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Ausgabe:

1884

Spalte:

37-39

Autor/Hrsg.:

Jonas, Philipp WIlh.

Titel/Untertitel:

Revolutionär oder Reformator? Was war Luther? 1884

Rezensent:

Kawerau, Gustav

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ten dargethan. Nehmen wir dazu die kräftige, oft ge- I
waltige Sprache, welche er zu führen weifs, nicht min- I
der da, wo er Luthern den Reformator und deutfchen
Mann begeiftert fchildert, als da, wo er die Römlinge
und andere Schäden unferer Zeit mit Manneszorn geifselt,
fo wird man nicht leugnen können, dafs das Buch in
hohem Grade unfer Intereffe feffelt. Und doch legt man
es am Schluffe mit dem Gefühl einer gewiffen Unbefriedigtheit
, ja Verftimmung aus der Hand. Das, worin feine
Stärke befteht, wird zugleich feine Schwäche. Statt feinen
Tadel bei der Befprechung unferer Zuftände nur gegen
die Schäden felbft zu richten, wird der Verf. denn doch
allzu oft perfönlich; ebenfo da, wo er Lob zu fpenden
hat. In beider Beziehung treffen wir da Namen, die in
einer Lutherbiographie, welche fich als Volksbuch ankündigt
, zu finden uns überrafchend war. Deffenunge-
achtet geliehen wir fehr gerne zu, dafs jeder Theologe,
ja jeder am Kirchen- und Staatswefen Antheil nehmende
Gebildete in dem Buche Vieles finden wird, woraus er
Etwas lernt, was mindeftens zu weiterem Nachdenken
anregt. Wie aber der Verf. fein Buch, welches zum Ver-
lländnifs eine nicht geringe Kenntnifs der kirchenpoli-
tifchen Zeitlagc vorausfetzt, ein Volksbuch für alle Stände,
den fchlichten Bauer und Bürger, fowie den Studirten
nennen konnte (f. das Vorwort), ift uns unerfindlich. Es
fcheint ihn wohl felbft das Gefühl befchlichen zu haben,
dafs fein Buch nicht fo ganz der allgemeinen Faffungs-
kraft angepafst fei, denn er fagt im Vorwort: ,Ich denke
mir den Lehrerftand der niederen und höheren Schulen
als einen berufenen Dolmetfcher zwifchen dem vorliegenden
Volksbuch cinerfeits und dem Bauern- und Bür-
gerftand, fowie auch der heranwachfenden Jugend andererseits
'. Aber wie fich der Verf. das denkt, vermag der
Ref. fich nicht zu denken. Und dazu, ein Volksbuch,
welches erft eines Dolmetfchers bedarf, hat fich als
Volksbuch felbft das Urtheil gefprochen. Trotz diefer
Ausftellungen aber, welche man an dem Buche zu machen
hat, wird kein Theologe dasfelbe lefen, ohne dem Verf.
für Vieles, das er gefagt und dafs er es gefagt, zu danken
. — Neben kleineren Verfehen begegneten wir be-
fonders einem finnftörenden Druckfehler, S. 60: ,am
23. Auguft 1523, nicht ein volles Jahr nach den Thefen',
ftatt 1518.

Oberrad. Enders.

Jonas, Phpp. Wilh., Revolutionär oder Reformator? Was

war Luther? Eine Jubiläumsfchrift. Eberswalde, Ruft,
1SS3. (III, 99 S. gr. 8.) M. 1. 20.

Zur Widerlegung der feit alter Zeit üblichen und in
unferen Tagen befonders lebhaft erneuerten Anfchuldi-
gungen gegen Luther's Reformation, als gebühre ihr vielmehr
der Name einer kirchlichen Revolution, hat der
Verf. in gefchichtlichen Erörterungen den Nachweis zu
führen unternommen, 1) dafs Luther bis zu feiner Aus-
llofsung aus der römifchen Kirche durch den Bann ftets
die Autorität des Papftes anerkannt, 2) dafs er niemand
zur Auflehnung gegen diefelbe verleitet, 3) dafs er an
Stelle der römifchen Kirche durchaus nicht etwas von
Grund aus Neues habe fetzen wollen. Damit meint er
den Beweis erbracht zu haben, dafs Luther Reformator,
nicht Revolutionär gewefen fei. In den Einzelausführungen
, namentlich in der Zufammenftellung alles deffen,
was davon Zeugnifs giebt, wie Luther die Verfaffung der
Kirche refpectirt, jedes gefetzlich zuläffige Mittel für feine
Reformideen anruft, wie er die Perfon des Papftes forg-
fam aus dem Streite zu laffen bemüht ift u. dergl. ift
viel Richtiges enthalten. Gleichwohl werden die Beweisführungen
des Verf.'s nicht nur dem römifchen Beurtheiler,
fondern auch dem evangelifchen Hiftoriker zu manchen Einwendungen
Anlafs geben. Römifcherfeits wird nicht nur die
Pofition beanftandet werden, von der der Verf. ausgeht, dafs
nämlich hiebei nur Luther's Verhalten bis zum Erlafs

der Bannbulle in Betracht kommen könne, da ja Rom
einen Gebannten zwar von den Gnadenmitteln ausfchliefst,
aber keineswegs damit aus der kirchlichen Jurisdiction
entläfst; fondern man wird fich auch mit Recht manche
Beweisführungen des Verf.'s als ein gar zu leichtes Ge-
fchütz mühelos abwehren können, z. B. wenn er in den
Volksbewegungen zu Gunften Luther's nur ,die felb-
ftändige Stellung und die eigene freie Meinung des
Volks', aber nichts von dem gewaltigen Einflufs der
grofsen Streitfchriften Luther's anerkennen will; „aufregen
— fo fagt er — konnten feine Schriften und
Thaten das Volk nicht mehr, denn diefes hatte felbit
fchon Rom den Gehorfam gekündigt' (S. 73). Oder wenn
er S. 90 flg. dem Einwände, dafs doch Luther mit dem
geringen Mafse von Primat, welches er den Päpften noch
laffen will, die päpftliche Autorität ganz gewaltig ver-
äufserlicht habe, mit dem Satze zu begegnen fucht, der
faft wie ein fchlechter Witz klingt: darin fei ja Luther
gut katholifch, denn Veräufserlichung fei bekanntlich die
Richtung der römifchen Kirche! Es ift eine kühne Hoffnung
, wenn der Verf. S. 95 meint, mit feinen Erörterungen
den Beweis erbracht zu haben, dafs auch Rom
von feinem Standpunkte aus nicht im minderten
dasRccht habe, Luther als Revolutionär zu brandmarken.
Der Mann, der das ganze Syftem des Romanismus über
den Haufen geworfen, der nicht blofs, wie die Reformationen
' des 15. Jahrhunderts, hie und da die Disciplin
hat beffern und ftrengere Handhabung der kirchlichen
Gefetzgebung erreichen wollen, fondern, wie M. Lenz in
feinem ,Luther' S. 103 treffend fagt, in der Schrift an
den chriftlichen Adel ,die Säule anpackt, welche die
himmelanftrebende Wölbung der mittelalterlichen Weltordnung
ftützte" — der wird fich wohl von Rom ftets
müffen einen Revolutionär nennen laffen. Das Schiefe
in den Argumentationen des Verfaffers, der Grundfehler,
an dem fie leiden, zeigt fich befonders fcharf S. 94,
wo er fragt: ,Hat Luther an Stelle der römifchen
Kirche etwas von Grund aus Neues fetzen wollen oder
gefetzt?' und darauf antwortet: .Nein, er hat nur das
Ziel vor Augen gehabt mit Gottes Hülfe die chriftliche
Kirche in ihrer urfprünglichen Reinheit . . wiederherzu-
ftellen.' Der Wechfel, der fich hier unwillkürlich in den
Beiwörtern ,römifch' und ,chriltlich' eingeftellt hat, ver-
räth die Unklarheit des Gedankens. Der Verf. operirt
mit der römifchen Kirche bald als mit der concreten
Kirche, die fich auf Papftthum und kanonifchem Rechte
aufbaut, bald verfteht er darunter die Abftraction der
auch innerhalb des Papflthums latenten unfichtbaren
chriftlichen Kirche. Wer auf die Frage, die der Verf.
oben aufgeworfen, fo, wie er thut, mit ,Nein' antwortet,
der hat entweder die Antithefe des Proteftantismus gegen
den Romanismus nicht verftanden, oder meint, wenn er
,römifche' Kirche fagt, etwas anderes, als andere Men-
fchen darunter verliehen. Dafs der Verf. fich theilweife
der Bedeutung und Tragweite der Ausführungen Luther's
gar nicht bewufst geworden ift, das zeigt S. 53, wo er
den Inhalt der grofsen Streitfchriften des Jahres 1520
dahin charakterifirt, dafs Luther zwar ,die Abftellung
zahlreicher Mifsftändc verlange, aber den Verfaffungs-
bau der Kirche unangefochten laffe'. Dabei fagt
er auf derfelben Seite, dafs Luther die göttliche Ein-
fetzung des Papftthums beftritten habe, und von diefer
Thcfis follte die Verfaffung der römifchen Kirche unberührt
bleiben? — Luther ift Revolutionär in demfelben
Sinne, in welchem Chriftus fagt, dafs neuer Wein die
alten Schläuche zerreifsen müffe und daher neuer
Schläuche bedürfe; neue geiftige Principien durchbrechen
alte Verfaffungs- und Rechtsformen und fchaffen fich
ihnen adäquate neue Formen. Und das nennen dann
die Vertreter des Alten, denen vor dem neuen Geilte
graut, weil fie ihn nichtverftehen, Revolution. Sie fprechen
über den Neuerer den Bann nach ihrem Rechte — aber
die Zukunft fpricht ihn los und fegnet ihn. So ge-