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Ausgabe:

1884 Nr. 6

Spalte:

146-147

Autor/Hrsg.:

Oldenberg, Friedrich

Titel/Untertitel:

Johann Hinrich Wichern. Sein Leben und Wirken. 1. Bd., 2. u. 3. Buch 1884

Rezensent:

Schlosser, Georg

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 6.

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letzteren die Uniterblichkeit der Seele und die Einhei. j begreifen. Sehe ich recht, fo ift diefer letzte Gedanke
des Selbftbewufstfeins tiefer haben begründen wollen j das Wichtigfte in ethifcher und religiöfer Beziehung

Darüber hat Kant wirklich keinen Zweifel gelaffen, dafs
nach feiner Meinung eben wegen des Merkmals der Beharrlichkeit
der Subftanzbegriff nur auf Erfcheinungen,
nicht auf Dinge an fich anzuwenden ift. Und die erlte
Analogie der Erfahrung dahin zu interpretiren, wie es

Und ihm mufs ich widerfprechen. Es kommt in ihm
wieder zum charakteriftifchen Ausdruck das Schwanken
des Verf.'s zwifchen einer metaphyfifchen Begründun"
der ethifch-religiöfen Weltanficht und zwifchen einer
Stützung der Metaphyfik auf den Eigenwerth der ethi-

der Verf. thut, dafs das Beharrliche, von dem dort die fchen und religiöfen Ideen. Macht man fich klar, dafs
Rede, ftatt der Materie im Räume (Kirchm. S. 246—247) . die .idealen Ziele des Lebens' in ihrer fpeeififeh chrift-
das Ding an fich des wahrnehmenden Subjects fei, ift, ! liehen Geftalt, wie fie doch auch für den Verf. gelten,
gelinde gefagt, kühn. ■ ' trotz ihres berechtigten Anfpruchs auf Allgemeingültig-

Was nun den befonderen Inhalt der beiden Schrif- j keit, doch dem natürlichen Geiftesleben und anderen
ten anlangt, fo enthält die erfte in ihrem II. Theile eine : fittlichen Idealen gegenüber eine Ueberlegenheit be-
anfprechende Kritik der Verkennung der Freiheit insbe- j haupten, welche den Gegenfatz einfchliefst, fo bedarf
fondere durch den Materialismus, Schopenhauer und . man anderer Stützpunkte für die Gewinnung und Erhalt-
Hartmann. Der erfte Theil begnügt fich, durch pfycho- | ung der Ueberzeugung, dafs fie die bewegenden Mächte
logifche Analyfe des Wollens aufzuweiten, dafs der j des Weltproceffes find, als die Erkenntnifs, dafs die
Willensact eine Wahl zwifchen gleichzeitig fich dar- ; phänomenale Welt von und in lebendigen Wefen, die
bietenden Motiven ift, dafs alfo der Wille in ihm fich ! Momente einer abfoluten Perfönlichkeit find, producirt
felbft das Gefetz giebt, und den Unterfchied diefer Wahl j wird. Diefe ,Geiftigkeit überhaupt' der Welt ift des ver-
zwifchen Motiven von der reinen Willkür ins Licht zu t fchiedenften Inhalts fähig. Ja, ob die höchfte Macht diefe
ftellen. Diefe blofs pfychologifche Betrachtung fichert | untere natürliche Welt als wirkliche aufser uns oder als
aber noch nicht gegen den Einwurf, dafs die Motivirung 1 phänomenale in uns producirt, das ift für die Frage, ob
eben ein feinerer Mechanismus der Determination fei; fie diefelbe als Mittel für die höchften fittlichen Zwecke
um die Freiheit zu begreifen, welche Correlat der Ver- geordnet hat, gänzlich irrelevant. Ueber den garftigen
antwortlichkeit ift, mufs man fich, was der Verf. prin- j Graben, der zwifchen jenen idealen Zielen und der er-
cipiell vermeidet, auf den ethifchen Inhalt einlaffen. fahrungsmäfsigen Befchaffenheit der Welt klafft, hilft
Die zweite Schrift, deren Titel übrigens nur 100 von j kein Wiffen, fondern nur der Glaube an Chriftus hinweg,
den 186 Seiten entfprechen, ift jedenfalls durch die bc- Giefsen T r.nnfrh;^

rühmte Wiener Preisaufgabe veranlafst. Die Lehre von j_____j. -joiliuuck.

der Idealität des Raumes und der Zeit ift nun Peines- ; Oldenberg, Friedr., Johann Hinrich Wichern. Sein leben

Fo£ Und IJJWft Nach Schriftlichen Nachlafs und

SSb'eflÄ ehr Moment dfrfelben. Dadurch be- den Mitteilungen der Familie dargeftellt. 2. u. 3.
kommen natürlich die Erörterungen, welche der Verf. Buch: Die Studienzeit. Der Candidat Wichern. Anunter
dem Druck einer fremdartigen Aufgabe anftellt,
oft etwas recht Schiefes, fofern auf Rechnung des einen
Factors gefetzt wird, was dem Ganzen der idealiftifch.cn
Weltanficht Lotze's zu Gute gerechnet werden müfste.

Im engen Anfchlufs an Lotze weift der Verf. zu-
nächft die Unmöglichkeit nach, den Raum und die leere
Zeit als Realität aufser dem Bewufstfein zu faffen. Kant

fänge feiner Wirkfamkeit. Das Rauhe Haus. Mit dem
(Lichtdr.-)Bilde des alten Rauhen Haufes. Hamburg,
Agentur des Rauhen Haufes. — Mauke Söhne, 1883!
(VIII u. S. i49~347. gr. 8.) M. 3. —
Dem in Nr. 1 d. J. befprochenen I. Bande ift der
mit Spannung erwartete II. Band diefer Biographie ge-

hat foweit Recht, aber Unrecht darin, die heutigen Total- j folgt. Er enthält das zweite und dritte Buch und
anfehauungen von Raum und Zeit für angeboren zu 1 umfafst in den oben erwähntea Abfchnittcn die wichhalten
(vgl. Kant's Erklärung coneeptus uterque proeul tigen und entfeheidenden Jahre geiftigen Werdens und
dubio acquisitum est, de mundi sens. et int. forma §15- Wachfens und des Eintretens in jene Arbeit, aus
Coroll.) und ihnen lediglich fubjective Bedeutung zuzu- welcher, wie aus einem Keime, die bedeutungsvolle
"eftehen Vielmehr find die räumlichen Beziehungen, Wirkfamkeit Wichcrn's auf dem Gebiet der inneren
welche wir zwifchen den erfcheinenden Dingen wahr- j Miffion herausgewachfen ift. Faft wie eine Novelle lieft
nehmen, ein Gegenbild der intelligiblen Beziehungen, | fich die feffelnde Schilderung der Fahrt zur Univerfität
welche zwifchen den realen Wefen obwalten, und die Gottingen. Das Herz des Jünglings ift weit geöffnet für
Anfchauung des zeitlichen Verlaufes, aus der erft durch alle Eindrücke in Natur und Menfchenleben. Ueberall
Abftraction die Totalanfchauung der Zeit und die An- jpinnen fich fchon die Fäden an, an welche die fpätere
ficht von dem Vorhandenfein der leeren Zeit entfpringt, ! Ihatigkeit anknüpft. Erquicklich ift der tiefe Ernft, mit
ift der directe Wiederfchein der Succeffion des Wirk- , dem der fchon in fchweren Lebensführungen gereifte
liehen Während bei der Annahme der Realität von [ Jungling feine Studien erfafst. Befonders nahe tritt er
Raum und Zeit das geiftige Leben als Accidenz an der ; Profeffor Lücke. Eng verbunden fchaart fich um ihn ein
materiellen Wirklichkeit erfchien, Hellt es bei der Er- . Kreis hochftrebender Freunde. Eine ganz vortreffliche
kenntnifs von ihrer Idealität fich als das Primare heraus; : Auswahl aus W. s Briefen giebt einen lebendigen Einwährend
im erfteren Fall die caufale Zufammengehöng- 1 druck feines inneren und äufseren Lebens. ,Meine
keit der Welt aufgehoben und die teleologifche Welt- ; Freude', fo fchreibt er in einem Briefe an feine Mutter,
anficht erdrückt, fomit dem Sittlichen und dem ,religiöfen , .finde ich in meinen Arbeiten, die fich ja alle auf
Gefühl' dieVorausfetzungen abgefchnitten wurden,werden j das J.iebfte und Theuerfte beziehen; — ferner in meinen

Raum und Zeit als Anfehauungen der Ordnung und Zu
fammengehörigkeit alles Wirklichen vielmehr zu Confe-
quenzen&der Welteinheit und des göttlichen Lebens und

freunden, die mir grofse Liebe und Freundfchaft,
mehr als ich zu erwarten wagte, beweifen; drittens finde
ich fie in den Stunden, da ich an Euch zurückdenke

zu Mitteln der Realifirung des zweckmäfsigen Weltpro- die Ihr vor Allen meinem Herzen die nächften feid, und
ceffes Sowird es uns leichter.dieAllwirkfamkeit, Allgegen- | an die theuren Freunde in Hamburg, unter denen ich
wart u f w Gottes in der Welt uns vorzuftcllen; wir j wie unter Brüdern und Schwertern gelebt habe'. Von

fühlen uns wohler und heimifcher in diefer durchaus
geiftigen Welt: jetzt bietet fich die Ausficht, die idealen
Ziele des Lebens auch als bewegende Kraft der Außenwelt
, als Grund und Ziel des ganzen Weltproceffes zu

der Freiheit feines wiffenfchaftlichen Forfchens giebt ein
Brief an Senator Hudtwalcker Zeugnifs. Darin führt er
u. a. aus: ,Die von dem ewigen Gottesfohn zeugende
Schrift mit allen wiffenfchaftlichen Mitteln prüfend

zu