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Ausgabe:

1885

Spalte:

213

Autor/Hrsg.:

Pünjer, Bernh.

Titel/Untertitel:

Die Aufgaben des heutigen Protestantismus 1885

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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213

klar zu werden, die unter dem Drucke körperlicher
Leiden in den letzten Jahrzehnten fein Verhalten fo fehr
beeinflufst haben. Aber wie falfch ift es doch, Luther's
im Kreife der Freunde, oft in Unmuth und Bitterkeit
fchnell hingeworfenen Aeufserungen als feine .Anflehten'
fchlechthin aufzufaffen! Was der Hiftoriker daraus entnehmen
kann, — und das follte nicht mehr gefagt zu
werden brauchen, ift doch nur, was Luther an dem oder
jenem Tage unter beftimmten Verhkltnifsen über dies
oder jenes& geäufsert hat. Und noch gröfsere Vorficht
ift zu beobachten, wenn es fich um Auslaffungen über
frühere Zuftände, vor der Reformation oder bei Beginn
derfelben handelt. Wie bei feinen Genoffen hat fich da
bei Luther unter der Fülle der neuen Eindrücke und
des Bewufstfeins der köfthehen Errungenfchaftcn des
Evangeliums das Bild vielfach verfchoben, fo dafs es
an Uebertreibungen, ja Unrichtigkeiten nicht fehlt.
Anftatt lieh darüber zu verwundern, müfste man es unnatürlich
finden, wenn es nicht fo wäre.

Erlangen. Th. Kolde.

Piinjer, Prof. Dr. Bernh., Die Aufgaben des heutigen

Protestantismus. Akademifche Rofenvorlefung, 4. Febr.
1885 gehalten. Jena, Deiftung, 1885. (23 S. gr. 8j
M. —. 50.

Rom zu bekämpfen, aber nur um gleichzeitig das
reine Chriftenthum zu pflegen — das ift allgemein ver-
ftändlich ausgedrückt die doppclfeitige Aufgabe des Pro-
teftantismus. Was nun aber den ewig gleichen Inhalt,
die unveräufserliche Wahrheit des Chriftenthums ausmache
, darüber gehen freilich innerhalb des Proteftan-
tismus felbft die Anflehten noch weit auseinander. Und
doch läfst fich nur auf Grund einer Verftändigung hierüber
das wünfehbare Zufammengehen der verfchiedenen
Parteien zur gemeinfamen Arbeit an der Kirche erwarten.
Das Evangelium verkündigt nun aber fragelos dem
Menfchen die in Jcfu Perfon und Werk der Menfchheit
gefchenkte göttliche Gnade, welche dem reuigen Sünder
die Schuld früherer Verfehlungen abnimmt, dem aufrichtig
Strebenden die Kraft zum Guten ftärkt, den unter
Aufgeben aller felbftfüchtigen Triebe von ganzem Herzen
und voll Vertrauen an den von Jefus geoffenbarten Gott
fich Wendenden und Haltenden zum inneren Frieden
und zu der Freude gelangen läfst, an der Verwirklichung
des Guten in der Welt mit irgend welchem Erfolge fich
betheiligen zu dürfen. Diejenigen Richtungen, welche in
erfter Linie die Bewahrung des Ueberlieferten fich zur
Aufgabe ftellen, füllten daher bedenken, dafs der Werth
der höchften Güter, die das Evangelium bringt, nur erfahren
, nicht bewiefen werden kann. Diejenigen aber,
welche in erfter Linie den Ausgleich der kirchlichen
Lehre mit dem modernen Bewufstfein anftreben, follten
ängftlich darüber wachen, dafs ihnen nicht die Bedeutung
und der Eigenwerth des religiöfen Lebens darüber verloren
geht. Dies der wefentlichc Inhalt des anfprechenden,
in edler Popularität gehaltenen Vortrags, bezüglich deffen
vielleicht zu bedauern bleibt, dafs er fich zugleich in
eine Kritik von Zeiterfcheinungen, wie confeffionelle
Theologie, Ritfchl'fche Richtung und Proteftantenverein,
eingclaffen hat, wie folche in fo engem Rahmen und bei
fo allgemein und weit geflecktem Ziel der Betrachtung
natürlich weder durchweg genau noch allfeitig gerecht
ausfallen konnte.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Biedermann, Prof. Dr. Alois Eman., Christliche Dogmatik.

(In 2 Bdn.) 1. Bd.: Der principiellc TM. 2., erweiterte
Aufl. Berlin, G. Reimer, 1884. (XVI, 382 S. gr. 8.)
M. 6. —

Der Verfaffer diefes Buches ift. wie die Lefer der
Lit.-Ztg. wiffen, am 25. Januar der theologifchen Wiffen-

fchaft und feiner heimifchen Kirche durch den Tod ent-
I riffen worden. Die Aufgabe, fein Buch anzuzeigen, welche
I mir der Entfchlafene noch felber geftellt, ift dadurch
eine andere geworden. Es handelt fich nicht mehr um
die Auseinanderfetzung mit einem noch unter uns weilenden
Mitarbeiter, fondern um die Würdigung feines
hinterlaffenen Werkes.

Seit Jahren fchon trug fich Biedermann mit der Ab-
! ficht, in einem befonderen Buch über feine erkenntnifs-
I theoretifchen Grundfätze und deren Anwendung auf die
j Theologie Rechenfchaft zu geben. Der Umftand, dafs
J eine zweite Auflage feiner Dogmatik nothwendig ward,
I hat ihn veranlafst davon abzufchen und ftatt deffen
durch eine Erweiterung des älteren Werkes das erwähnte
Bedürfnifs zu befriedigen. Der Natur der Sache nach
ift es aber der zunächft vorliegende erfte principielle
Theil der Dogmatik, welcher diefe Erweiterung erfahren
hat. Der zweite hiftorifche und der dritte kritifch-fpecu-
lative Theil follen nach der Ankündigung in der Vorrede
als nunmehr zweiter Band (pofitive Dogmatik) in
Bälde nachfolgen, im Wefcntlichen unverändert, nur im
Einzelnen forgfältig revidirt. Es ift alfo diefer erfte
principielle Theil, welcher als ein zur Hälfte neues Buch
die Aufmerkfamkeit der theologifchen Welt in Anfpruch
[ nimmt. Ich erftatte zunächft Bericht über die eingetretene
Erweiterung der älteren I'affung.

Früher zerfiel der principielle Theil in 3 Capitel:
I das Wefen der Religion, Religion und Wiffenfchaft, das
1 Princip der chriftlichen Dogmatik. Auch jetzt find es
3 Abfchnitte geblieben: I. die erkenntnifstheoretifche
Grundlage, II. das Wefen der Religion, III. das Princip
der chriftlichen Dogmatik. Der dritte Abfchnitt ift in
beiden Faffungen wefentlich der gleiche. An die Stelle
des Capitels über Religion und Wiffenfchaft ift die Erörterung
der erkenntnifstheoretifchen Grundlage getreten,
und diefe ift der Befprechung des Wefens der Religion
I vorangcftellt: das ift der fofort in die Augen fpringende
Unterfchied. Jedoch deckt fich nicht, was früher über
I Religion und Wiffenfchaft gefagt ward, und was jetzt
über die Erkenntnifstheorie beigebracht wird. Letztere
ift vielmehr eine Begründung, Erweiterung und Ausfuhrung
deffen, was früher innerhalb des Abfchnitts über
die Religion als ,Excurs über das Wefen der Vorftellung'
gegeben ward. Und der Hauptinhalt des zweiten Capitels
der älteren Faffung (Religion und Wiffenfchaft) ift jetzt
in den Abfchnitt über die Religion aufgenommen. Er
findet fich dort am Schlufs des Capitels, welches den
pfychologifchen Begriff der Religion behandelt. Auch
abgefehen aber davon ift diefer (nunmehr zweite, früher
erfte) Abfchnitt über die Religion verändert und erweitert
worden. Er zerfällt jetzt in 3 Capitel. Das erfte
heifst jetzt ,der pfychologifche Begriff der Religion'.
In dasfelbe ift die Ausführung über die Betheiligung der
verfchiedenen Geiftesfunctionen an dem einheitlichen Act
der Religion (die früher mit der Befprechung des Glaubens
verbunden war) hineingezogen worden. Das zweite
Capitel handelt vom inneren Wefen der Religion, und
hier ift eine Erörterung über den metaphyfifchen Grund
I der Religion (eine vorläufige Fixirung des Wahrheitsgehaltes
der fog. Beweife für das Dafein Gottes) neu
eingefügt worden. Das Weitere und ebenfo das dritte
Capitel über die objective Religion ift eine vielfach erweiterte
Reproduction der älteren Faffung. Endlich ift
dem erften principiellen Theil eine befondere Einleitung
vorangeftellt, welche von der religiöfen Erkenntnifs handelt
. Neu hinzugekommen find alfo diefe Einleitung (S.
43—59)) der erkenntnifstheorctifche Abfchnitt (S. 51 —173)
und die Ausführung über den metaphyfifchen Grund der
Religion (S. 243—264). Sonft handelt es fich um leichte
Umftellungen einzelner Gedankengruppen, um Revifion
| des Ausdrucks und um einzelne Zufätze, welche theils
eigentliche Erweiterungen find, theils fich mit neueren