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Ausgabe:

1884 Nr. 7

Spalte:

175-176

Autor/Hrsg.:

Portig, Gust.

Titel/Untertitel:

Das Christusideal in der Tonkunst 1884

Rezensent:

Schlosser, Georg

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 7.

176

in ihm in trauriger Vollendung perfonificirt, ift eine der
widerlichhen Mifsgehalten eines Charakters; die Unbe-
fcholtenheit feines übrigen Wandels kann das Urtheil
darüber nicht mildern. Die ,Fragmente über Kindererziehung
' von O. Funcke find reich an pädagogifcher
Weisheit und laffen fchöne Blicke in die Kinderfeele
thun, wie fie auch die Unarten moderner Kindererziehung
mit Ernft rügen. Der Auffatz von F. Gefs
über ,den irdifchen und den himmlifchen Beruf' enthält
namentlich in denjenigen Partien, in welchen der Verf.
die lutherifche Anfchauung über den irdifchen Beruf
und die üttlichen Mächte, die in ihm liegen, gegenüber
den römifchen und pietiftifchen Verirrungen darlegt, viele
tiefe und treffende Bemerkungen, in den Partien über
den himmlifchen Beruf infonderheit wird uns ftellenweife
etwas zu viel phantafirt. Einen fchönen Beitrag zur
afthetifchen Kritik vom chriftlichen Standpunkt aus giebt
M. Schräder in der Befprechung der beiden Meifter-
werke von Hans Memlink: Johannes der Täufer' und
.Chriftophorus'. Nahe mit diefem Auffatz, namentlich
in dem Schlufston, den er anfehlägt, berührt fich derjenige
von Emil Frommel, der an das Bild der Paf-
üonsblume: ,Paffiflora' verfchiedene finnige Gedanken
und tiefbewegliche Erinnerungen aus feinem Leben in
feiner bekannten gemüthvollen Weife anknüpft.

Dresden. Meier.

Portig, Guft., Das Christusideal in der Tonkunst. Heilbronn,
Henninger, 1883. (78 S. 8.) M. 1.20.

tun Chriftusideal mit ihren Mitteln und ihren Ausdrucksformen
zu fchaffen, erachtet der Verf. für die
höchfte Aufgabe, welche, wie den bildenden Künften, fo
auch .der Tonkunft gehellt fei. Das Ideal des hiftori-
fchen Chriftus fei in dem Chriftus der Bach'fchen Mat-
thäuspaffion, das des erhöhten Chriftus, wie es in feinem
Wirken in den Seinen zur Erfcheinung komme, in der
Beethoven'fchen missa solcmnis erreicht. Aber ein Bild
Chrifti felbft, des Chriftus ,an fich', d. h. des Mannes,
wie er, losgelöft von jeder befonderen Situation, fein
innerftes gottmenfchliches oder idealmenfehliches Wefen
durch fich felbft in feinen Zügen ausfpricht, eine Schilderung
,des mit Worten nicht zu befchreibenden Reichtums
der geiftigen und feelifchen Vorgänge in Chriftus' felbft,
habe die Mufik noch nicht hervorgebracht. Auch Händers
.Meffias' leihe das nicht. Seine Mufik drücke nicht
den ,fpeculativen' (?), fondern den ,ideal - menfehlichen'
Gehalt des Chrihenthums aus. Zudem fei nur die reine
Inhrumentalmufik in der ungeahnten Höhe, zu welcher
fie Beethoven entwickelt habe, im Stande, die tiefhen
Tiefen des Seelenlebens darzuheilen. ,Sie heigt herab in
den nur dem Auge der Gottheit durchdringlichen Ur-
bronnen des Menfchenwefens, wo Vernunft und Phantafie,
Gefühl und Wille noch ungefchieden bei einander find(?)..
Ih fie doch die blofsgelegte Seele aller Künhe überhaupt,
finnlich und unfinnlich zugleich; verfchmäht fie doch
jeden gegebenen Stoff und fchöpft allein aus den Urtiefen
alles geiftigen Lebens'. Diefe der Mufik gehellte
Aufgabe fei allerdings fo riefengrofs, dafs mindehens
ein Genius von den Dimenfionen eines Beethoven dazu
gehören würde, um fie zu löfen; diefer müfste obendrein
ein Luther an Glaubensfülle fein, und es leuchtet daher
ein, wie vielleicht niemals eine folche Leihung durchführbar
fein wird'. (!) Trotzdem erörtert der Verf., nachdem
er nachgewiefen, dafs Lifzt fich in feinem Oratorium
.Chriftus' allerdings die riefige Aufgabe gehellt habe, ihr
aber keineswegs gerecht geworden fei, noch des Weiteren
die Bedingungen eines folches Werks und redet begeihert
von feiner Schönheit, zieht auch die Möglichkeit einer
Verbindung von lebenden Bildern und Dialog mit Vocal-
und Inhrumentalmufik zu einer Art ,chrihlicher Allkunh'
in Betracht. Dem Verf. wird es bei diefem ,fchwindel-
haften Flug der Phantafie' felbh ein wenig bange. Und

m. E. mit Recht. Es ih hier nicht der Ort, mit ihm über
die Aufgabe der Mufik und die ihr geheckten Grenzen
im Allgemeinen zu rechten. Aber die ihr hier gehellte
i Aufgabe überfchreitet ficherlich ihre Grenzen, wie die
Grenzen jeder Kunh. Einmal vermögen wir jene ,Perfön-
lichkeit von fchlechthin riefigen Dimenfionen' eben nur
in den einzelnen Situationen zu erfaffen, in welchen fie
ihr Wefen offenbart. Den ,Chriftus an fich' wird die
! Kunh aber überhaupt fo wenig je zur Darhellung bringen
können, als es gelungen ih, mit Worten ein befriedigendes
,Charakterbild' Jefu zu zeichnen. Die Bedeu-
1 tung feiner Perfon liegt ja in feiner Gottmenfchlichkeit,
d. h. darin, dafs jede Bethätigung feines Wefens eben-
fowohl als eine Offenbarung Gottes, wie als Bewährung
feiner reinen Menfchlichkeit in Betracht kommt. Das
volle Verhändnifs Chrihi kann darum nur auf dem Wege
1 des Glaubens, alfo durch einen fittlichen Act, nicht aber
j auf ähhetischem Wege gewonnen werden. Die Kunh
| wird es in der Darheilung Chrihi nie weiter, als bis zu
einem idealen Menfchenbild bringen. Es ih ficherlich
1 kein Zufall, dafs die einzige Darheilung Chrihi, die in
| ihrer Grofsheit über das blofs Menfchliche hinausweih,
das Bild des Kindes ih (Sixtina), bei dem der überwältigende
Eindruck in dem über das Kindesalter weit hinausgehenden
geihigen Ausdruck begründet ih. Es ih
nicht Befchränktheit, fondern der fichere Takt des Genius
, der Bach und Händel dazu führte, fich auf die
Darhellung behimmter hihorifcher Situationen oder der
geihigen Vorgänge im gläubigen Subject zu befchränken.

Die Verkennung diefer Sachlage führt denn auch im
Einzelnen zu allerlei fchiefen und unklaren Urtheilen, die
aus jenem ,nur dem Auge der Gottheit durchdringlichen
Urbronnen des Menfchenwefens, wo Vernunft und Phantafie
noch ungefchieden find', hervorgegangen zu fein
Rheinen; wie jenes: ,Den Chriftus des gepredigten Wortes
können wir anbeten, den Chriftus in F"arben als Ideal
eines Menfchenkopfs bewundern: lieben aber werden wir
am meihen den Chrihus in Tönen'.(?) Oder wenn von dem
sanetus der Bach'fchen H-moll Meffe gefagt wird: (Das
Wefen der göttlichen Heiligkeit (Gott ih der abfolut
| Gute) bleibt unausgefprochen', als ob das auszufprechen
mit afthetifchen Mitteln möglich wäre! Oder wenn die
reine Inhrumentalmufik ,Antwort giebt auf die letzten
Fragen einer pofitiv gerichteten Philofophie'. (!?)

Auch abgefehen von dem Grundthema ih mehreres
einzelne zu beanhanden. ,Echt evangelifch predigt Bach
i in Tönen, während Palehrina weltvergeffen betet' (S. 6),
ih kein klarer Gegenfatz. Ih es wirklich protehantifch,
immer nur zu predigen? Nur das ,weltvergeffen', im
! fchärfhen Sinn genommen, dürften wir von unferer pro-
tehantifchen Andacht unbedingt ablehnen. Das Verdienh
Bach's um den protehantifchen Choral fcheint mir nicht
j richtig beurtheilt. So Vollendetes er im vierhimmigen
; Satz geleihet, fo wenig hat der Gemeindegefang von
ihm Förderung erfahren. Mit Sicherheit kann keine einzige
Choralmelodie auf ihn zurückgeführt werden. Seine
Liederfind arienartig. In der Behandlung des Chorals hat er
nur die Abfchaffung des lebendigen Rhythmus befiegelt.

Die , innere Verwandtfchaft der drei erhen Jahrhunderte
mit dem Geih und den Grundfatzen des Reformationszeitalters
' (S. 12) darf doch als eine hoffentlich
bald abgethane Mythe gelten. — Dafs Luther ,auf der
Höhe feines Werkes die Zufammenfaffung aller einzelnen
Typen des Chrihenthums' fei, kann doch höchhens
in einem gewiffen Sinne von feinem ,Glauben' gelten.

Trotz alledem ih die Leetüre des Schriftchens fehr
intereffant und anregend. Der Verf. beherrfcht eine hüchh
ausgebreitete Kenntnifs der hervorragendhen Schöpfungen
der Kirchenmufik. Seine Analyfe der einzelnen
Hauptwerke und ihre Vergleichung miteinander bekundet
ein ebenfo eindringendes, wie feines Verhändnifs, und
bietet im Einzelnen viel Schönes und Belehrendes.
Giefsen. Gg. Sehl off er.