Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1884

Spalte:

39-40

Autor/Hrsg.:

Riggenbach, Bernh.

Titel/Untertitel:

Das Armenwesen der Reformation. Habil-Vorlesung 1884

Rezensent:

Rade, Martin

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

39

Theologifche Litcraturzeitung. 1884. Nr. 2.

40

fchah's vor dem hohen Rate zu Jeruialem, und fo ge-
fchah es von der Cathedra Petri aus — nach der Menfchen
Recht, aber die Gefchichte revidirt hernach der Menfchen
Urtheil. Darum laffe man doch die Römifchen immer
wieder auf die kirchliche Revolution des 16. Jahrhunderts
fchmähen und grofse Bücher wider fie fchreiben — fie
können ja nicht anders nach ihrem Rechte und nach
dem Geifte, der fie gebunden hält. Die Gefchichte hat
auch hier fchon ihr Zeugnifs abgelegt. Aber Argumentationen
, wie fie der Verf. vorbringt, werden nur wenig
zur Widerlegung der Gegner helfen.

Magdeburg. Kawerau.

Riggenbach, Lic. Dr. Bernh., Das Armenwesen der Refor- |

mation. Habilitations-Vorlefung. Bafel, Schneider, 1883.
(56 S. 8.) M. 1. —

Der Verfaffer hat das Verdienft, den Gegenftand
zum erften Male umfaffend und eindringend behandelt
zu haben. Was er bietet, ergänzt und fetzt fort, was
Uhlhorn in feinen ,Vorftudien zu einer Gefchichte der j
Liebesthätigkeit im Mittelalter' (Z. f. KG. 4, 1) gegeben |
hat, wie wir denn von desfelben vielverfprechendem
gröfseren Werke ohne Zweifel eine Behandlung des
gleichen Themas in grofsem Zufammenhange zu erwarten
haben. Mit Freuden wird aber den vorliegenden Beitrag
begrüfsen, wer der Ueberzeugung ift, dafs die Kirchen-
gefchichte nur dann das Ihre leiften kann, wenn fie zu
einer chriftlichen Culturgefchichte fich erweitert; denn
es eröffnen fich dann der Forfchungsgebiete und Probleme
fo viele, dafs die Arbeit mit vereinten Kräften
gethan werden mufs. Die Erkenntnifs, dafs die Kirchengefchichte
gerade den Bereich des focialen Lebens mit
in ihren Kreis ziehen müffe, ift, ob auch unabhängig
von diefem leidigen Anftofs fchon hier und da erwacht,
offenbar mächtig gefördert worden durch Janffen's Gefchichte
des deutfehen Volkes. Weshalb haben fich viele
von deffen erlfem Bande fo fehr imponiren laffen? Weil
er in den Rahmen feiner Gefchichtsdarftellung, die doch
ihrer ganzen Tendenz nach Kirchengefchichte giebt und
nichts anderes, Gebiete zog, welche bei unferem gewöhnlichen
Betriebe der Kirchengefchichte terra incognita
oder doch inculta bleiben. So grofs nun der Gewinn ift,
welcher nicht nur der hiftorifchen Wiffenfchaft, fondern
auch der kirchlichen Praxis daraus erwachfen mufs, wenn
das Intereffe gerade der Kirchenhiftoriker den fog. cultur-
gefchichtlichen Fragen fich zuwendet, fo grofs ift die
Arbeit, welche da zu thun ift. Als einen dazu Berufenen
weift fich der Verf. durch feine akademifche Antritts-
vorlefung aus.

Nachdem S. 1 —12 die verfchiedenen Begriffe der
mittelalterlichen Kirche und der Reformation von Armuth
und Reichthum, Almofen und Bettelei, Arbeit und Otium
charakterifirt und beurtheilt find, erfolgt eine Darfteilung
der von der Reformation zur Verhütung und Plebung
der Armuth getroffenen Veranftaltungen auf Grund von
48 Kirchen- und Kaftenordnungen, nämlich 40 lutherifchen
und 8 reforrrfirten, wovon nur 10 befondere Armenordnungen
find. 41 bot ihm Richters Sammlung; 5 entnahm
er anderen Werken, nämlich Zürich 1520, Strafsburg
1523, St. Gallen 1524, Zürich 1525 refp. 1533 und
London (hier wird uns die Jahreszahl vorenthalten: es
ift die des Johannes a Lasco von 1550); endlich benutzte
er 2 Bafeler Ordnungen von 1537 und 1590, welche feit-
dem nicht wieder gedruckt worden find. Er verzichtet
darauf, die Verwandtfchaft der Ordnungen unter einander
bis ins Einzelne darzuftellen; über das Nöthigfte unterrichten
die Anmerkungen. Bugenhagen mit feiner Braun-
fchweiger Kirchenordnung von 1528 überragt alle an
klarem Verftändnifs der Frage und organifatorifchem
Talent; fo ift auch ihm das an fich fo auffallende Ueber-
gewicht lutherifcher Ordnungen zu danken. Mit Hülfe
eines immerhin reichlich zu nennenden Materials entwirft

nun der Verf. ein höchft anfehauliches und unterrichtendes
Bild von dem Armenwefen der Reformation und weift;
nach, wie mit dem Beginn der Reformation ohne Verzug
der Kampf gegen den Bettel auf der ganzen Linie eröffnet
wird. Zwei Wege werden eingefchlagcn: 1) ein
gemeiner Kalten mufs für die kirchlichen Bedürfnifse
(Befoldung der Kirchendiener, Bauten u. f. w.) und für
die Armenverforgung zugleich*dienen, 2) ein befonderer
Armen kalten wird errichtet (Bugenhagen und die Re-
formirten). Daran fchliefst fich nun eine Fülle verfchie-
dener und doch von Einem Geifte getragener Vorfchriften:
z. B. über I leranziehung des Laienelcments zum Dicnlte
an den Armen, Collecten, Armen-Erziehung, -Vcrhei-
rathung, -Pflege und -Beerdigung. Bezeichnend ift, dafs
erft die Reformation den Grundfatz geltend gemacht hat,
dafs die Spitäler auch Heil anftalten fein follen; im
Mittelalter waren fie nur Verforgungshäufer.

Die Vorwürfe, welche von den Römifchen feiner Zeit
und bis heute gerade der Armenpraxis der Reformation
gemacht worden lind, geben zum Schlufs dem Verf.
Veranlaffung, in eine lebhafte Polemik einzutreten, die
noch durch manches fchlagende Wort in den Anmerkungen
unterltützt wird. So gewinnt der Vortrag eine
praktifche Spitze, die ihm wahrlich nicht zum Schaden
gereicht. Mehr von folchen Arbeiten, und das Gerede
wird bald aufhören, als ob die römifche Kirche zur
Löfung der focialen Frage mehr leifte, bez.. zu leiften berufen
fei als die evangelifche.

Die 28. Anm. ift uns der Verf. fchuldig geblieben.
Zum fyftematifchen Theil hätte Uhlhorffs trefflicher Vortrag
: Die Arbeit im Lichte des Evangeliums betrachtet.
Bremen 1877, citirt werden können. Und wenn noch
ein Defiderium ausgefprochen fein foll, fo wäre es dies,
dafs man über die den Kirchenordnungen entfprechende
Praxis eine noch ficherere und genauere Auskunft wünfeht,
als fich dem ohne Zweifel richtigen Schlufs aus dem
,Ingrimm der Bcttlerhorden' (S. 35) entnehmen läfst.
Referent ift nicht in der Lage zu bcurtheilen, inwieweit
es möglich fein würde, folche Auskunft zu geben.

Schönbach. Rade.

Sepp, Pred. Dr. Chriftiaan, Bibliographische Mededeelingen.

Leiden, Brill, 1883. (273 S. gr. 8.)

Eine neue Probe der unermüdlichen Arbeitsluft; und
der exquifiten Gelehrfamkeit des jetzt im Ruheftande
lebenden Leidener Mennonitenpredigers Dr. theol. Chr.
Sepp (f. über die letztvorangegangenen Arbeiten meine
Berichte in diefer Zeitfchr. 1879, Nr. 22 u. 1881, Nr.
24.) Der Inhalt des gegenwärtigen Bandes ift folgender:
1) Stella Clericormn, een stichtelijhgeschrift nit de i5<t'eeuw.
Bei den neueren Verhandlungen über die religiös-kirchlichen
Zuftände des 15. Jahrhunderts ift diefe nicht gerade
befonders charakteriftifche, aber doch intcreffante Schrift
(ein kräftiger Appell an die Geiftlichcn, ihres hohen, befonders
durch die Berechtigung zum Mefsopfcr geheiligten
Standes entfprechender zu leben!) noch nicht viel bemerkt
worden. Man kennt weder den Verfaffer, noch
genau die Entftehungszeit, ja nicht einmal das Ent-
ftehungsland. S. verfolgt die leifeften Spuren, die fich
zu bieten fcheinen, jedoch ohne Erfolg. Bibliographifch
hat die Schrift fchon wiederholt Intereffe erregt. Sie ift,
wie es fcheint, weit und lange verbreitet gewefen. 2) De
schrijver en de bronncn van den Hercules Prodicius.
S. zeigt mit neuen Argumenten, was auch fchon
Boutcrwek bemerkt, dafs zwifchen zwei Stephanus
Pighius zu unterfcheiden ift.. Der Hercules Prodicius
(,Hercules auf dem Scheidewege'), die Befchreibung einer
Reife des zwifchen evangelifchen und römifchen Ein-
flüffen in der Mitte flehenden Jungherzogs Karl Friedrich
von Cleve durch Oefterreich nach Rom (1571—75), ift
nicht von dem Begleiter des Prinzen felbft verfafst,
fondern von feinem gleichnamigen Verwandten auf Grund