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Ausgabe:

1884 Nr. 4

Spalte:

100-101

Autor/Hrsg.:

Thönes, Carl

Titel/Untertitel:

Der Herr ist mein Hirt. Predigten 1884

Rezensent:

Löber, Richard

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99 Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 4. 100

kann fie jeden Augenblick, fo bald die Umftände danach
angethan find, wieder geltend machen (z. B. der Erbe
Georg's V auf das Königreich Hannover, der Papft auf
-den Kirch enftaat). Zu anderen Zeiten hat man auch
eine ganz andere Tonart vernommen. Man lefe z. B.,
was 1857 der Theatiner-Pater Ventura in feinen vor
Napoleon III gehaltenen Faftenpredigten über das ,legi-
time1 Haus der Bourbonen und das fehr illegitime Empire
gefagt hat (,Die chriftliche Politik. Conferenzen
u. f. w. Deutfch v. Külb'. Mainz, Kirchheim. S. 440 ff.).
Gegebenen Falls würde das Arfenal jefuitifcher Cafuiftik
auch dafür wieder die Mittel mit Leichtigkeit bieten.

Der Kundige wird in dem Buch des Herrn v. Hammerflein
nichts finden, was ihn überrafchen könnte. Es
find die alten, niemals aufgegebenen Prätenfionen mit

der Staat ift alfo der Religion untergeordnet, mufs
weichen, wenn eine Collifion entfleht. Nun widerflehe,
wer da kann, dem Cardinal Bellarmin' u. f. w. Ein Staat,
der fich auf die Pflege der zeitlichen, diesfeitigen In-
tereffen befchränkt, fei es im Sinne des blofsen Rechtsoder
Polizeiftaates oder als religionslofer Culturftaat,
wird zuletzt der Zumuthung nicht ausweichen können,
fich der Kirche als der Pflegerin der höheren, ewigen
Güter zu unterwerfen, wenn er fie nicht direct oder in-
direct verfolgen will. Ein Ausweg aus diefem Dilemma
ift nur dann möglich, wenn die Pflege des religiöfen
Lebens im Volke in die Gefammtaufgabe des Staates
mit aufgenommen wird, fo jedoch, dafs fie darum nicht
fecularifirt wird, fondern für eine in corporativer Selb-
ftändigkeit handelnde Kirche Raum bleibt.

den,?el^lgUmfnt1u vV- d,em der Ausgangs- j Darmfiadt. K.Köhler,

punkt ieltlteht, das kathohfehe Kirchenpnncip, ergiebt

Thon es, Pfr. Lic. Dr. Carl, Der Herr ist mein Hirt. Predigten
. Leipzig, Hinrichs, 1883. (VI, 282 S. gr. 8.)

fich Alles confequent von felbft. Intereffant ift das Buch
nur infofern, und hier liegt in der That ein hohes In-
tereffe, als es zeigt, was man bereits fordern zu können
meint. Und doch geht der Verf. immer noch verhält- M- 4- 5°; geD- «l. 5- 5°-

nifsmäfsig vorfichtig zu Werke und enthüllt nicht die | Die Predigten des Herrn Lic. Dr. Thönes zeugen
letzten Ziele. Was fein Vorgänger Bellarmin über das 1 von einer gründlichen theologifchen^Bildung, fchon indem
Recht des Papftes, ketzerifche Könige abzufetzen, und | fie nicht herausfordernd, fondern fehr befcheiden auf-

die Pflicht der Unterthanen diefe Abfetzungsurtheile zur
Ausführung zu bringen (durch Empörung), gefagt hat,
folgt ebenfo richtig wie vieles Andere aus dem an die
Spitze geftellten Begriff; gleichwohl hat der Verf. für
gut gefunden, es mit Stillfchweigen zu übergehen. {Dis-
putat. de controv. etc. Tom. I, p. 1109. Non licet Christianis
tolerare regem infidelem aut haereticum, si ille conetur per-
trahere subditos at suam haeresim vel inßdelitatem; at

treten. Ein reicher Gedankenfloff ift hier verarbeitet zu
reinen und anfehaulichen Gehalten, wenn auch hie und
da der Staub der theologifchen Werkftätte noch nicht
ganz entfernt wurde. Es ift charakteriftifch für die
Predigtweife des Verf.'s, wenn er S. 89 fagt: Wahrheit
nennen wir die Erkenntnifs des Wefens der Dinge; lie
ift entgegengefetzt dem Schein, dem Irrthum und der
Lüge. Nun, in der That, folche Erkenntnifs des Wefens

judicare, an rex pertrahat ad haeresim, nec ne, pertinet ad der Dinge, des Wefens alles deffen, was da ift, hat uns
Pontificem, — ergo Pontificis est judicare, regem esse depo- der Heiland gebracht. Nicht zwar in dem Sinne, als ob
nenduni). Die criminelle Beftrafung religiöfer Verbrechen I er nach Art menfehlicher Wiffenfchaft das Wefen und
wie Ketzerei und Schisma fordert er correcter Weife | den Zufammenhang alles deffen, was im Himmel und auf
gleich feinem Vorgänger als eine Pflicht des Staates, ! Erden ift, uns erklärte, wohl aber in dem Sinne, dafs
doch nennt er nur die Altkatholiken (S. 86). Die Duldung er das rechte Verhältnifs uns aufzeigt, in welchem wir
der Proteftanten läfst er — obwohl nur da, wo die Um- 1 mit allem, was uns umgiebt, zu unferm Gott flehen follen.
ftände fie unvermeidlich machen, und unter dem Vor- I Die Gottesgedanken thut er uns kund, welche in uns
behalt, dafs nichts gefchehen dürfe, was eine Aner- Menfchen und dem ganzen Kreife der Schöpfung nieder-
kennung der Ketzerei in fich fchliefsen könnte, — zu gelegt find'. Da erfcheint es dann nicht genügend ver-
(S. 183 ff.), principiell mit Bellarmin übereinftimmend, mittelt, wenn der Verf. auf derfelben Seite nebenbei
der jedoch in der praktifchen Forderung kühner auf bezeugt, dafs der Erlöfer uns in die rechte Stellung zu

das Ziel losgeht, z. B. /. c. p. 696: Si quidem potestfieri,
sunt proculdubio extirpandi (haeretici): si autem non possunt,
quia — sunt fortiores nobis, — lunc quiescendum est. Er
weifs aus der Erfahrung, dafs Verfolgung gegen die
Ketzerei hilft, /. c. p. 693: Experientia testatur, non protzet
terroribus. Respondco, experientia est in contrarium.
Wie lang würde es dauern, bis man ähnliche Rathfchläge
zu hören bekäme, wenn erft einmal das erreicht wäre,
was zunächft als katholifches Recht gefordert wird?
So viel geht auch aus diefer neueften Kundgebung
abermals hervor, dafs die römifche Kirche nach der
Idee des Jefuitismus und der aus der Reformation geborene
heutige Staat zwei Gröfsen find, welche fich
gegenfeitig ausfchliefsen, und zwifchen welchen es fich
nur um Sein oder Nichtfein handeln kann.

Einem Hauptfatze des Verf.'s mufs man übrigens
zuftimmen (S. 92): es ift nicht möglich, dafs Staat und
Kirche in gegenfeitiger Unabhängigkeit neben einander
beftehen. Entweder die Kirche ift im Staate, wie dies
die heutige proteftantifche Staatslehre will, oder der
Staat ift in der Kirche nach der Forderung des Katho-

Gott, zu den Menfchen, zu uns felbft und zu allem
hineinbringt. Doch fcheint aus dem Fundamentalgedanken
des Verf.'s allerdings diefes zu folgen: Die voll-
kommenfte Verkörperung der Gedanken Gottes fehen
wir in Chrifto, dem ewigen Worte. Nun ift zwar jeder
Menfch ein verkörperter Gottesgedanke, wenn er fich
mit Chrifto zufammenfchliefst, in dem Alle zur Seligkeit
verordnet find. Doch losgeriffen von ihm ift der Menfch
ein unverftändliches Bruchtluck, eine nicht zu entziffernde
Hieroglyphe, ein Confonant, welcher fein A und O noch
nicht gefunden hat. Daher will der menfehgewordene
Chriftus es bewirken, dafs die von ihm entfremdeten
Menfchen fich ihm zuwenden und in ihm die Wahrheit
ihres Lebens finden. Nach den Prämiffen des Verf.'s
könnte es befremden, dafs er ,den wahren Zufammenhang
der Dinge und der Wahrheit felbft' weniger in der
Perfon Jefu felbft und in dem perfönlichen Verhältnifs
zu ihm, als in feiner den Zufammenhang der Dinge
deutenden Lehre und in feinem Vorbild findet. Selbft
in der Karfreitagspredigt tritt die mit Gott und mit
der Menfchheit fich zufammenfaffende Perfon Jefu und

licismus. In jedem von beiden Fällen ift eine indirecte die von ihm auf Himmel und Erde ausgehende Wirkung

Hegemonie des einen Theils über den anderen gegeben
Zuftimmen mufs man endlich auch dem vom Verf. als
Gewährsmann angeführten ,proteftantifchen Philofophen
Mendelsfohn' [sie S. 102): ,Staat und Kirche, Sorge für
das Zeitliche und Sorge für das Ewige, bürgerliche und
kirchliche Autorität: jene verhält fich zu diefer wie die
Wichtigkeit des Zeitlichen zu der Wichtigkeit desEwigen;

weniger hervor, als man gerade an folchem Tage erwarten
mufste. Zwar wird es bezeugt, dafs ,Chriftus
die Sünde der Seinen in das Grab mit begrub'(107) und
dafs er für uns geftorben fei (102); aber diefe Gedanken
flehen, ohne den Hauptftrom der Ideenentwicklung zu
durchdringen, unvermittelt daneben, und felbft das ,fur
uns' wird fo gewendet, dafs Chriftus ,für uns' das Vor-