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Ausgabe:

1884 Nr. 16

Spalte:

386-390

Autor/Hrsg.:

Jacoby, Herm.

Titel/Untertitel:

Allgemeine Pädagogik auf Grund der christlichen Ethik 1884

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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385 Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 16. 386

unbeftimmte Sein zu (teilen, weil das Subject vor dem
Heraustreten des Selbftbewufsfeins als unbeftimmtes Sein
vorhanden fei! Es fteht im Grunde genommen in Günthcr's
Belieben, wie und in welcher Abfolge er die grofsen-
theils von Kant entlehnten Begriffe auf das Ich anwenden
will. Seine Reflexion auf das Ich ift durch keine
innere Nothwendigkeit beherrfcht, fondern willkürliche

erft zu reden. Die Haltung der Gotteslehre ift vielmehr
metaphyfifch, und da follte man doch die Erkenntnifs erwarten
, dafs das Unendliche nicht in den Formen des
Endlichen aufgefafst werden dürfe! Wird aber im Ge-
genfatz hierzu die Behauptung aufgeftellt, dafs Gott, wenn
auch mit den für den Unendlichen paffenden Modifica-
tionen, mit den Kategorien des endlichen Geiftes aufge-

Metaphyfik und pfychologifche Doctrin ohne Begrün- fafst werden müffe, fo ift das nicht naiver, fondern theo-
dung. Weil diefer ganzen vermeintlichen Entwickelung retifcher Anthropomorphismus, — alfo ein Deismus, von

dem oft genug nachgewiefen ift, dafs er nothwendig in
fein Gcgentheil, den Pantheismus, umfchlagen mufs: denn
wenn von Gott fogar Zeiträumlichkeit prädicirt wird
fS. 302), fo wird Gott offenbar zu einem Moment in der
Welt herabgezogen. Diefer anthropomorphifche Deismus

der Kategorienlehre jeder erkenntnifstheoretifche Werth
abgeht, ift die Polemik gegen Kant's Kategorienlehre auch
gegenftandslos; fie führt Lufthiebe von einem Boden aus,
der unter der Höhenlage Kant's liegt. Natürlich, wenn
feftfteht, dafs wir alle Gegenftände der Erkenntnifs nur

mit den Kategorien aufzufaffen im Stande find, üt auch j tritt auch befonders hervor in der Trinitat'slehre, die nicht
die Entwickelung des Bewufstfeins pfychologifch mit den . mehr monotheiftifch, fondern offenbar tritheiftifch ift:

Mitteln der Kategorien aufzufaffen. Aber eine Auffiel
hing der Kategorientafel aus folcher pfychologifchen Anwendung
der Kategorien, welche das dialektifche (oder
logifche) Auffinden derfelben fchon vorausfetzt, fchein-
bar fie aber erkenntniistheoretifch erft findet, ift nichts als
eine heillofe Verwirrung. Worin alfo der Schüler Gün-
ther's eine grofse Leiftung des Meifters fleht, darin wird
der an Kant philofophifch Gefchulte nur einen verhäng-
nifsvollen Denkfehler fehen können. Ein grofser Mangel
der Kategorienlehre Günther's liegt auch darin, dafs die
Entfaltung des Ich als allgemein menfchliche Entwiche- I Inrnhv Prr.f rrm,, P-<m iw 1

lung des Selbftbewufstfeinl nicht deutlich von der wiffen- JaC°7> 1 rof" ^mvf'ed- Dr- Herm- Allgemeine Pädagogik
fchaftlichen Reflexion des Philofophen über diefelbe unter- aut L,rund der chn"l'chen Ethik. Gotha, F. A. Perthes,
fchieden wird: dadurch, dafs beide Gefichtspunkte in der ! l883- (VIII, 287 S. gr. 8.) M. 5. —
ganzen Entwickelung wirr durcheinander gehen, verliert ; ( Nach den warmen Worten der Anerkennung, mit

die drei Hypoftafen der Trinität find hier drei, wenn auch
einander zur Ergänzung fordernde, fo doch auch einander
ausfchliefsende ,Ichbewufstfeine', die durch formale
Einheit miteinander verbunden find. Die von der Kirchenlehre
geforderte numerifche Einheit Gottes wird ausdrucklich
abgelehnt. Das ift allerdings ein fcharfer Gegenfatz
gegen den von Günther gehafsten Pantheismus. Aber
— die Extreme berühren fleh bekanntlich.

Breslau. L. Lemme.

diefe auch den pfychologifchen Werth. Pur die FVage
aber, ob die im Ich gefundenen .Kategorien' auch auf
die Natur Anwendung finden können, ift hier gar nichts
geleiftet, fondern es wird behauptet, dafs fie darauf angewandt
werden müfsten, und zwar mit Modificationen

welchen jüngft ein O. Willmann in feiner Didaktik die
Mitarbeit der Theologen auf dem Felde der Pädagogik
begrufst hat, ift es doppelt erfreulich, wenn an dem
Baum der Theologie wieder eine Frucht wächft, die
gerade für weitere Kreife fo fchmackhaft ift wie diefe ,all-

,Endlich haben die Kategorien auch Geltung für unfere J gemeine Pädagogik auf Grund der chriftlichen Ethik'. Den
Gotteserkenntnifs' (S. 168), diefer Satz beleuchtet am 1 Verf. zeichnet nicht nur ein lebhaftes Intereffe für alle

fchlagendften den Werth und die Haltung der ganzen
Kategorienlehre.

,Hat der Denkgeift einmal die eigene Idee (im Ichgedanken
) gewonnen, fo kann er fofort (?) auch jedes (?)
andere Dafcin in feiner Quantität und Qualität oder in
feiner Idee beftimmen. Hierdurch gewinnt er fo viele
Ideen, als er durch verfchiedene Erfcheinungen genöthigt
wird, verfchiedene reale Gründe zu poftuliren'. So wird
S. 134 das ideelle Denken im Unterfchied vom begrifflichen
begründet. Das Denken in Begriffen foll fleh be-
fchränken auf ,das durch Abftraction bewirkte Denken
des Gemeinfamen in verfchiedenen Erfcheinungen'. Aber
mit welchem Recht wird es denn hierauf befchränkt?
Und worin denkt denn das ideelle Denken, wenn nicht
in Begriffen? Alle Speculation, das heifst: alle wahre
Speculation, die nicht willkürliches Spiel der Einbildungskraft
, fondern eine Zurückfuhrung des Seienden auf feine
letzten Gründe mit den Mitteln des der menfehlichen
Erkenntnifs Gegebenen ift, alfo alles ideelle Denken, das
diefen Namen verdient, ift begriffliches Denken mit den
Mitteln äufserer und innerer Anfchauung, oder es ift
überhaupt keines. Sehen wir uns aber Günther's ideelles
Denken an, wie es fleh thatfächlich in feiner Speculation
ausgebreitet hat, was ift diefes denn anders als ein von
der Zucht entbundenes und fchliefslich der berechtigten
Grundlagen entbehrendes Spiel in Begriffen? Solch eine
Loslöfung des vermeintlichen höchften Denkens von feiner
Grundlage rächt fleh empfindlich. Das tritt befonders in
der Gotteslehre hervor, die ausgebaut wird nach der Behauptung
, die Kategorien des Geiftes feien auf Gott zu
übertragen. Die Erkenntnifs, dafs eine Gotteslehre fleh
nur entwickeln läfst auf Grund der feftgeftellten Beziehungen
zwifchen Gott und Menfch, ift kaum angedeutet,
und darum fehlt der Gotteslehre die ethifche Haltung,
um von einer religiöfen bei einem Philofophen gar nicht

heutigen Bildungselemente und insbefondere für Schönheit
und Kunft aus, er verfügt nicht nur über eine flie-
fsende und elegante, mit Blumen, Bildern und fonftigen
rhetorifchen Stimmungsmitteln reichlich gefättigteDiction,
er verlieht es auch, was doch noch werthvoller ift, als
das letztere, die chriftliche Heilswahrheit ftatt in ftarren
abftracten Dogmen als eine direct Gemüth und Willen
bewegende Macht lebendiger Welt- und Lebensanfchauung
zu vergegenwärtigen. Ueberall fteht die Perfon Chrifti
im Centrum als Offenbarung der Liebe Gottes und als
Verwirklichung des religiös-flttlichen Ideals. Und die
chriftliche Erziehung beftcht ihm in nichts weniger als
in der erkünftelten und verfrühten Geltendmachung derjenigen
Motive, die auf der fpeeififchen Sündenerkennt-
nifs beruhen, welche er mit Recht einer fpäteren Periode
vorbehalten wiffen will. Dafs das Stichwort nicht vorkommt
, das Dogma von der Erbfünde fei die charakte-
riftifche Vorausfetzung der chriftlichen Pädagogik, wird
man ihm um fo weniger verübeln, als er nicht nur dem
Ernft des chriftlichen Urtheils, das zu energifcher Bekämpfung
dts früh im Innern des Kindes hervortretenden
Böfen auffordert, nichts abgebrochen, fondern auch von
einer Vererbung befonderer ethifcher Qualitäten böfer
Art geredet hat. Etwas Anderes meinen ja auch jene
theologifchen Pädagogen nicht, welche der Aufklärungspädagogik
das Dogma von der Erbfünde entgegenhalten.
Jedenfalls ift aber diefe Vorausfetzung für die Pädagogik
fruchtbarer als die, an welche man bei dem hiftorifchen
Sinne des Dogma unter jenem Titel eigentlich denken
follte, dafs der Trieb des Kindes auf das Böfe im Allgemeinen
gehe.

Auch mit der Philofophie fteht der Verf. in lebendiger
Fühlung: er hat nicht nur die treffliche Pädagogik
von Th. Waitz ausgiebig benutzt, fondern auch namentlich
an Lotze fleh angefchloffen, und allgemein pfycho-

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