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Ausgabe:

1884 Nr. 14

Spalte:

334-337

Autor/Hrsg.:

Otto, E.

Titel/Untertitel:

Bibelstudien für die gebildete Gemeinde. Erklärung des Briefes Pauli an die Römer 1884

Rezensent:

Weiffenbach, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 14.

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uÜvtcc, b de dairevdv Xüyait fo&i'ei, fo pafst das erftere
doch recht fchlecht auf gefetzlichejudenchriften, welchedie
jüdifchen Speifegebote beobachteten. Sollte Paulus mit
Bezug auf lie gefagt haben : der Eine hat den Glauben
Alles effen zu dürfen? Man müfste etwa das nävia näher
erklären aus dem Gegenfatz zu Idyaru, als ob es nur
befagen wollte: ,auch Fleifch, nicht nur Gemüfe'. Aber
fchon dies wäre fehr gezwungen. Ganz unmöglich aber
ift die Beziehung auf gefetzliche Judenchriften bei Cap.
14, 5: dg usv Xglvei rj/utoav nag' 'uigav, bg ös y.givsi
.uann' faiegav. Hier kann das letztere fchlechterdings
nur heifsen: der Andere beurtheilt jeden Tag als gleich-
werthig, er zeichnet keinen Tag durch eine gefetzliche
Obfervanz aus. Das kann aber unmöglich von Judenchriften
gefagt werden, welche die jüdifchen Sabbathe
und Fefte beobachteten. Mangold glaubt freilich auch
angefichts diefer Stelle feine Thefe aufrecht erhalten zu
können. Fr will die Differenz nicht vom Beobachten
und Nichtbeobachten der Sabbathe u. dgl. verftanden
wiffen, fondern von befonderen aufsergefetzlichen Faft-
tagen, welche die Schwachen in ihrem Ueber-Eifer fich
auferlegten, die Starken aber ablehnten, während beide
in der Beobachtung der jüdifch-gefetzlichen Tage ganz
einig waren (S. 240 Anm.). Ift die Ergreifung diefes gewagten
Mittels nicht faft fchon ein Zugeftändnifs, dafs
die Hypothefe, um derentwillen es ergriffen wird, fich
nicht halten läfst?

Für denjenigen, der die Majorität der römifchen
Gemeinde für eine heidenchriftliche und gefetzesfreie
hält, ergeben fich nun freilich zwei Probleme: 1) Wie ift
die Entftehung einer folchen Gemeinde ohne jede Betheiligung
des Paulus denkbar? und 2) Wie kommt
Paulus dazu, an diefe Gemeinde einen Brief zu fchreiben,
der doch lediglich auf judenchriftliche Lefer berechnet
zu fein fcheint? Mangold hält beide Pfrobleme für unlösbar
oder doch für fo fchwierig, das er auch darin
einen Beweis gegen die Annahme eines heidenchriftlichen
Charakters der Gemeinde fieht (S. 285 ff. 295 ff.). Das
zweite Problem fcheint mir doch verhältnifsmäfsig leicht
zu löfen, fobald man fich nur von der Vorausfetzung
losmacht, dafs es in der apoftolifchen Zeit nur zwei
Richtungen gegeben haben könne: gefetzliches Juden-
chriftenthum und genuinen, feines Principes gewiffen
Paulinismus. Es kann eben recht wohl noch ein Mittleres
gegeben haben: ein nicht-jüdifches Chriftenthum,
das aber nicht die principielle Sicherheit des paulinifchen
gefetzesfreien Standpunktes gewonnen hatte. Eine Gemeinde
diefer Richtung, die doch zugleich die heiligen
Schriften Ifrael's als Schriften von göttlicher Autorität
angenommen hatte, war der judaiftifchen Agitation rettungslos
verfallen, fobald diele fich ernftlich ans Werk
machte. Sei es nun, dafs eine folche in Rom fchon begonnen
hatte oder dafs Paulus fie nur befürchtete: jedenfalls
fah er, dafs Gefahr im Verzug war. Er wollte daher
nicht bis zu feiner perfönlichen Ankunft in Rom warten,
fondern fandte der Gemeinde fchon von Korinth aus
diefe eingehende Begründung und Rechtfertigung des
gefetzesfreien Evangeliums, um die Gemeinde in ihrer
bisherigen Praxis auch principiell zu beteiligen und der
drohenden oder fchon begonnenen judaiftifchen Agitation
entgegenzuwirken. — Das einzige wirkliche Problem
ift alfo die Frage: ob die Entftehung eines nicht-
judifchen Chriftenthums ohne Betheiligung des Paulus
denkbar ift? Und diefe Frage wird eben auf Grund des
Römerbriefes zu bejahen fein. Man wird, um die Sache
fich verftändlich zu machen, namentlich die Bedeutung
des helleniftifchen Judenthums und des jüdifchen Pro-
felytenwefens für die erfte Ausbreitung des Chriftenthums
noch viel höher anfchlagen müffen, als es in der
Regel bisher gefchehen ift. Wenn nicht alle Anzeichen
trügen, fo hat es um jene Zeit im Bereich der jüdifchen
Diafpo'ra fehr verfchiedene Stufen jüdifcher Gefetzlich-
keit gegeben: von der ftrengften pharifäifchen Pünktlichkeit
bis zu einem jüdifchen Standpunkt, dem das Cere-
[ monialwefen etwas Untergeordnetes und die mono-
theiftifche bildlofe Gottesverehrung nebft jüdifcher Moral
1 und darauf gegründeter Heilshoffnung allein die Hauptfache
war. Aus folchen Kreifen heraus konnte recht
] wohl eine chriftliche Gemeinde entftehen von der Art,
wie wir uns die römifche zur Zeit der Abfaffung unferes
Briefes vorzuftellen haben.

Giefsen. E. Schür er.

—-1-/-—-'-—

Otto, E., Prediger in Darmftadt, St. Clair Co., Iiis.,
Bibelstudien für die gebildete Gemeinde. Erklärung
des Briefes Pauli an die Römer. Im Selbftverlag des
Verfaffers, 1883. (St. Louis, Mo. Aug. Wiebufch u.
Son Printing Company.) (X, 298 S. gr. 8).

Die Leetüre von Commentaren mit ihrem oft viele
Seiten füllenden Conventionellen Ballaft falfcher und
halbrichtiger, lächerlich-curiofer oder antiquirter Erklärungen
, mit ihren die eigene Auslegung fchier er-
| drückenden Angaben darüber, was alles eine Stelle
I nicht bedeute, gehört gerade nicht zu den geiftig-er-
j frifchendften Arbeiten, fondern hat eher eine gewiffe
Aehnlichkeit mit einer mühfamen Küftenfchifffahrt
zwifchen Sandbänken und über Untiefen, bei der man
ftets aufzufitzen Gefahr läuft, bis man endlich, erleichtert
[ aufathmend, in portum veritatis einläuft. Bei folcher
i Sachlage greift man mit doppelter Freude nach einem
[ Buche, welches, ftatt nach der üblichen Commentar-
Schablone, in frifch-fliefsender, lebendiger, durchfichtiger
; Sprache, zufammenhängender Darftellung und geiftvoller
Weife einen fo wichtigen Theil des N. T.'s auslegt und
1 geiftig reproducirt. Ein folches Buch find aber nach
! des Ref. Eindruck die ,Bibelftudien' über den Römerbrief
von dem Prediger E. Otto im amerikanifchen
Darmftadt. Je mehr man im Allgemeinen — und nicht
j ganz ohne Grund — bei uns noch geneigt ift, auf die
Producte der amerikanifchen Theologie die bekannte
Nathanael-FYage anzuwenden: um fo erfreulicher ift es,
heutzutage nicht feiten auf fo tüchtige Arbeiten wie die
Otto'fche Schrift hinweifen zu dürfen, die fich durch
feine und vornehme Haltung, theologifche und philofo-
phifche Schulung, faubere und klare Entwicklung, kurz
1 durch ein höheres geiftiges Niveau auszeichnet.

Wie fchon der Titel befagt, wollen diefe ,Bibel-
j ftudien' kein eigentlicher fchriftgelehrter Commentar für
j Fachtheologen, fondern eine für ernftlich nach Er-
kenntnifs fuchende gebildete' Gemeindeglieder berechnete
und darum die religiöfen Probleme und kirchlichen
Grundfragen eingehend befprechende Erklärung des ,für
die eigentliche Grundgeftalt chriftlicher Wahrheit'
in ,erfter Linie' bedeutfamen Römerbriefes fein. — Der
Verf. hat — fchwerlich mit Recht — darauf verzichtet,
die üblichen Einleitungsfragen über Entftehungsverhält-
nifse, Authentie und Integrität, Leferkreis u. dgl. des
Briefes cx professo zu behandeln und in Präliminarien-
Form der Auslegung voranzuftellen. Doch gewinnen wir
aus feinem Vorwort (p. VI. VII) und aus gelegentlichen
Aeufserungen der Schrift felber wenigftens einen Einblick
in feine defsbezüglichen Anfchauungen. Dem Verf.
ift der ganze Beftand von Rom. cp. 1—16, fogar die
Grufslifte (cp. 16,3—20) und die Doxologie (16,25—27;
paulinifches Gut. Die über cp. 15 u. 16 im letzten
Jahrzehnt geführten (von ihm gar nicht erwähnten) gelehrten
Verhandlungen fcheint O. alfo entweder nicht zu
kennen oder nicht für belangreich genug zu halten. Was
dann insbefondere den Leferkreis d. Br., bezw. die
Frage nach dem Bcftande und Grundcharakter der
älteften römifchen Gemeinde betrifft, fo fleht hier Otto
— und nach des Ref. Anficht mit Recht — in der Hauptfache
(ohne doch denfelben zu nennen) auf der Seite
von Mangold (Der Römerbrief und die Anfänge der