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Ausgabe:

1885 Nr. 12

Spalte:

286-289

Autor/Hrsg.:

Kittel, Rudolf

Titel/Untertitel:

Sittliche Fragen. Ethisches und Apologetisches über Freiheit, Gewissen und Sittengesetz 1885

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 12.

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Es ift nun fchon an fich ganz nützlich und nothwen-
dig, diefe Erbauungsliteratur zu fludiren, die uns die
Formen der gegenwärtigen Devotion im römifchen Volk
Deutfchlands vorführen. Ich möchte aber heute einen
andern Punkt fpeciell ins Auge faffen, um deffen willen
mich das Buch zunächft intereffirt hat: die gefchicht-
Hchen Partien desfelben. Der Umftand, dafs ich in den-
felben demnächft als Concurrent auftreten werde und dafs
ich in der betreffenden Arbeit nicht mehr Gelegenheit
fand, genauer auf die Schrift einzugehen, wird mich ent-
fchuldigen, wenn ich hier einen etwas breiteren Raum
beanfpruche, als eine Anzeige des Buchs fonft einnehmen
dürfte.

Die Gefchichte des dritten Ordens vom h. Dominikus,
die Kleinermanns giebt, will als eine wiffenfchaftliche
Unterfuchung angefehen werden: fie ift reichlich durchfetzt
mit gelehrtem Material, lateinifchen Citaten u. f. w.
und beruht auch in der That auf eigenem Forfchen. Ihre
Vorausfetzungen und Refultate aber find die althergebrachten
: der dritte Orden des D. ift die directe Fort-
fetzung der Mititia Jesu Christi, die von D. felbft bezw.
unter feiner Mitwirkung vor 1216 geffiftet, fich zunächft
in der Languedoc, dann in Italien verbreitete. Er ift
demnach älter als der dritte Orden des h. Franz, der
ja erft 1221 feinen Anfang genommen hat. Seine erfte
Regel flammt von dem Dominikanergeneral Munione da
Zamorra a. d. J. 1285; die päpftliche Beffätigung dagegen
ift ihm erft im Jahr 1405 durch Innocenz VII. zu Theil
geworden. Wann der Orden den Namen ordo fratrum de
pocnitcntia S. D. angenommen habe, fagt nun zwar Kl.
nicht, — er begnügt fich zu berichten, dafs dies nach dem
Tode des D. gefchehen fei und dafs eine päpftliche Bulle
von 1286 zum erften Mal den Namen nenne, — man
wird daher vermuthen dürfen, dafs er auch nichts weiter
zu fagen weifs. Allein fei dem wie ihm wolle, die ganze
Unterfuchung ift jedenfalls ganz ungenügend und fchief.
Ich fehe davon ab, dafs für die Ereignifse der erften
Jahrzehnte des 13. Jh. Quellen des 14. und 15. Jh. herangezogen
werden. Die Hauptfache ift, dafs die Nachrichten
auch der ficherften Quellen, u. a. der päpftlichen
Briefe, verwendet werden, ohne auch nur darauf angefehen
zu werden, ob fie fich denn wirklich auf den fraglichen
Gegenftand beziehen und ob jene Identification,
jene angenommene Continuität zwifchen dem Orden von
der Bufse des h. D. und der Militia Christi wirklich vor
den Quellen Stich halte. Kl. ficht hier einfach durch die
Brille der Tradition des Predigerordens, die eben in
folchen Fällen auch nicht fehr richtig gefchliffen ift. Wo
fleht z. B. in der Bulle Innocenz' IV. von 1251 ,filiabus
virginibus et continentibus sub vita et habitu religio so
Mcdiolani degentibus' —- etwas von Zugehörigkeit der
Jungfrauen zu einem dritten Orden des h. D.? Offenbar
kommt Kl. zur Verwendung diefer Bulle nur, weil fie im
Bullarium 0. Praedicatorum fteht. Andererfeits weift er
es. ab, die von Dominikanern wie Franziskanern für
ihren dritten Orden beanfpruchten Bullen für die Jratres
de pocnitcntia in feiner Darftellung zu verwenden: er
fpricht fie dem dritten Orden des h. Franz zu. Aber
auch hier liegen, wie ich zu zeigen gedenke, die Dinge
durchaus nicht fo einfach. Die Hauptverwirrung aber
entlieht immer wieder dadurch, dafs Kl. jene Identität
zwifchen Militia und drittem Orden vom h. D. unbefragt
aufnimmt. Auch er hat fich zu der Behauptung verführen
laffen, dafs die Regel, welche Gregor IX. 1235
der Parmenfer Militia Christi gegeben hat, noch heute
im wefentlichen befolgt werde und offenbar dem Munione
als Vorlage für feine Regel gedient habe. Diefe Behauptung
geht m. W. auf Federici, istoria dei cavaheri
gaudenti 2 Bd. 1787 zurück. Doch zieht diefer wenigftens
noch die Statuten der Bolognefer Militia von 1264 heran
als weitere Vorlage für Munione. Allein ich gedenke
nachzuweifen, dafs das Verhältnifs hier ganz anders liegt
und dafs, wenn man diefe Regeln vergleichen will, vor

j allen Dingen eine vierte herangezogen werden mufs, die
| angebliche Regel des h. Franz für feinen dritten
Orden. Denn diefe flammt eben nur angeblich
! von Franz, in Wahrheit von Nikolaus IV. aus
I dem Jahr i28oundiftmit der Regel des Munione
; fo nahe verwandt, dafs hier eine ganze Reihe von
Fragen fich erheben und zugleich ein helles Licht auf
j das urfprüngliche Verhältnifs der beiden fogenannten
dritten Orden, wie auf die angebliche Identität von
, Militia und drittem Orden des h. D. Damit fällt dann
die ganze Frageftellung, ob der dritte Orden des h.
Franz oder des h. Dominikus älter fei, dahin und macht
ganz anderen Problemen Platz. Dann wird man, freilich
mit Hilfe weiterer Forfchungsmittel, finden, dafs der
Sinn des dritten Ordens vom h. Franz urfprünglich gar
nicht der ift, den man heute mit diefem Titel wie dem
parallelen .dritten Orden des h. Dominikus' u. a. verbindet
, und dafs derfelbe in der Form, wie er auf Franz
felbft zurückgeht, von der fpäteren, wie fie durch Nikolaus
IV. zum Abfchlufs gebracht wurde, himmelweit ver-
fchieden ift; dann wird fich auch zeigen, dafs man unter
i den Jratres de poenitentia S. Dominici, S. Francisci noch
| nicht dasfelbe Gebilde zu verftehen hat, wie unter dem
; tertius ordo S. I)., S. P. Das weiter auszuführen ift
hier nicht der Ort. Ich mufste nur aul diefe Schrift
einigermafsen eingehen, weil fie mir zukam, als meine
Abhandlung bereits druckfertig war und eine principielle
Auseinanderfetzung mit jener nicht mehr möglich war,
freilich auch nicht nöthig, denn die Anfchauung, die fie
wieder vorträgt, hatte ich bereits zu widerlegen gefucht.

Halle a/S. Karl Müller.

Kittel, Gymn.-Prof. Dr. Rud., Sittliche Fragen. Ethifches
und Apologetifches über Freiheit, Gewiffen und Sit-
tengefetz. Stuttgart, Kohlhammer, 1885. (VIII, 230 S
gr. 8.) M. 4. -

Der Verf. handelt, wie der genauere Titel andeutet,
in 3 Abfchnitten von der Willensfreiheit, vom Gewiffen
und vom Sittengefetz. Und zwar tritt er für diejenige
Beantwortung diefer ethifchen Grundfragen ein, welche
der clniftliche Glaube als die richtige vorausfetzt refp.
enthält. — Der erlte Abfchnitt erörtert das Problem der
Willensfreiheit. Die Thatfache derfelben wird als
folche behauptet und gegen die Einwände des religiöfen
wie des philofophifchen Determinismus durch Entkräftung
derfelben vertheidigt. Doch will der Verf. deshalb
nicht für einen extremen Indeterminismus eintreten, welcher
den Zufammenhang des menfehlichen Lebens aufhebt
. Diefem gegenüber bezeichnet er feine Theorie
vielmehr als relativen Determinismus. Die Grundgedanken
feiner Ausführungen find aber die, dafs das fitt-
liche Bewufstfein die Thatfache der Freiheit verbürgt,
wie Kant richtig erkannt hat, und dafs der Einwand,
welchen der Determinismus auf Grund des Caufalitäts-
gefetzes dagegen erhebt, nicht verfängt, weil zwar jede
Ürfache ihre Wirkung habe, aber keine Nöthigung vorliegt
, alles was gefchieht als etwas bewirktes aufzufaffen.
Die Motive find nicht bewirkende, fondern nur veran-
laffende Urfachen. Der freie Wille ift eine felbft urfach-
lofe Urfache. Und wenn man eine bedeutfame Ent-
fcheidung eines Menfchen zergliedert, findet man, dafs
eine der diefelbe beftimmenden Urfachen eben diefer
frEie Wille gewefen ift. — Was das Gewiffen betrifft,
nimmt der Verf. eine mittlere Stellung ein zwifchen
denen, welche dasfelbe als eine angeborene fertige
Gröfse, und denen, welche es als ein wandelbares und
zufälliges Product der gefchichtlichen Entwicklung auf-
faffen. Eine fittliche Anlage, ein Bewufstfein des Sollens
ift angeboren und inhärirt dem menfehlichen Geift als
ein notwendiges Datum feines Wefens. Die Ausgeftal-
tung diefes Gewiffens ift aber in der gefchichtlichen Ent-