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Ausgabe:

1885

Spalte:

243-244

Autor/Hrsg.:

Ranke, Ernst

Titel/Untertitel:

Chorgesänge zum Preis der hl. Elisabeth aus mittelalterlichen Antiphonarien. Mit Bearbeitungen der alten Tonsätze durch Müller, Odenwald und Tommadini. 2 Abthlgn 1885

Rezensent:

Köstlin, Heinrich Adolf

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243

Theologilche Literaturzeitung. 1885. Nr. 10.

244

Ranke, Ernh, Chorgesänge zum Preis der hl. Elisabeth aus Sehen wir uns denn die Gabe, welche uns hier gemittelalterlichen
Antiphonarien. Mit Bearbeitungen ! boten wird, näher an. Schon vor 20 Jahren fand Ranke
der alten Tonfätze durch Müller, Odenwald und JnirfaffHci'^ BtbUothek^/Ftrida^W ^degCT

Tommadini. 2 Abthlgn. (Die 2. Abth. mit Beiträgen
von Prof. Commer.) Leipzig, Breitkopf & Härtel,
1883 u. 84. (VII, 242 S. m. 1 Lichtdr. gr. 8.) M. 8. —

Jubiläen wiffenfchaftlicher Art mögen mit wiffen-
fchaftlichen Leinungen gefeiert werden. Der Säcular-
feier eines einheimifchen herrlichen Domes wird man
gerecht werden, wenn man den Feiernden Gaben der

heit anderweitiger Forfchung in einem durchweg mit
Noten ausgehatteten Antiphonar aus dem 14. Jahrhundert
ein officium Sanctae Iilisabcthae, das ,fchon durch
feine fchönen und ermuthigendcn Anfangsworte Laetare
Germania und durch feinen fonftigen Inhalt' fein ,ganzes
Intereffe feffelte'. Dem Texte nach findet fich diefes
Laetare etc. fchon im Anhang von Montalembert's Ge-
fchichte der.hl. Elifabeth; der Melodie nach ift es noch
lieiligen Kunft darbringt, für deren Pflege er gegründet j unbekannt gewefen. Forfchungcn, welche Ranke in den
ift. Und hier kommt dazu, dafs es fich um Lieder han- 1 letzten 20 Jahren auf den verfchiedenflen Bibliotheken
delt, die von der Demuth und Liebesthätigkeit derjenigen des In- und Auslands angefleht hatte, lieferten das nöthige
handeln, deren Namen er trägt: Lieder, die weiland in Material, um nunmehr Text und Weifen kritifch geprüft
dem geheimnifsvollen Räume, den fein Letner begrenzt, | darzuflellen. Er giebt uns zunächft nach Aufzählung und
aus dem Mund deutfeher Ritter und Priefter erklungen ! Charakterifirung der handfehriftlichen Quellen den latei-
find.' Mit diefen Worten (II, S. 196) motivirt der ehr- ! nifchen Text der Chorgcfänge, dem er eine vortreffliche
würdige Gelehrte die Herausgabe der von ihm aufgefun- deutfehe Umdichtung folgen läfst. Darauf wird die Ii

denen Hymnen und Antiphonen zum Preis der hl
Elifabeth in neuer, polyphoner Bearbeitung. Wir wiffen
ihm für diefe finnige Gabe, die auch bezüglich der
äufseren Aushärtung in Druck und Papier, Facfimiles
und Notengehalt das fehliche Gewand trägt, zum voraus
aufrichtigen Dank; denn es ih feiten, dafs ähnliche Funde
mit fo treuem Fleifs gewerthet und zugänglich gemacht
werden, wie es hier gefchehen ih, und es gehört viel
Ausdauer und Sorgfalt dazu, bis die Melodien in der
Gehalt ans Licht treten können, wie fie nun vorliegen,
wie der am behen weifs, der mit alten Mufikhandfchriftcn
fchon fich befafst hat. Und doch wäre die wirkliche
Wiederbelebung der alten Gefänge, ihre Herhellung und
Vorführung zwar im Gewand und Stil ihrer Zeit, aber

turgifche Behimmung der Gefänge erörtert und fehgehellt
. Endlich erhalten wir nach kurzer Verhändigung
über die alte Notirung, welche durch ein Facfimile erläutert
ih, zunächft eine dreifache polyphone Bearbeitung
der Melodie des ,Laetare'. Die eine, von Prof. Müller
in Marburg, ih fehr fchön und feinfinnig ausgeführt, wird
jedoch, unferes Erachtens, dem urfprünglichen Charakter
der Melodien weniger gerecht: fie zeigt, wie diefe etwa
nach moderner Auffaffung harmonifch ausgelegt werden
können, aber nicht, wie diefelben nach der altkirchlichen
Tonanfchauung harmonifch aufgefafst werden müffen.
Vollkommen hilgerecht fcheint uns nur die Bearbeitung
des Seminarlehrers Odenwald zu fein: fie bringt
voll und fcharf den charakteriltifchen Unterfchied der

fo, dafs fie unferem heutigen mufikalifchen Ohre verhänd- : altkirchhchen, in antikem Geih wurzelnden Melodik auch
lieh werden, eine nicht zu unterfchätzende Ergänzung | im Satz zur Geltung, fo dafs man in der That in feiner
der Kirchengefchichte. Denn wie die Tonwerke eines ! Darheilung die treue Ausfuhrung der in der Melodie
grofsen Tonmeihers in ihrer Gefammtheit das ideale ; gegebenen Zeichnung durch die Farbentöne der Har-
Gegenbild feiner Perfönlichkeit darhellen, uns auf feine ! monie erblicken darf, während die Tommadini'fchc Bear

innerhe Auffaffungs- und Empfindungsweife fchliefsen,
beziehungsweife diefe errathen laffen, fo tragen die Melodien
und mufikalifchen Kunhwcrke ganzer Zeitab-
fchnitte die Phyfiognomie des Geihes, der diefe Zeit be-

beitung eine geiftreiche harmonifche Interpretation ih,
die zwar recht anmuthet, aber der antik gedachten Melodie
ein modernes Gewand anlegt. Immerhin beweifen
diefe drei Bearbeitungen, wie vieldeutig und harmonifch

herrfcht hat, und wer es vermag, die in die alten Noten- I reichhaltig die fonorenMelodien find, die felbhveihändlich
köpfegebanntcn,unsfofremdartiganmuthendenTonfolgen homophon gedacht find. Die zweite Abtheilung bringt
und melodifchen Gehaltungen der verlebten Zeit wieder j dle übrigen Weifen des Officiums in derfelben dreifachen
erklingen zu laffen und fich in fie einzuhören und ein- I Bearbeitung, an welcher fich hier auch der bekannte
zuleben, der kommt der Auffaffungs- und Empfindungs- j Kenner der kathohfehen Kirchenmulik, F. von Commer,
weife diefer Zeit von einer Seite nahe, deren Kenntnifs 1 betheiligt hat. Es wurde hier zu weit führen, die Be-
ihm die geihige Phyfiognomie der Zeit auch nach an- j deutung der vorgelegten Melodien für die Gefchichte
deren Seiten hin auffchhefst und verhandlich macht, , der mittelalterlichen Muhk zu erörtern; die letztere ih
gleichfam das Senforium für die fpeeififche Eigenthüm- j n,cht reich an Documenten und Illuhrationen und dank-
Hchkeit der Zeitrichtung fchärft: wie die charakterihifche I bar wird auch von Seiten der Mufikforfchung Ranke's
Eigenthümlichkeit der Perfon nicht erh in Wort und j Arbeit verzeichnet werden. Noch weniger reich freilich
Handlung, fondern fchon in Geberde und Bewegung zu ! lft d»e Theologie an Männern, welche der mufikalifchen
Tage tritt, fo die nicht weiter definirbare Eigenart einer ! Seite in der Entwicklung der Liturgie ein fo warmes
Zeit in der vorherrfchenden Weife, wie fie das beweg- | Intereffe widmen, wie Ranke, und feine Gabe nöthigt
lichhe Material, die Töne, anfafst, ordnet und gehaltet, uns den Wunfeh ab, dafs auch in unferen Reihen fich

in der Vorliebe für behimmte Bewegungsformen und
Conhructionslinien: was die Hallen der gothifchen Dome
dem Auge fagen, das offenbaren dem Gehöre die flüf-
figen Tongehaltungen, in welchen dasfelbe Eigenleben

mehr und mehr folche finden möchten, welche mit den
nöthigen gefchichtlichen und theologifchen Kenntnifsen
auch die erforderliche mufikalifche Ausrühung befitzen,
um fich mit Erfolg an der liturgifchen Forfchung und

fich auswirkt, wie in der ,gefrorenen Mufik', der Archi- ! an den liturgifch-mufikahfchen Behebungen unferer Tage
tektur. Aufserdem wäre die Neubelebung der kirchlichen betheiligen zu können. Unbehreitbar ih, was Ranke am
Mufik nach dem Muher der Alten ein mächtiges Mittel, Schlufs lagt: ,Das Ganze des Gottesdienhes, mithin auch
um die evangehfehe Kirche wieder zur ,geihigen Leiterin ■ den mufikalifchen I heil zu uberwachen, dazu find die
und Hüterin der Ihrigen' zu machen. ,Das Wort der Geiftlichen berufen; fie werden dies aber nur in dem
Lehre mufs überall begleitet fein von einer reichen Er- ' Fal1 vermögen, wenn fie dazu vorgebildet find, und fo
giefsung der auf das Gemüth des Hörers wirkenden ! fehen wir auc,h von (!'efer hcite her> dafs es die Theo-
Kräfte der kirchlichen Mufik. Wo es dahin gekommen logie m> welche das Banner zu tragen hat' (II, S. 242).
ih, da find die Kirchenräume den Gemeinden doppelt

lieb und Weiteres wird kommen' (II, S. 242). Die Erfahrungen
unferer Kirchengefang-Vereine behätigen diefes
Wort Ranke's in vollem Mafse.

Friedberg. H. A. Kühlin.