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Ausgabe:

1884 Nr. 25

Spalte:

610-611

Autor/Hrsg.:

Hartlieb, K.

Titel/Untertitel:

Der Eid und der moderne Staat 1884

Rezensent:

Köhler, Karl

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6og Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 25. 6lO

ein Gegenstand desjenigen Glaubens, der aus dem Ver-
ftändnils des Evangeliums die Kraft nimmt, die Welt
und das eigene Ich in dem neuen Lichte zu fehen,
welches von Chriftus ausftrahlt. Beide find für den
Chriften nur infofern wirklich, als er Chriftum verfteht
und fich zu Herzen nimmt. Es find das, kurz gefagt,

Hartlieb. Pfr. K., Der Eid und der moderne Staat. Eine
theologifche Studie. (Zeitfragen des chnltlichen
Volkslebens62.Hft.) Heilbronn, Gebr. Henninger, 1884.
(72 S. gr. 8.) M. 1.20.

Die vorliegende kleine Schrift befpricht eines der

ideale Gröfsen, welche die Gründe ihrer Realität verlieren, fchwierigften und verhängnifsvollften Probleme, welche
wenn man fie von dem Vcrftändnifs des Evangeliums die heutige kirchenpolitifche Lage in Sich birgt. Der
ablöft und als empirifche Thatfachen behandelt. Der Eid, feinem Wefen nach eine religiöfe Handlung, Steht
Verf. thut das Letztere und Stellt die lAorfchung nach innerhalb des heutigen Staates, welcher die bürgerlichen
der Entftehungsweife bei Dingen an, deren Wirklichkeit Rechte von dem Reigionsbekenntnifs unabhängig gemacht
ledicrhch durch ein Glaubensurtheil feftgeftellt wird, deren und feine Institutionen mehr und mehr von allen reli-
Entftehung alfo Sicherlich nicht in dem Bereiche menfeh- giöfen Beziehungen gelöft hat, im Grunde als ein fremdlicher
Eorfchung liegt. Der Verf. begeht mithin einen artiges Element da. Während denn auch die grofsen
Mifsgriff, an welchem feine Unklarheit über die legitimen ; romanifchen Staaten bereits bis zur Abschaffung des
Aufgaben der Wiffenfchaft ebenfo betheiligt fein möchte, Eides gelangt find — denn fo mufs man fagen, da ein
wie fein Verkennen des übernatürlichen Charakters der , religionslofer Eid, ein .Civileid', wie der Verf. mit Recht
Glaubensobjecte. Viertens wird der Verf. dadurch von hervorhebt (S. 16), ein Widerfpruch in Sich felbft ift, —
den durch den Begriff der Wiedergeburt geforderten hält in Deutfchland die Gcfetzgebung Streng an feiner
theologifchen Aufgaben abgedrängt. Es mufs gezeigt Unentbehrlichkeit feft; die Frage der Beibehaltung des
werden, wie dem Christen aus feinem Verftändnifs Chrifti ' Eides ift bei der Schaffung des neuen Reichs-Procefs-
der Gedanke feiner eigenen Wiedergeburt entsteht, und rechtes mit grofser Mehrheit im bejahenden Sinn entweiche
Bedeutung die auf folchem Grunde ruhende Ge- ; fchieden worden. Aber die ungeheuere Schwierigkeit,
wifsheit der Wiedergeburt für das Sittliche Leben des welche dabei nicht hinreichend gewürdigt worden ift,
Christen hat. Der Verf. ftreift das letztere Thema, wenn liegt darin, dafs die ausgesprochene Religionslosigkeit
er einmal fagt, die Rechtfertigung aus dem Glauben an nicht allein mit voller bürgerlicher Gleichberechtigung
Chriftus fei der tragende Grund unferes Sittlichen Lebens, neben jeder Form des religiöfen Glaubens dafteht, fon-
Die Ausführung fehlt. Wir aber brauchen wahrlich nicht dem auch thatfächlich in weiten Kreifen der Nation verauszuführen
, welche wichtigen praktifchen Intereffen des- breitet ift (man könnte hinzufügen: von den Staaten
halb hier unberücksichtigt bleiben. Vielleicht hat auch felbft in vielen Fällen indirect, nämlich durch die Thätig-
diefe unpraktifche Haltung die oben berührte Klage über keit Staatlich angestellter Docenten, gepflegt wird). Wenn
den zu hohen philofophifchen Ton des Buches mitver- 1 Fälle von Verweigerung des Eides wegen Mangels des
anlafst. Fünftens dürfen wir den Verf. nach alle diefem Glaubens an die zu Grund liegende religiöfe Weltan-
darauf hinweifen, dafs er das Verdienst hat, noch einmal fchauung bis jetzt nur feiten vorgekommen find, fo liegt
recht energifch die Theologie der Scholastiker gegenüber darin — man kann hier dem Verf. (S. 18) nur Recht
den neuen religiöfen Gedanken der Reformatoren zu geben — weniger etwas Beruhigendes als vielmehr etwas
vertreten. Den Chriftenftand aus einer Reihe von Ur- Sittlich und focial höchft Bedenkliches. Die nächfte
fachen zu erklären, war die Aufgabe der Scholastiker; Folge des beftchenden Zuftandes ilt die reifsende Zu-
dafs es vielmehr auf den Nachweis ankomme, wie man nähme der Meineide, und man wird leider dem Verf.
in dem Verftändnifs der Erfcheinung Chrifti fich als ein auch darin zuftimmen m äffen, dafs die erfchreckenden
erlöster Menfeh fühlen könne, war der neue Gedanke ftatiftifchen Zahlen, welche in diefer Beziehung vorliegen,
der Reformatoren. Wir haben auf dem durch diefen noch nicht einmal die Wirklichkeit erreichen (S. 56)]
Gedanken bezeichneten Wege noch viel zu thun. Der da ein bedeutender Theil der alljährlich gefchworenen
Verf. dagegen zieht es vor, die Arbeit der Scholastiker Meineide aus nahe liegenden Gründen nicht zur gericht-
fortzufetzen, bei welcher die Heilsmittel, die Perfon Chrifti liehen Cognition und Bestrafung kommt,
mit eingefchloffen, nicht als Gründe des bewufsten Glau- Den rettenden Ausweg aus diefer Lage, wenn man

bens erfcheinen, fondern lediglich als die geheimnifsvoll ihn einen rettenden Ausweg nennen kann, weifs fchliefs-
wirkenden Urfachen des Heils. Wohl kann und foll fich lieh der Verf. einzig und allein in der Abfchaffung des
der Glaube fagen, dafs fie auch das letztere find; aber Eides zu finden: an feine Stelle habe eine Staatliche
für die theologifche Forfchung können Sie nur in ihrer Straffanction zu treten, welche jede wiffentlich falfche
uns erfchloffenen, den Glauben begründenden Bedeutung Ausfage vor Gericht mit denfelben Strafen bedrohe, die
in Betracht kommen. Wenn wir auf Grund der Erkennt- jetzt auf dem Meineid flehen. Das Princip des modernen
nifs von diefer ihrer Bedeutung das Urtheil ausfprechen, Staates dränge dazu mit unerbittlicher Logik. Ueber
dafs fie die Urfachen des Heils find, fo find wir an der die Folgen macht fich der Verf. allerdings keine Täu-
Grenze angelangt, jenfeit deren es für uns nichts zu fchung. ,Das Motiv der Strafe, welches der moderne
erkennen giebt. Dafs der Verf. den Weg der Scholastiker, Staat — allein anwenden kann, kann Sich mit den reli-
der darüber hinaus in's Leere führt,' fo energifch be- giöfen nicht meffen. — Darum werden fich mit zu-
fchritten hat, ift trotzdem nicht ganz ohne Nutzen. Denn nehmendem Abfall von Gott auch Treulofigkeit, Un-
die Plrfolglofigkeit diefer Art von Wiffenfchaft kann Wahrhaftigkeit und Ungerechtigkeit immer mehr Steigern
doch vielleicht Manchem eine Mahnung fein, auf die in und ausbreiten. Das ift die bittere Frucht aus böfer
der Reformation entfprungene Methode der Theologie Saat. Der moderne Staat hat Wind gefäet und mufs
zurückzugreifen. Die zornigen Worte aber, mit denen nach unabänderlichen Gefetzen Sturm ernten. — Wenn
Frank feine Gegner bedenkt, verrathen wohl nur die dann die Grundwaffer der Gottesleugnung und der Gott-
Unruhe, in welche ihn die Steigende Theilnahmlofig- lofigkeit — aus der Tiefe hervorbrechen, — werden fie
keit, der die fcholaftifchen Beftrebungen begegnen, ver- (die Staaten) wie morfche Gebäude zusammenbrechen,
fetzen mufs. Die Gefchicke der modernen Staaten werden diefelben

Marburg W. Herrmann. ! ™erden dje d« alten Culturftaaten, nach dem ewigen

•Ud s Gefetz, dafs die Staaten ohne Religion zufammenfturzen'.

Mit diefem peffimiftifchen Ausblick (S. 71. 72) fchliefst
der Verf. feine Erörterung. — Sind wir wirklich bereits
fo weit gekommen: Der Verf. erwähnt gelegentlich (S. 55),
dafs man ,fchon oft eine Verbefferung des Staatsbegriffes
im christlichen Geift gefordert' habe, und macht dazu