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Ausgabe:

1884 Nr. 15

Spalte:

359-360

Autor/Hrsg.:

Hilgenfeld, Adf.

Titel/Untertitel:

Die Ketzergeschichte des Urchristenthums, urkundlich dargestellt 1884

Rezensent:

Koffmane, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 15.

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teflantifches) mit dem orientalifchen (ruffifch-griechifchen)
Staatskirchenthum und auch dem Judenthum in eine
centripetale Bewegung nach Jerufalem hin. Es fpinnen
fich die Fäden zu einer kosmopolitifchen Zukunft
Jerufalems, das eine internationale Weltftadt
wird. Bereits fuchen alle chriftlichen Hauptmächte mit
Confuln, Colonieen u. f. w. fich in Jerufalem feftzufetzen.
Ferner für wie mancherlei chriftliche Schattirungen bildet
das heilige Land einen Magnet. Selbft die Verfetzung
des Papflthums nach Jerufalem ift eine fchon öfters aufgetauchte
Idee. Annäherungen zwifchen Proteftantismus
und Katholicismus fchillern in mancherlei Farben. Dazu
kommt als bedeutender Factor der immer mehr kosmo-
politifch fich fteigernde Einflufs des Judenthums nicht
nur auf dem mercantilen Gebiet, fondern befonders auch
auf dem literarifchen und politifchen, fo dafs zu gelegener
Zeit fein nationaler und religiöfer Zufammenhang mit
dem heiligen Land mächtig in die Weltverhältnifse eingreifen
kann. Kurz im hiftorifchen Zug der Zeit liegen
jetzt fchon genug Andeutungen für eine fich anbahnende
Weltbedeutung Jerufalems, Elemente zu einer Vereinigung
aller politifchen und religiöfen Factoren für die Ausbildung
eines koloffalen Cäfareopapismus, eines verftaat-
lichten Kirchenthums und eines verkirchlichten Staatsthums
, wo der Staat Religion und Kirche als Mittel für
feine Weltmachtszwecke gebraucht, und die Kirche den
Staat für ihren Glaubenszwang und ihre Volksbeherr-
fchung, bis die Spannung der Verhältnifse den Bund
bricht' (S. 184 f.). — Ich habe diefe Stelle in extenso mit-
getheilt, weil fie die weltgefchichtliche Perfpective, welche
fich dem Verf. auf Grund der Apokalypfe eröffnet, am
deutlichften zeichnet.

Giefsen. E. Schürer.

Hilgenfeld, D. Adf., Die Ketzergeschichfe des Urchristen-
thums, urkundlich dargeftellt. Leipzig, Fues, 1884. (X,
642 S. gr. 8.) M. 12. —
Aus dem Verfuche, das Syntagma Juflin's wiederher-
zuftellen, ift bei Hilgenfeld ein dickes Buch entftanden. Er
hat die lange Reihe feiner Einzelunterfuchungen in dan-
kenswerther Weife für uns zufammengearbeitet; natürlich
finden wir fomit neben Neuem viel Altes in Meinungen,
Conjecturen und Polemik. Die wichtigften Stellen aus
den alten Haerefeologen find befprochen, die Bruch-
ftücke aus den haeretifchen Werken gefammelt — nur
von dem Wiederabdruck des Briefes von Ptolemaeus an
die Flora ift Abftand genommen — kritifch bearbeitet
und exegefirt: wir erhalten alfo etwa ein Quellenbuch
zur Ketzergefchichte des Urchriftenthums, wenn
wir dem letzten Worte die weiteften Grenzen ftecken.
In der That, auch bei diefem Hlgfld.'fchen Buche überwiegt
das literarkritifche Moment. Wir können ja nicht
verlangen, dafs in einer Ket zergefchichte ausführlich
erörtert werde, wie die Grofskirche mit Lehre und Or-
ganifation fich der Haerefic gegenüber verhalten habe;
aber es mufs doch genügend klargeftellt werden, unter
welchen Umftänden es zu Haerefenbildungen kam und
der werdenden Kirche das Urtheil über Haerefe möglich
wurde. Was den Männern der eccl. cathol. leicht wurde,
ift felbft für Juftin noch fchwer: den Begriff aiqeatg zu
finden. Ferner find die Beziehungen zwifchen" Kirche
und Haerefen nicht durch die gegenfeitige Polemik er-
fchöpft; die gnoftifchen Syfteme z. B. ftellen fich doch
auch nach Verfaffung und Cultus als eigenartige Er-
fcheinungen dar. Es werden allgemeine hiftorifche Ge-
fichtspunkte wohl eröffnet, aber nicht als beherrfchend'e
ferngehalten. Und zuletzt ift bei einer Ketzergefchichte
doch nicht die Hauptfache, zu fehen, wie Juftin, Irenaeus,
Hippolyt die Haerefen angefehen haben, fondern welche
Stellung fie in der Gefammtentwickelung des Chriften-
thums, wie wir diefelbe begreifen, einnehmen.

Dies unfere Defiderien ; halten wir uns nun an das
im Buche Gegebene. In der Einleitung (S. 1—83) wird

1 das Abhängigkeitsverhältnifs der fpäteren Haerefeologen
i von Juftin's Syntagma erwogen. Es ift erfreulich zu fehen,
wie drei Sachverftändige, Lipfius, Harnack, Hlgfld. trotz
mancher Differenzen, die eben nur ihre Unabhängigkeit
und Solidität der Forfchung beftätigen, zufammentreffen.
| Ref. meint freilich, dafs in Juftin's Syntagma die Polemik
Juftin's den Umfang der hiftorifchen Notizen wohl überwogen
habe. Vielleicht wandte er nicht einmal das
Schema eines Ketzerkataloges an. Buch I (S. 81—161)
handelt von den vorchriftlichen Secten in Ifrael, ein Zu-
geftändnifs Hlgfld.'s an die Methode der alten Ketzerbe-
i ftreiter. Die Effäer werden befonders ausführlich be-
j fprochen; Hlgfld. fafst fie als einen von Ifrael abgezweig-
I ten Volksftamm, welcher, als jenes im Judenthum alterte,
j noch frifche Triebkraft zeigte, auf den indefs fpäter auch
j aufserisraelitifche Einflüffe wirkten. Das zweite Buch
(S. 162—341) giebt die von Juftin aufgeführten Haere-
fien nebft ihren Fortbildungen, das dritte (S. 342—449)
die des Irenaeus, das vierte (S. 450—626) die des Hip-
polytus und feiner Zeitgenoffen. Hier zeigt es fich, wie
die Gefchichtsfchreibung fehl gehen mufs, welche fich
in den Rahmen der Berichte einzelner Autoren hineinzwängt
. Trotz des Zufatzes im II. Buch: Juftin's Haere-
tiker und Fortbildungen finden wir nur z. B. Valentin
hier dargeftellt, Ptolemaeus und Markus im dritten,
Heracleon und den anatolifchen Valentinianismus im
IV. Buche. Ift hier die ,Fortbildung' zerftückelt vorgeführt
, fo haben wir andrerfeits die eigentlich fogen.
Gnoftiker unter Buch II zu fuchen. Hlgfld. ift überzeugt,
,folche Gnoftiker mochten fchon zu Juftin's Zeit als eine
eigne Haerefie aufgeführt werden und zwifchen dem Ar-
chihaeretiker Simon und Valentinus den Zufammenhang
bilden, welcher in Juftin's Syntagma nicht gefehlt haben
kann. Auf alle Fälle läfst fich die successio Jiaereticornm,
welche Juftinus ausgeführt haben mufs, nicht anders
durchführen, und weder Juftinus noch die Sache felbft
verwehrt diefen Fortfehritt' (S. 232). Das find Macht-
fprüche. Diefe ,Gnoftiker' hat Juftin fchwerlich, auch
nur in Umriffen, behandelt; er hätte den Begriff yvwoiq
fonft wohl näher erörtert. In Buch II findet fich Cerdon
und Marcion, in B. IV Marcion und Apelles. Im zweiten
auch der Gnoftiker Juftin, dagegen nicht bSarpokrates.
Hlgfld. hat fich davon noch nicht überzeugt, Hegefipp
habe feine Ketzerreihe aus Juftin's Syntagma und darin
habe Karpokrates geftanden.

Was nun die einzelnen Haerefen betrifft, fo wird ein
Jeder Hlgfld. danken, dafs wir das gefammte Quellenmaterial
an jedem Orte forgfältig regiftrirt und verarbeitet
finden. Die Texte der Quellen haben an nicht wenigen
Stellen glückliche Emendationen erfahren. Wir wundern
uns nur, dafs für einzelne gnoftifchc Syfteme die apokryphen
Apoftelacten (befonders Philippi u. Tlwmae)
und der Poemander des Hermes Trismegistos {ed.
Parthey, Berlin 1854 in cap. I. IV. X) nicht herangezogen
find.

Auffallend ift, dafs der fonft doch eher fkeptifche
Verf. gelegentlich den alten Haerefeologen gegenüber
neueren Hiftorikern Recht giebt. Bei Colarbafos wird
er wohl (S. 288 n. 491) mit dem Nachweife, dafs diefer
Perfonenname auch fonft vorkomme, Beifall finden. Aber
Ebion (S. 437) eine gefchichtliche Perfönlichkeit und
Fragmente von ihm im 7. Jahrh. bekannt und vorher
nicht? Mir fcheinen die Fragm. ix zrjg neoi iroocprjTOjv
iSijyr'joewg der antiochen. Schule anzugehören; der Hafs
der Gegner prädicirte fie als Ebion's Producte. Hin und
her hat Hlgfld. fich im Ausdruck vergriffen (S. VII An-
tifemitismus, S. 580 geprefst, S. 423 antichriftliche Cel-
fus). Druckfehler ftofsen feiten auf. S. 40 Z. 13: Sinn
ft. Simon. — S. 44 Montanistae. — S. 418 Z. 7 v. u.
Geltung des Gefetzes. — Ein gutes Regifter fchliefst
das Werk ab, welches für die Forfchung ein werthvolles
Rüftzeug bleiben wird.

Breslau. G. Koffmane.