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Ausgabe:

1884

Spalte:

71-72

Autor/Hrsg.:

Reinkens, Jos. Hub.

Titel/Untertitel:

Lessing über Tolenranz 1884

Rezensent:

Wächtler, August

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 3.

72

barung der Gnade Gottes in der auf uns gerichteten
Liebe Chrifti, das find Fragen, die Krüger nicht in den
Sinn kommen. Wie viel könnte diefe Claffe von Theologen
von einem Confeffionellen wie v. Hofmann lernen!

Giefsen. J. Gottfchick.

Reinkens, Bifchof Dr. Jof. Hub., Lessing über Toleranz.

Eine erläuternde Abhandlung in Briefen. Leipzig,
Grieben, 1883. (IV, 173 S. 8.) M. 3. —

,Leffing's Toleranzlehre ift in aller Munde, doch
nicht in allen Köpfen, und noch viel weniger ihr Geift
im Herzen aller. Seine Gründe gegen die häfsliche und
das Glück der Menfchen zerftörende religiöfe Unduld-
famkeit hat noch niemand von einem pofitiv religiöfen
Standpunkte aus zu widerlegen vermocht, oder im Zu-
fammenhange zu widerlegen auch nur ernftlich verfucht'.
Die Angriffe gegen Leffing's Lehre haben fich in der
Regel gegen feine Perfon gerichtet und darauf gegründet,
dafs derfelbe das Chriftenthum nicht aus einer übernatürlichen
Offenbarung herleite. Andere, welche Leffing
nicht verdammen wollen, fchieben dem Begriff der Toleranz
den der Gleichgültigkeit unter. Beides hat den
Verf. bewogen, L.'s Lehre über Toleranz dem deutfchen
Volke im Zufammenhang darzuftellen. Die Form ift die
von Briefen an einen Freund, welcher ihm die Frage
vorgelegt hat, ob die Wahrheit in Sachen der Religion
an fich intolerant fei, oder ob es im Wefen der religiöfen
Wahrheit liege, die Gläubigen intolerant zu machen.
Die Antwort wird überall mit L.'s Worten gegeben,
welcher den abfoluten Werth der Wahrheit lehrt und
die verächtliche Trägheit des Geiftes, wo es fich um
religiöfe Ideen handelt, ebenfofehr verabfcheut, wie den
frivolen Spott. Mit grofser Sorgfalt ift der Verf. den
Spuren des Toleranzgedankens in L.'s Schriften, von
den früheften bis zu den letzten, nachgegangen, und führt
nun den Lefer Schritt für Schritt tiefer hinein in die
Ueberzeugung desfelben, dafs die lautere Wahrheit und
die lautere Liebe im Urfprung ein und dasfelbe feien.
Im Ringen nach den höchften Schätzen ift die Liebe
Toleranz, welche weder Gleichgültigkeit noch Mangel
an Energie bedeutet, fondern Liebesthat ift, fo dafs die
Liebe des Nächften und die Duldung desfelben in feiner
Ueberzeugung fich zu einander verhalten wie Urfache
und Wirkung. Die Verwerflichkeit der Intoleranz wird
durch reiches hiftorifches Material iliuftrirt. Urfachen
der Intoleranz find 1. Furcht, die Wahrheit fei in Gefahr,
2. Verwechslung der von Menfchen formulirten Dogmen
mit der Wahrheit an fleh, 3. Unklarheit falfcher Myftiker,
4. Vorausfetzung böfen Willens in den wirklich oder
angeblich irrenden. Die hiftorifchen Beifpiele reichen
bis in die neuefte Kirchengefchichte, und wenn auch
der Hauptpaftor Goeze als Repräfentant einer ganzen
Reihe intoleranter Proteftanten bezeichnet wird, deren
Anfchauungen bis auf die Reformatoren, ja bis in
gelegentliche Aeufserungen Luther's zurückgehen, fo
läfst der Verf. der proteftantifchen Kirche die Gerechtigkeit
widerfahren, dafs er bekennt, diefelbe habe die
Intoleranz principiell überwunden. Für die Praxis der
römifchen Curie aber hat auch die Unterfcheidung zwi-
fchen formaler und materialer Härefie nie Werth und
Bedeutung gehabt. Die mittelalterliche dogmatifche An-
fchauung ift in der römifchen Kirche mafsgebend geblieben
, und ,der gegenwärtige Papft hütet diefelbe fo
treu wie feine Vorgänger; zwifchen ihm und Pius IX.
befteht nur der Unterfchied, dafs er, wo diefer fchalt,
lächelt, weil er weifs, dafs dies Lächeln auf die Grofsen
der Erde einen vorzüglichen Eindruck macht'. Man würde
aber irren, wenn man hiernach annehmen wollte, der
,katholifche Bifchof, als welchen der Verf. fich recht-
mäfsig auf dem Titelblatt bezeichnet, habe mit feiner Abhandlung
eine antirömifche Schmähfchrift geliefert. Diefelbe
trägt vielmehr einen faft zu akademifchen Charakter

und zwar namentlich auch deshalb, weil als Gegner der
Intoleranzlehre vorzugsweife die Vertreter eines pofitiv
chriftlichen Standpunktes bekämpft werden, während den
ihr mindeftens ebenfo gefährlichen Freunden ihr Recht
nicht wird, welche das Chriftenthum keineswegs in dem
vom Verf. fo fchön entwickelten ,erhabenften Sinne' des
Wortes die Humanitätsreligion nennen.

Von ,Nathan' ift erft im zwanzigften Briefe die Rede,
weil Leffing hier nicht die Unduldfamkeit überhaupt, fondern
die Unduldfamkeit gegen ganze Stände, gegen Con-
feffionen und Völker bekämpft. Die Rechtfertigung des
Verfahrens, welches Leffing im Nathan einfchlägt, ift
ebenfo lehrreich wie glücklich. Leffing's Stellung zur
Offenbarungsreligion wird mit liebevollem Verftändnifs
klar gelegt, und die umfaffende Kenntnifs der Schriften
L.'s, welche der Verf. beweift, bringt auch für gewiffe
Apologeten des Chriftenthums und feines übernatürlichen
Charakters die werthvollften Fingerzeige. Der Frage,
warum Leffing als die idealfte Geftalt feines Toleranzdramas
einen Juden verherrlicht habe, begegnet der Verf.
nicht nur mit der Gegenfrage, warum Chriftus einen Samariter
als Mufter der Nächftenliebe gewählt und wieder
einen Samariter als Vorbild gläubiger Dankbarkeit anerkannt
habe, fondern auch durch den Nachweis, dafs
fchon bei Boccaccio ein Jude die Gefchichte erzähle,
und dafs Leffing den Plan zu einem Trauerfpiel gehegt
mit dem Titel: ,Der fromme Samariter nach der Erfindung
des Herrn Jefu Chrifti'.

Im Vorwort fpricht der Verf. es felber aus, er
muthe dem Lefer zu, ,dafs er denke'. Je feltener
denkende Lefer find, defto mehr wünfehen wir folche
diefem Buche, namentlich unter denen, welche fich für
Freunde der Toleranz und Leffing's halten.

Halle a/S. A. Wächtlcr.

Bau r, Willi., Geschichts-und Lebensbilder aus der Erneuerung
des religiöfen Lebens in den deutfchen Befreiungskriegen
. 1. Bd. 4. Aufl. Hamburg, Agentur des Rauhen
Haufes, 1884. (XII, 432 S. gr. 8.) M. 4. —; geb.
M. 5. —

Vom Rhein, wohin Gottes Hand den Verf. aus dem
füllen heffifchen Landpfarrhaufe, von dem er dies Buch
vor zwanzig Jahren zum erftenmale ausgehen liefs, in ein
hohes Kirchenamt geführt hat, widmet er es zum vierten-
male den Freunden, den alten, und den neuen, die fich
auf feiner Lebenswanderung den alten zugefellt haben.
,In der freien Luft, in der warmen Luft des wieder-
erftandenen deutfchen Reiches, fo fchreibt er, darf ich
dies Buch aufs neue entfenden, das auch an feinem Theil
in trüben Tagen das Gelübde zu halten befliffen war:

,Wir woll'n das Wort nicht brechen,

Nicht Buben werden gleich,

Woll'n predigen und fprechen

Vom Kaifer und vom Reich'.
Es hat's wahrlich gethan in einer Zeit, da Deutfch-
lands Ehre und Gröfse noch tief darniederlag, und hat
in weiten Kreifen dazu geholfen, die Begeifterung für
das Vaterland und die Hoffnung auf die Zukunft zu
beleben. Es ift mannhaft eingetreten für das Ideal, das
dem Verf. vorfchwebt: ,dafs ungefchieden bliebe, was
Gott zufammengefügt: deutfehes Volksthum und evange-
lifches Chriftenthum!' Mit feiner weitherzigen Frömmigkeit,
feinem warmen Verftändnifs für das Göttliche und Grofse
in den verfchiedenften Formen und Individualitäten, feiner
von edler Begeifterung durchhauchten Diction, wird es
in unferen Tagen, da man wieder mehr Verftändnifs für
jenes Ideal zu gewinnen anfängt, für feine Verwirklichung
nicht weniger wichtige Dicnfte leiften können.

Giefsen. Gg. Schloff er.