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Ausgabe:

1885 Nr. 1

Spalte:

16-21

Autor/Hrsg.:

Baudissin, W. Graf

Titel/Untertitel:

Der heutige Stand der alttestamentlichen Wissenschaft. Vortrag 1885

Rezensent:

Stade, Bernhard

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15 Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 1. 16

der wachsenden Erkenntnifs von diefen Thatfachen, fowie
in dem Erlernen der himmlifchen Univerfalfprache und
in dem nach Art des Spiritismus häufigen Befuche der
Lieben auf der Erde, um ihnen Troft, Frieden, Muth
und Geduld zu bringen, befteht die Bcfchäftigung der

vierte: ,Hermion' und die fiebente: ,An den Pforten
des Todes II' behandeln in ausdrücklicher Weife das
Gebet; die erftgenannte entwickelt echt evangelifch das
Wefen des gläubigen Gebetes, die zweitgenannte behandelt
ergreifend die ftets verneinte und ftets wieder bejahte

Seligen. ! Frage nach der in Eigenwilligkeit Gott abgetrotzten und

Recht wunderlich nimmt fich aus, was im 11. Capitel zur Züchtigung des Betenden gewährten Gebetserhörung,
die vierzigjährige Jungfrau über die Ehe mittheilt und doch fo, dafs in feinfinniger Entwicklung dargelegt wird,
über den völligen Mangel an Einflufs derfelben auf die wie auch die verfchlungenften Knoten die Liebe Gottes
Charakterbildung und die fittliche Reifung der Eheleute; . und das in Gottes Liebe gefettete und gefundete Men-
um fo wunderlicher, als fie der Ehe ihrer eigenen Eltern, j fchenherz zu löfen weifs. Wie die felbftverleugnungsvolle,
die fehr lieblich gefchildert wird, einen ewigen Gehalt ; ausharrende Liebe eines vernachläffigten Weibes fchliefs-
vindicirt. Jedes ernfte Verhandeln aber hört auf, wenn lieh das Herz des Mannes zum Glauben überwindet,
wir im 14. Capitel lefen, dafs die Verfafferin unter den zeigt die fünfte Lirzählung: ,In elfter Stunde' in köft-
Klängen des Mendelsfohn'fchen Hochzeitsmarfches ihren lichcr Weife; dafs nur der furchtlos bekennende Glaube
verdorbenen ehemaligen Geliebten wiederfindet, der fie : die Verheifsung hat, wird uns in der neunten Lirzählung
verlaffen und eine Andere geheirathet hatte. Jetzt ift 1 vor Augen geführt, und mit einem lieblichen Idyll
für fie die Seligkeit des Himmels vollkommen; er nennt ,Chriftabend in der Waldhütte' fchliefst das Buch ab.
fie: ,Seele meiner unfterblichen Seele, o du Leben meines Die Ueberfchrift,Unter Chrifti Kreuz' bezeichnet den

ewigen Lebens' — und Chriftus fegnet die Beiden ein,— Faden, an dem die mannigfaltigen Perlen, deren jede
alfo das Ganze eine Gefchichte, die mit einer, allerdings ihren eigenthümlichen Glanz hat, aufgereiht find. Nur
himmlifchen, Heirath fchliefst. die er fie Erzählung: , Die Gefchichte des Kreuzes' fcheint

Die Ueberfetzung läfst namentlich in der erften nicht in die Reihe zu paffen. In allegorifchen Gewinden
Hälfte des Buches manches zu wünfehen übrig. mit häufiger Benutzung römifcher Legenden, reich an

2. In gefchickter Weife und in warmer, das Intereffe tiefen Gedanken, nicht minder reich an fchneidenden
feffelnden Darftellung fchildert der Vortrag die beiden Sarkasmen wird die Gefchichte des Kreuz holz es beDichtungen
. Der Eindruck ift allerdings nicht ein ein- handelt. Verliehen wir den Herrn Verf. recht, fo foll
heitlicher; der Grund liegt in dem zwiefachen Gegen- gezeigt werden, wie die unter der Offenbarung Gottes
liande. Die Frage nach der Hoffnung im Zwifchenzuftande liehende Menfchheit in ihren heiliglien Entfchlüffen und
verneint der Vortrag von vornherein, die Briefe aus der in ihren finfterften Thaten fich an dem Kreuze Chrifti
Hölle laffen die Frage offen; infofern fcheint der Vor- orientirt; aber vollkommen deutlich ift uns der Sinn
trag nicht ganz objectiv zu fein. der erlten Erzählung nicht geworden. Für mifslungen

3. Auch diefe Erzählungen gehören in die Kategorie , dagegen müffen wir die zweite Erzählung ,Maria Mag-
des Jenfeits'. Nicht nur um des Erzählers willen, des , dalena'halten; die Identificirung der Magdalena einerfeits
pfeudonymen Verfaffers der ,Briefe aus der Hölle', auch mit Maria von Bethanien, andererfeits mit der Sünderin
um ihres Inhalts willen. Führt doch die 10. Erzählung, Luc. 7 fcheint uns unberechtigt; die Motivirung der
,Trennung' überfchrieben, in zarter und überaus lieb- Salbung hauptfächlich durch die fchöne Idee, Jefu noch
lieberWeife, ohne allen phantaftifchen Arabeskenfchmuck, ; einmal Liebe zu erweifen, weil er feit feiner Kindheit
in das Land der Seligen ein, wo die Familienglieder ! keine Liebe erfahren, nur nebenbei durch den Dank für
nach kurzer Trennungszeit fich wiederfinden, um bei die von Jefu erfahrene Liebe, krankt an Sentimentalität,
dem Herrn zu fein; und nicht nur diefe, alle 12 Erzäh- und die Adoption der römifchen Auslegung von Luc.
lungen, mit Ausnahme vielleicht der erften, athmen Duft 7, 47, wie die ganz romanifirende Darftellung des Ver-
feliger Ewigkeit aus, weil fie alle das Leben oder das hältnifses zwifchen Glaube und Liebe, wirkt auf den
Sterben unter Chrifti Kreuz uns fchildern. Der Herr evangelifchen Lefer verletzend. — Von diefem Mifsgriff
Verf. hat wohl daran gethan, auf feine ,Briefe aus der abgefehen ift das Buch der Beachtung in hohem Grade
Hölle' diefe Sammlung von Erzählungen folgen zu laffen; ' werth; die Ueberfetzung ift vorzüglich gelungen, die
fie bieten die pofitive, durch das Kreuz Chrifti beleuchtete Ausftattung würdig und fchön.

Ergänzung zu jenem Gemälde des Schreckens und der Marburg Achelis
Nacht, und das, was dort, durch den Gegenftand er- _ °v

fordert, faft nur andeutungsweife fich geltend machte,

ertönt hier in vollen fchönen Accorden. Die Erwartung, Die gel, G., Theologische Wissenschaft und pfarramtliche
dafs wir in den Erzählungen eine tüchtige Leiftung in Praxis. Baudissin. W. Graf, Der heutige Stand der
Charakterfchilderung und Seelenmalerei finden würden, alttestamentlichen Wissenschaft. Vorträge, gehalten auf
hat uns nicht getäufcht; namentlich die fechfte, Simon der theologifchen Conferenz zu Giefsen am 12. Juni
von Cyrene'überfchrieben, die fiebente: ,An den Pforten OQ r° „. , HO ,.,T , c Q A/r _

des Todes II' und die achte: ,Sie hatte keine Zeit' find l884- Glefsen- Rlcker> l885- (VI, 60 S. 8. M. 1. -
in ihrer Art kleine Cabinetftücke; die Freude daran Am 12. Juni 1884 ift zu Giefsen eine .Theologifche

wird im Simon v. C. nur durch einige Verfehen geftört, Conferenz' für die Provinz Heffen-Naffau, das Grofs-
geographifcher Art (Reife von Jerufalem über Bethlehem J herzogthum Heffen und den Kreis Wetzlar gegründet
nach Sichar, von wo Bethabara am Jordan gefehen wird) j worden, welche einen fruchtbaren Gedankenaustaufch
und anachroniftifcher Art (Falten der Hände beim Gebet; j zwifchen Pfarrern und theologifchen Lehrern ermöglichen
Glaubensformel). Zur Darfteilung der pfychologifchen i und durch denfelben fowohl das Verftändnifs für den geVorgänge
bedient fich der Herr Verf. mit Vorliebe der meinfamen Grund aller evangelifchen Theologie, als die
Figur des Schutzengels; diefer repräfentirt das beffere 1 Fähigkeit, fich bei abweichenden Meinungen gegen-
Ich, die Mahnungen des göttlichen Geiftes, verklingend j feitig Handreichung zu thun, fördern foll.^ Je mehr in
und übertönt von Eitelkeit und Leichtfinn des thörichten i unferer Zeit das zur Löfung praktifcher Fragen noth-
Herzens, aber rettend und auf ewigen Weg leitend den, ! wendige Parteiwefen auch diejenige idealer zu beein-
der ihnen willig folgt. Ohne Frage gewinnt die Dar- ! fluffen und zu erfchweren beginnt , je häufiger man ftatt
Heilung durch den dialogifchen Verkehr der Seele mit dem j der Liebe, welche den anders geftimmten Bruder erträgt,

Schutzengel an Plaftik und unmittelbarer Wirkung, nur
die dogmatifche Behauptung und der Verfuch des pfychologifchen
Beweifes feiner wirklichen Exiftenz (S. 155)

der Schwäche begegnet, andere Meinungen dadurch abzuwehren
, dafs man fie unter die Rubrik irrthümlicher
Lehre fubfumirt, und gegen diefelben ftatt mit Gründen,

fleht auf fchwachen Füfsen. Zwei der Erzählungen, die j mit welchen der Bruder zu belehren wäre, mit Agita-

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