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Ausgabe:

1885 Nr. 1

Spalte:

4-7

Autor/Hrsg.:

Havet, Ernest

Titel/Untertitel:

Le christianisme et ses origines. Tome 4 1885

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 1.

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ifche Eschatologie, S. 88 ff., und die Vertheidigung der !
Echtheit von Joh. 19, 35—37 (S. 226 ff.). Will es auf
den erften Blick fcheinen, dafs uns der Verf. mit einem
guten Theil der befprochenen Conjecturen hätte ver-
fchonen können (vgl. z. B. zu 4, 27. 5, 36. 6, 17. 7, 29.
8, 24. 8, 51. 9, 17. 9, 18. 9, 27. II, 49. 12, 29 u. f. w.j,
fo ift zu bedenken, dafs er es zunächft mit feinen Landsleuten
zu thun hatte, unter welchen bekanntlich die
Liebhaberei, ins Blaue hinein zu conjecturiren, ganz bedenkliche
Dimenfionen angenommen hat. Von diefem
Fehler ift der Verf., wie fchon angedeutet, frei. Es
mögen beiläufig 200 Conjecturen fein, die hier zur
Sprache kommen (fie betreffen 171 Stellen), und nur 7
davon erfcheinen dem Verf. annehmbar, nämlich 1) Joh.
12, 6 eyrov ft. tywv, 2) 12, 7 %va ii ft. SV«, 3) 19, 25
lO.s07iä ft. K).io7i5, 4) 19, 29 tfxeito b^ovg, ohne (isaxöv,
5) 19, 29 vaadj ft. voowrctj), 6) 20, 7 Big t'va %07iov hinter
xsifisvov verfetzt, 7) 21, n eikxvoav ft. t'il/.voe; und von
diefen find es wiederum nur drei, nämlich 2, 5 und 6,
für welche er mit Sicherheit glaubt eintreten zu können.
Ob an diefen neben refp. drei Stellen wirklich der über- j
lieferte Text verdorben und fo wie angegeben herzu- j
ftellen ift, darüber läfst fich ftreiten. Bedenken erregt I
namentlich das für Joh. 12, 7 geforderte SV« ti. Jedenfalls
aber werden diefe mit grofser Umficht aus hun-
derten ausgewählten Emendationsvorfchläge von einem
künftigen Herausgeber oder Commentator des Johannes-
evangeliums nicht aufser acht gelaffen werden dürfen.
Uebrigens will der Verf. auch die für ficher erkannten
Conjecturen nicht in den Text aufgenommen wiffen.
Als den Ort, der ihnen gebührt, bezeichnet er den Com-
mentar; und wenn er bei diefer Gelegenheit nicht unter-
läfst, die namentlich in Ueutfchland herrfchende Gleichmütigkeit
gegen die Conjecturalkritik zu rügen, fo möchte
ihm darin beizupflichten fein. Die Conjectur, fofern
fie diefen Namen überhaupt verdient, ift eine wiffen- j
fchaftliche Hypothefe, durch deren Erörterung, auch
wenn fie zur Ablehnung führt, die Auslegung nur ge- 1
winnen kann —

Ueberrafchend und recht ftörend ift an der fonft fo
fleifsigen und forgfältigen Arbeit die grofse Zahl von j
Fehlern im griechifchen Accent. So lieft man z. B. S.
189, 6 v.uoaov, 199, 4 dsdoSctOfiat, 237, 4 v. u. iXtrovoal,
240, 20 xeiftevov und yiögig, 249, 3 v. u. i'xoliia, 256
fünfmal alAtjXovg refp. dllrjlovg; feltener find Druckfehler
, wie z. B. S. 132, 25 vuojv ft. Ilüv, 250, 11 |
äxoko&ovoa,

2. Was wir an No. 1 auszufetzen hatten, trifft No. 2
in noch ftärkerem Mafse. Zu der fehlerhaften Methode
gefeilt fich hier ein empfindlicher Mangel an Selbftändig-
keit und Reife des kritifchen Urtheils. War auch die
Aufgabe, welche Baijon fich geftellt, ohne Frage die j
fchwierigere, fo ift doch nicht zu verkennen, dafs die
beffere Ausrüftung, über welche de Koe verfügte, an
der gelungeneren Löfung den wefentlichften Antheil hat. |
Das Werk von Weftcott und Hort feheint auch B. nicht
gekannt zu haben: wir fuchen in feinem Buche vergebens
nach den von den Cambridger Herausgebern zu Rom.
1, 32. 4, 12. 5, 6. 8, 2. 15, 32 empfohlenen Conjecturen,
obwohl jede derfelben ein Dutzend der von ihm vorgebrachten
aufwiegt. Im Gcgenfatz zu de Koe, welchen
das befonnene Urtheil niemals verläfst, ift B. mit feinem
, Te recht' meift fehr fchnell bei der Hand. Von 161 befprochenen
Stellen werden nicht weniger als IOO für die
Conjectur in Anfpruch genommen. Dabei fpielt die in
den Text eingedrungene Randgloffe die Hauptrolle. Was
uns in diefer Beziehung zugemuthet wird, ift mitunter
geradezu abenteuerlich. Für interpolirt gilt dem Verf.
u. a. auch Gal. 3, 19 b. 20, und zwar will er den Hergang
folgendermafsen erklären. Ein Lefer, welcher fich
die Offenbarung des Gefetzes nach der fpäteren Ucber-
lieferung zurechtlegte, gab auf die Frage: %l ovv d vöfinc;
die Antwort: dierdyr] <)i ayyilurv — erfte Gloffe. Ein

anderer nahm diefen Gedanken vom Rande in den Text
auf und änderte das diezdyr] in diazaysig. Wieder ein
anderer, dem das diccTayeig 61 dyythov nicht behagte,
kehrte zu dem biblifchen Berichte zurück und fchrieb an
den Rand: sv %stQi fisaizov — zweite Gloffe. Als auch
diefe in den Text eingedrungen war, bemerkte, und
zwar gefchah dies fchon Hn de eersie tijden onzer Chri-
stelijkc jaarlclling', ein kritifcher Lefer, dafs die beiden
nebeneinander flehenden Erklärungen einander aus-
fchlicfsen, und fügte, um fie in Harmonie zu bringen,
6 öi (itoiTrig evbg ot'ix i'aziv hinzu — dritte Gloffe. Dafs
man, um endlich auch das 6 de Iriög Big BOziv unterzubringen
, noch eine vierte Gloffe annehmen mufs, deutet
der Verf. nur an (S. 177). Was foll man zu folch einer
,Conjectur' fagen? Hoffen wir, dafs der Verf., wenn er
nach Jahren einmal beim Durchblättern feines Buches
auf diefe Stelle ftöfst, uns im Geifte diefes Attentat auf
unfer Urtheilsvermögen abbitten wird. Auch manche
Wortconjecturen werden ihm nach eingehenderer Be-
fchäftigung mit der griechifchen l'aläographie nicht mehr
fo einleuchtend erfcheinen wie jetzt, vgl. z. B. zu Rom.
5, 15 (5, 12), 8, 3. 9, 10. 15, 28. Wir erkennen es gern
an, dafs der Verf. grofsen Fleifs auf feine Arbeit gewandt
hat, und dafs es darin auch an treffenden Bemerkungen
und gelungenen Ausführungen nicht fehlt. Von den
Conjecturen aber, welche er gutheifst refp. felbft in
Vorfchlag bringt (vgl. z. B. zu Rom. 5, 15. 8, 12. 9, 5 •>.
14, 21. 16, 19 a. 16, 22. Gal. 1, 7), werden nur fehr wenige
die Probe beliehen. — Einer Erörterung über die Bedingungen
und Grundfätze der Conjecturalkritik überhaupt
und ihre Anwendung auf den Text des Neuen
Teftaments insbefondere hat der Verf. fich im Hinblick
auf die Arbeiten von van Manen, van de Sande Bakhuyzen
und de Koe für überhoben gehalten. Wie ernft es ihm
aber um die Sache ift, erkennt man aus der erften der
18 Thefen, welche dem Buche am Schlufs angehängt
find. Diefe nämlich lautet: ,Dc uitgevers van het (Jude
en van het Nieiave Testament viocten de conjecturen, weihe
zij goedheuren, in den tekst opnemetv. Mit diefer Forderung
mag man im Princip einverftanden fein. Man wird
aber dabei den Wunfeh nicht unterdrücken können, dafs
der Verf., wie wir ihn aus dem vorliegenden Specimen
kennen gelernt haben, uns mit einer Ausgabe des Neuen
Teftaments einftweilen wenigftens noch nicht befchen-
ken möge.

Berlin. O. v. Gebhardt.

Havet, Ernest, Le christianisme et ses origines. Tome IV.
Paris, Calmann Levy, 1884. (VII, 525 S. gr. 8.) fr. 7.50.

Die Leetüre diefes Werkes hinterläfst fehr gemifchte
Eindrucke. Unter anderem fühlt man fich auch in die
Mitte des vorigen Jahrhunderts verfetzt. In der That
könnte das Buch in vielen Partien von einem Zeitgcnoffen
und Freunde Voltaire's gefchrieben fein. In diefer
Eigenart beruht feine Schwäche und feine Stärke. Seine
Schwäche; denn der Verfaffer hat ein Humanitätsideal,
welches ihn blöde und ungerecht gemacht hat gegenüber
der pofitiven Religion; er hat einen Abfchcu vor dem
Wunderglauben, der ihn kritiklos gemacht hat gegenüber
Schriftftücken, in welchen derfelbe unverhullt zu
Tage tritt; er zeigt fich im Ganzen fo unbekümmert um
das, was feit dem Zeitalter Voltaire's auf dem Gebiete
der altchriftlichen Literaturgefchichte gearbeitet ift, dafs
die wenigen Citate den Werth von Ueberrafchungen annehmen
; er befolgt endlich nicht feiten eine fo ab-
ftracte und fouveräne Kritik, dafs man öfters die Erwägungen
gar nicht zu enträthfeln vermag, welche den
Verfaffer geleitet haben. Aber der ,gefunde Menfchen-
verftand' hat bekanntlich neben feinen Unarten auch
feine grofsen Tugenden; ich flehe nicht an, fie in diefem
Falle als befonders leuchtend anzuerkennen. Es wird fo
viel Gefchichte gefchrieben von Leuten, die mit dem