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Ausgabe:

1884

Spalte:

177-178

Autor/Hrsg.:

Sturm, Jul.

Titel/Untertitel:

Dem Herrn mein Lied. Neue religiöse Gedichte 1884

Rezensent:

Lindenberg, H.

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177

Theologilche Literaturzeitung. 1884. Nr. 7.

178

Sturm. Jul., Dem Herrn mein Lied. Neue religiöfe Gedichte
. Bremen, Heinfius, 1884. (VIII, 208 S. 8).
M. 3. —; geb. M. 4. —
Die befte Charakteriftik diefcr neuen Sammlung
religiöfer Gedichte hat der Dichter felber gegeben, wenn
er beim Anblick eines Kindes (S. 85) ausruft:

,Gieb mir aus Gnaden zum Gewinn
Einfältig frommen Kindesfinn.'

In dem einfältig frommen Kindesfinn, dem diefe
Lieder entfprungen find, liegt ihre Hauptanziehungskraft,
ohne dafs damit der leicht fiiefsenden fchönen und
klaren Form ihr Mitantheil an derfelben ftreitig gemacht i
werden follte. Sie fprechen Stimmungen, Gedanken,
Rathfchläge, Empfindungen eines Herzens aus, das die j
.wunderbare Gnade' nicht bloss aus der Ferne gefehen,
fondern an fich felber erfahren hat und in derfelben
lebt. Bald find es eigene innere Erfahrungen, die der
Dichter zum Ausdruck bringt, der es wohl felber hat
erleben muffen, ,dafs der Schatten erft wächft, wenn die
Sonne fich neigt'. Dahin gehören die öfter wiederkehrenden
Klänge der Sehnfucht nach der ewigen
Heimath, das poetifch befonders tief empfundene ,Gedulde
dich' (S. 20), der finnig durchgeführte Vergleich
des Kranken mit dem Vogel im Käfig (S. 49), die zahlreichen
oft gerade durch ihre Einfachheit wirkfamen
Gebetslieder. Bald find es biblifche Gedanken, die er
ausführt (Pf. 63, 7, Pf. 5, 4, Rom. 8, 18 u. a.) oder feel-
forgerifche Mahnungen und Rathfchläge, mit denen er
fich an den Lefer wendet. Man merkt es ihm an, dafs
er in dem Gedankenkreife der kirchlichen Perikopen
lebt. Eine ganze Reihe von Liedern führen einzelne
Gedanken derfelben weiter aus. Das Gedicht ,Reich
an Gold und arm an Liebe', anknüpfend an das Gleich-
nifs vom reichen Mann, ift eine eindringliche Zeitpredigt
in 8 Zeilen. ,Ein Augenblick', eine in kurzen treffenden 1
Bildern fich bewegende Schilderung des oft jähen
Wechfels und der Vergänglichkeit alles Irdifchen, ift
offenbar aus dem Jubilate-Evangelium erwachfen. In dem |
.Gleichnifs vom Säemann' wird in 20 Zeilen eine prak-
tifche Anwendung der bekanntlich homiletifch nicht
leicht zu behandelnden Perikope gegeben, die zwar nicht
neu, aber in diefer Kürze muftergültig ift. Oder wie
liefse fich der Grundgedanke des Gleichnifses vom Unkraut
unter dem Weizen kürzerund fchlagenderzufammen-
faffen als in den Spruch:

,Unkraut und Weizen willft du fcheiden?
Lafs Gott, was Gottes Sache ift.
Dafs beide wachfen, mufst du leiden,
Sorg nur, dafs du kein Unkraut bift.'

Auch an andern Stellen hört man oft den erfahrenen
Seelforger reden, wie in den Troftliedern, in denen auf
den Segen auch des Kreuzes hingewiefen wird, das Gott
fchickt, ,der dich will zu fel'gcm Ende durch das Kreuz
erziehn', oder in dem Gedicht ,Zvvei Wanderer', das in
fchönem Bilde den Segen einer rechten Sonntagsfeier
fchildert, oder in der Ausführung, dafs wahre Reue erft
mit der Erkenntnifs Chrifti beginnt, oder in der ebenfo
einfachen wie zutreffenden Paraphrafe der apoftolifchen
Mahnung: ,Betet ohne Unterlafs':

Du beteft allezeit, wenn du, was du auch treibft
Im Dienfte deines Herrn ein treuer Diener bleibft.

Es kann nicht die Aufgabe diefer Anzeige fein, alle
poetifchen Schönheiten diefer Sammlung, alle treffenden
Gedanken derfelben im Einzelnen zu regiftriren. Ref. möchte
durch diefe willkürlich herausgegriffenen Beifpiele zur
Leetüre derfelben anregen. Dabei darf jedoch nicht ver-
fchwiegen werden, dafs fich einige Flüchtigkeiten in die
Sammlung eingefchlichen haben, von denen zwar manche
auf das Conto des Setzers kommen, einige aber auch dem
Dichter felber zur Laft fallen. Zu den erfteren gehört,
dafs S. II, Str. 3 ftatt nimmer ,nimmermehr' fteht, wodurch
das Versmafs geftört wird, dafs S. 16, Z. 1 im
ftatt in, S. 120, Z. 6 dem ftatt den zu lefen iff, dafs die
Ueberfchrift S. 195: ,Wohl zu bedauern' keinen Sinn

giebt, fondern vermutlich: Wohl zu bedenken lauten
foll. Unfchuldig dagegen ift der Setzer an einzelnen
fprachlichen Härten wie ,Leibes und Seelgefahr' (S. 18),
,die Wolke, glüh'nd im Abendroth' (S. 20), an dem gegen
ein einfaches Naturgefetz verftofsenden Bilde: ,das fchwere,
dürre Holz ward leicht und grün' (S. 45) und vollends
an der undeutfehen Conftruction: .Gefell, bekehrt zu
Gott, dich den zu Gott Bekehrern' (S. 169). Bei einem
Dichter, der eine Formgewandtheit befitzt wie Sturm,
laffen fich folche kleine Unebenheiten nur daraus erklären
, dafs, wie aus einem Gedicht mit der Jahreszahl
1883 hervorzugehen fcheint, die Herausgabe durch eine
Krankheit des Dichters beeinflufst worden ift. Ref. erwähnt
diefer Vcrftöfse in der Ueberzeugung, dafs es dem
Dichter eine Kleinigkeit fein wird, diefelben in der zu
erwartenden zweiten Auflage zu befeitigen.

Nufse. H. Lindenberg.

Strümpell, Prof. Ludw., Grundriss der Psychologie oder
der Lehre von der Entwickelung des Seelenlebens
im Menfchen. Leipzig, Böhme, 1884. (VII, 309 S.
gr. 8.) M. 4. 20.

Das engere Anfchliefsen an die Ergcbnifse der phy-
fiologifchen Forfchung, deffen fich die Pfychologie der
Gegenwart meiltens befleifsigt, hat nach der Anficht des
Verfaffers den Nachtheil, dafs fie die ihr zugänglichen
eigentümlichen Erhebungen und Unterfuchungen auf
dem Gebiete des geiftigen Lebens zu fehr hintanfetzt
und fo den Materialismus befördern hilft. Das vorliegende
fehr intereffante und beachtenswerthe Compen-
dium foll nun zeigen, was die Pfychologie auf dem'
entgegengefetzten Wege zu leiften vermag. Die Grund-
anfehauung, von der es ausgeht, ift die Herbartifche
Monadologie, die jedoch, wie fich das bei Strümpell von
vornherein annehmen läfst, in felbftändiger Weife kri-
tifch modificirt ift, wie denn auch der Aufbau des
Ganzen nach durchaus eigenartiger Methode vor fich
geht.

Dafs freilich der eingefchlagene Weg hinfichtlich des
Materialismus zum Ziele führe, möchte ich bezweifeln.
Dem vulgären Materialismus braucht man in wiffen-
fchaftlichen Kreifen gegenwärtig kaum noch entgegen
zu treten. Der anthropologifche Monismus aber, zu dem
er fich philofophifch vertieft hat, wird zwar von Unkundigen
vielfach noch mit ihm verwechfelt, trägt aber
thatfächlich das Seinige dazu bei, ihn endgültig unmöglich
zu machen. Als methodifches Forfchungsprincip
läfst er fich einstweilen auch aus der Pfychologie nicht
eliminiren. Die Ausführungen des Verf.'s geben dafür
felbft ftellenweife die Belege in mancherlei Unzureichendem
der pfychologifchen Erklärung, welches durch
den Verzicht auf die Betrachtung der phyfiologifchen
Seite pfychifcher Erfcheinungen entfpringt. Die feine
Analyfe z. B., welche das 3. und 4. Cap. von den ver-
fchiedenen Stufen und Formen des Bewufstfeins geben,
gelangt zur Conftatirung des Dafeins von Empfindungen
im Zuftande der .Perception', fowie von unbewufst gewordenen
Vorftellungen auf einem dem gewöhnlichen
entgegengefetzten Wege, nämlich f. z. f. von oben her,
von der Analyfe des Selbftbewufstfeins aus, indem fie
zeigt, dafs diefes felbft nicht möglich wäre ohne die
Vorausfetzung jener. Sie verfchmäht fomit die fcharfe
Unterfcheidung der Zuflände von Perception und Apper-
ception, wie fie durch den Hinweis auf die Verfchieden-
heit innerhalb des phyfiologifchen Proceffes möglich ift,
ficht fich aber eben deswegen veranlafst, die fog. unbe-
wufsten Empfindungen u. dgl. als .unmittelbar bewufste'
von den appereipirten als den mittelbar bewufsten zu
unterfcheiden, eine Ausdrucksweife, die das im Uebrigen
fcharf herausgeftellte Sachverhältnifs nur verdunkelt.
Befonders aber erfcheint in Folge der erwähnten Eigentümlichkeit
das Verhältnifs von Leib und Seele häufig