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Ausgabe:

1884 Nr. 18

Spalte:

440-441

Titel/Untertitel:

Der Wahrspruch. Ein Beweis des Glaubens und ein Beitrag zur ‚Philosophie des Christentums‘ 1884

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 18.

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Leidensfähigkeit, wenn es abgefehen vom leiblichen
Leben eine folche giebt, bleibt, diefe auf innerlich geifti-
gem Wege, auf welchem man frei wird unbefchadet des
äufseren Gebundenfeins. Ueber den Selbftmord hat der
Verf. nur das Wort: ,Die Motive zu einer folchen That
werden Zeitgenoffen und Nachkommen zu würdigen
haben'. Sein religiöfes Bekenntnifs ift folgendes: ,Ich
glaube an den lebendigen Gott. Gott ift die Kraft,
deren Wefenheit fich uns offenbart in der Dreieinigkeit
von Wille, Empfindung und Erkenntnifs (— daher alfo
der Titel der Schrift: ,Die Religion des dreieinigen
Gottes' —). Ich glaube, dafs mich Gott in fich gefchaffen
hat, fo wie, dafs alle Menfchen, Wefen und Dinge durch
feinen göttlichen Willen in ihm hervorgebracht find. Ich
glaube an ein Gericht über mein Thun und Laffen während
meines Lebens in der göttlichen Erinnerung. Ich
glaube an eine Auferftehung in Gott am jüngften Tage
und ein ewiges Leben. Amen.' Wir erfahren, dafs Gott,
indem er in den Weltprocefs eingegangen ift, dabei
feinen freien Willen, wie fein Selbftbewufstfein, verloren
hat, ähnlich ,wie bei einem Springer während des Sprunges
Bewufstfein und Wille verloren geht, bis er wieder ]
auf feften Füfsen fteht'. So giebt es für jetzt ein Welt-
bewufstfein ,nur in der Summe menfchlicher Bewufstfeine.'
Einft aber, wenn der Weltprocefs, dies fchmerzensreiche
Ringen der göttlichen Kraft mit fich felbft, vorüber ift,
,wird das göttliche Selbftbewufstfein wieder hervortreten
und mit ihm die Seligkeit Gottes in der Fülle feiner
Erkenntnifs und feiner Erinnerung'. Das ift alles nicht
neu, aber kaum je ift es Ref. fo hervorgetreten, dafs die,
kurz gefagt, pantheiftifche Weltanfchauung felbft bei
perfönlich fittlicher und religiöfer Gefinnung der Würde
des Menfchen und feiner Lebensaufgabe in keiner Weife
gerecht zu werden vermag. Der Menfch hat die Aufgabe
, den Zweck des Weltproceffes, die Wiedergeburt
im Geift, die Mehrung und Stärkung der geiftigen Er- |
fcheinungsform der göttlichen Kraft mit Bewufstfein zu
fördern. Sittlichkeit ift ,Mittel zum Zweck, als Vorbedingung
gedeihlichen Zufammenlebens.' Die Ausfprüche
,Hillel's und Jefu Chrifti' über die Nächftenliebe behal-
ten für alle Zeit ihre Gültigkeit (1 Joh. 1, 16 falfch als
Ausfpruch Jefu citirt.) ,Die Hauptaufgabe bleibt aber |
die Aufnahme von Vorftellungen und Wiffen, die Uebung
des Gedächtnifses, die Schärfung des Verftandes und die
Vertiefung unferer Vernunft.' Befonders wichtig aber ift !
bei der Kürze des Einzellebens das Fortleben in den
Kindern. ,Die erfte Pflicht des Menfchen ift, möglichft
viele körperlich und geiftig gefunde Kinder zu erzeugen,
die nächfte, aber noch gröfsere, die Kinder gut zu er- I
ziehen.' ,Wir handeln fittlich richtig, wenn wir vor dem j
Richterftuhl unferer Kinder beftehen können.' Wo bleibt i
da das Recht der Perfönlichkeit, welche fich als Selbft-
zweck innerhalb der allgemeinen Zwecke zu behaupten
hat? Auch der Staat hat feine hohen Aufgaben, doch
auch bei diefem wird mehr das Materielle und das In-
tellectuelle, als das Sittliche betont. Auch den Lehren
und Gebeten der Kirche hat jeder Menfch Achtung und
Unterwürfigkeit entgegenzubringen. Ein Weltkirchenrath,
aus Prieftern und Koryphäen der Wiffenfchaft zufam-
mengefetzt, an der Spitze der Papft, hat Ergebnifse der
Wiffenfchaft mitzutheilen, Ermahnungen und Zurecht-
weifungen an Staaten und Völker ergehen zu laffen.
Als den wichtigften Vorgang im Weltprocefs aber, das
ift das letzte, was von ihr gefagt wird, hat fie die Ehe-
fchliefsung zu überwachen, untüchtige Perfonen auszu-
fchliefsen, ohne Grund Ehelofe zu brandmarken.

Wir haben kein Recht, in Abrede zu ftellen, dafs
Verf. in vorliegenden Erkenntnifsen ,den Frieden gefunden
hat' Uns aber will es fcheinen, als ob in denfel-
ben die vornehmften Gegenfätze, aus deren V erföhnung
der Friede der Seele erft hervorgeht, das Recht der
Perfönlichkeit gegenüber einer Weltordnung, welche
dasfelbe zu ignoriren fcheint, das Bewufstfein der Sünde

gegenüber dem Verpflichtetfein an den heiligen Willen
Gottes, noch gar nicht zum Ausdruck gekommen wären.

Leipzig. Härtung.

Der Wahrspruch. Ein Beweis des Glaubens und ein Beitrag
zur ,Philofophie des Chriftentums'. Von * * *
Hamburg, Perfiehl, 1884. (in S. gr. 8.) M. 1.50.

,Die Bedeutung apriorifcher Deductionen, wie fie in
der Schrift zu praktifcher Ausführung gelangt find, wird
einer näheren Erklärung nicht bedürfen. Laien werden
an der Signatur, die fie den Dingen aufdrücken, vergeblich
zu rütteln fuchen, wenn fie mit ihren Sonder-
intereffen nicht harmonirt; für den Fachmann werden
fie immer alleinige und vollgültige Beweiskraft haben'.
Glücklich, wer im Vorwort einer Schrift von 109 Seiten,
welche ,einen philofophifch-fyftematifchen Aufbau' zwar
nicht geben will, aber doch giebt, fo zuverfichtlich fein
darf. Wir müffen uns da allerdings, obfchon die End-
ergebnifse der Unterfuchung mit unfern ,innerften In-
tereffen' wefentlich übereinftimmen, den Laien zugefellen
laffen, die hier und da ,rütteln', freilich in dem tröftlichen
Bewufstfein, uns in Gefellfchaft eines Leffing und Ari-
ftoteles zu befinden, von denen der eine als .oberflächlicher
Beobachter' (S. 18), der andere als .lehrhaft fich
geberdender akademifcher Wafchmagifter' gelegentlich
bezeichnet wird. Wohlthuend ift die eben fo entfchie-
dene, wie weitherzige chriftliche Gefinnung, anerkennens-
werth das Beftreben, die Gefammtheit des Wiffens und
Lebens zum Chriftenthum in Beziehung zu fetzen, fcharf-
finnig, oft an R. Rothe erinnernd, wenn mehr wiffen-
fchaftliche Selbftzucht vorhanden wäre, die Kunft der
Begriffsbildung und der Begriffstheilung; allein wenn dann
am Ende der grundlegenden Entwickelung (S. 47) gefagt
wird: ,Und nun hat vor nahezu 1900 Jahren ein hifto-
rifch beglaubigter Mann, mit Namen Jefus Chriftus gelebt,
der dem Menfchen nicht allein alles das, was wir hier
gefunden haben, verkündet hat' u. f. w., fo möchte man
fragen, ift das Zufammentreffen deffen, was Jefus Chriftus
verkündet, mit den Ausführungen des Verf.'s wirklich ein
fo überrafchendes, würde diefer auch ohne dem auf das
alles bis zur Dreieinigkeit hin, einfchliefslich manches
theofophifchen Gedankens, gekommen fein?

Denn von der Dreiheit fehen wir nach vorliegender
Schrift von vornherein alles beftimmt: drei geiftige
Thätigkeiten, dem entfprechend drei Hauptfinne: das
Organ des Denkens das Auge, des Wollens das Ohr,
des Fühlens das Herz, — leider wird die Stelle, welche
dies entwickelt, noch mehr durch eine Reihe von Druckfehlern
verdunkelt, die dann auch am Schluffe aufgezählt
wird, — ein dreifaches Gebiet des geiftigen Thuns
des Menfchen, das des Wiffens die Wiffenfchaft, des
Fühlens oder Empfindens die Kunft, des Wollens oder(!)
Vorftellens die Religion. Wenn uns die Wiffenfchaft
den Begriff des Wahren, wie den des Unendlichen, die
Kunft den des Guten und Schönen hinterläfst — auch
des Guten, denn das Wefen des Schlechten befteht in
der Materie, welche die Kunft vermöge der Idee zu
durchdringen hat, fo bringt uns die Religion von dem
Begriff der Liebe aus, welche einen ihr entfprechenden
Gegenftand fucht und in der Welt nicht findet, Gott
felbft nahe, und zwar ift es der dreieinige Gott, das
Wefen der Wefen, das unbedingte Wefen, den All-Geift,
; der fich uns geoffenbart hat und nun will, dafs wir durch
die Entäufserung von der Materie ihm ähnlich werden.
Wie durch den fo gewonnenen Gottesbegriff der Wiffenfchaft
oder Kunft eine neue Weihe gegeben wird und
wie das davon ausgehende kirchliche Leben fich zu ge-
ftalten hat, wird in einem zweiten mehr praktifchen Theile
abgehandelt.

Es würde zu weit führen, fich mit den einzelnen
Anfchauungen des Verfaffers, welche oft recht eigen-
thümlich, alle Lebens- und Wiffensgebicte berühren, aus-