte,
fo entstand jener unglückfelige Zwiefpalt zwifchen Sollen
und Dürfen, der zahlreiche noch fo wohl motivirte Ver-
befferungsanträge zu Falle brachte und fchliefslich ein
Refultat zu Tage förderte, das nach rechts und links
Niemanden recht befriedigen konnte. Wer nun meinen
kann, dafs diefer Zwiefpalt, an dem das Revifionswerk
noch gegenwärtig krankt, durch die Rückkehr zum urfprünglichen
Auftrag gelöst werden könne, mit dem wollen
wir nicht weiter rechten. Wir unfererfeits halten uns an
die eigenen Worte der Commiffion und können danach eine
Lösung des Zwiefpalts nur von einer folchen Fortfetzung
der Revifion erwarten, die den Doppelkanon ,richtig und
verständlich' aus einer blofsen Theorie in die Praxis
überfetzt.

*

Tübingen. E. Kautzfeh.

i Kahnis, Senior Domhr. Dr. Karl Friedr. Aug., Ueber
das Verhältniss der alten Philosophie zum Christenthum.

Leipzig, Dorffling & Franke, 1884. (IV, 84 S. gr. 8.)
M. 1. 50

Der Verfaffer kehrt mit diefem Schriftchen zum Inhalt
feiner Erftlingsdiffertation zurück, die damalige
Löfung im Wefentlichen festhaltend, in der Ausführung
bereichernd. Die Frage fordert immer wieder zur Beantwortung
heraus, fo gewifs fie die eine Seite des
grofsen Problems enthält, welches uns für das gefchicht-
lichc Vcrftändnifs der grofsen Zeitenwende gestellt ist.
Eigenthümliche Schwierigkeiten aber liegen fchon in der
Fragstellung, da alte Philofophie und Christenthum jedenfalls
fehr ungleichartige Gröfsen find. Diefc Schwierigkeiten
aber werden für uns noch dadurch erhöht, dafs
wir gewohnt find, in der gefchichtlichen Betrachtung das
Chriftenthum uns fo vor Augen zu stellen, wie es eben
als gefchichtliche Grofse in der römifch-griechifchcn
Culturwelt Geftalt gewonnen hat, das heifst aber, wie
es eben unter fehr wefentlicher Mitwirkung auch der
Ideen der alten Philofophie fich — was die theoretifchc
Seite betrifft — zur theologifchen Weltanfchauung entwickelt
hat. Wir hätten daher gewünfeht, dafs der
Herr Verf. zunächst genauer, als es gefchieht, zu präci-
firen verfucht hätte, was ihm denn das Christenthum an
fich, als Blüthe und Product der biblifchen Offenbarungsreligion
, fei, damit nicht der Frage nach dem Verhält-
I nifs der alten Philofophie zum Chriftenthum fich unver-