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Ausgabe:

1884 Nr. 1

Spalte:

10-13

Autor/Hrsg.:

Hirsche, Karl

Titel/Untertitel:

Prolegomena zu einer neuen Ausgabe der Imitatio Christi 1884

Rezensent:

Möller, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. t. 10

desfelben mit der Erneuerung des Kaiferthums und die
fegensreichen Folgen diefer ottonifchen Politik der Kirche
gegenüber für die ganze fociale Entwicklung des deutschen
Reichs vorgeführt werden. Es ift mir andererfeits
keine Darftellung deutfcher Gefchichte bekannt, die in
fo fcharfer Weife — wenn auch immer nur ganz kurz
— den Einwirkungen der Kirche auf Sitte und Glauben
der Nation nachginge und dabei nicht nur die einzelnen
Schichten des Volkes felbft beftimmt unterfcheident fondern
auch, und zwar ftets im Zufammenhang mit den
grofsen culturgefchichtlichen Factoren der nationalen
Gefchichte die Wege aufzeigen würde, auf welchen fich
diefer Einfiufs vollzieht, bezw. die Hemmnifse, die fich
demfelben in den Weg ftellen.

Ein zweiter Punkt, deffen ich fpeciell gedenken
möchte, ift der: mit besonderer Schärfe verfolgt Nitzfeh
die verfchiedenartige Entwicklung der oftfränkifchen und
der weftfränkifchen Reichshälfte" und im Zufammenhang
damit der Kirchen beider Länder. Es ift da für feine
Art überaus charakteriftifch, wie er für die weltliche
Reichshälfte in der zweiten Hälfte des 9. Jahrh. den rapiden
Auffchwung der Geldwirthfchaft und des Verkehrs
befonders in den alten Mittelpunkten der bifchöflichen
Verwaltung, den alten gallifchen Provinzialftädten in
feinem Einfiufs auf das kirchliche Vermögen darfteilt
und als die Urfache des nun in Gallien bemerkbaren
bedeutenden Auffchwungs des geiftigen Lebens innerhalb
der Kirche beanfprucht, und wie er andererfeits
in der aufserordentlichen Stabilität der wirthfehaft-
lichen Verhältnifse auf dem rechten Rheinufer, in dem
bis in die ftaufifche Zeit fich erhaltenden Syftem des
Ackerbaus und der Naturalwirthfchaft den Grund erkennt
, dafs hier die Kirche, auch nach ihrer Sammlung
und Erhebung unter Otto L, fich zunächlt faft von aller
gelehrten und miffionirenden Thätigkeit fern hält und
fich wefentlich auf die wirthfehaftlichen Aufgaben be-
fchränkt, hierin aber auch die gröfsten, ihre eigene
Machtftellung begründenden Erfolge aufzuweifen hat und
fchliefslich auch die Anfänge deutfehen Gewerbes und
Handels durch diefe ihre Arbeit mittelbar hervorruft.

Endlich hebe ich aus der Fülle des Anregenden und
Fördernden noch die Art hervor, wie Nitzfeh feine fchon
erwähnte Kunft, die Gefchichte eines Volks zu erhellen
durch Vergleichung mit fachlich oder zeitlich entfprechen-
den Bildungen in der Gefchichte anderer Völker, anwendet
auch auf die Seite der deutfehen Gefchichte,
welche fich mit Chriftenthum und Kirche am nächften
berührt: ich denke dabei vor allem an die Art, wie er zu
wiederholten Malen die gewaltige Entwicklung der vom
Islam eroberten Länder, die Entfaltung des Handels und
Verkehrs, der politifchen Gröfse, der Wiffenfchaft und

zu verzehren droht. — Das Refultat, wie es Nitzfeh S. 294
für den tiefften Punkt diefes Verfalls zu Anfang des 10.
Jahrh. aufftellt, ift bezeichnend genug: ,wir werden fagen
müffen, dafs in diefen Zeiten die fittliche Bedeutung wenig-
ftens des occidentalen Chriftenthums dem germanifchen
Heidenthum gegenüber ebenfo tief zu flehen fchien, wie
feine intellectuelleLeiftungsfähigkeit dem Islam gegenüber.
Ift nämlich der Staat das höchfte Product ethifcher
Thätigkeit, fo ift es eine für die damalige Bedeutung
des Chriftenthums fchwer ins Gewicht fallende Thatfache,
dafs die ftaatenbildende Kraft der germanifchen Stämme
mit ihrem Uebergang vom Heidenthum zu den äufseren
Formen chriftlichen Lebens unaufhaltfam zufammenzu-
fchwinden fchien'. Der rettenden Hand Otto's I. ift es
dann freilich gelungen, Kirche und Volk, und das letztere
grofsentheils eben durch die von ihm beherrfchte
Kirche aus dem Verfall herauszuführen. Allein Jedermann
wird die Analogie fich aufdrängen, die hier be-
fteht zwifchen den Folgen des Bruchs der Germanen mit
ihrem nationalen Heidenthum und zwifchen den theils
wirklichen, theils angeblichen Folgen, welche die Reformation
für das politifche Leben der Nation gehabt hat:
beidemal wird der Procefs der Zerfetzung der alten Zu-
ftände befchleunigt, ein vorläufiger Zerfall des nationalen
Lebens angebahnt und beidemal erhebt fich eben auf
dem Grund der grofsen Revolution im Verlauf von
Jahrhunderten ein neues grofsartigeres politifches Gebäude
.

Ich fchliefse damit die Anzeige diefes Buches. Von
einer Prüfung feiner Ergebnifse habe ich abfichtlich
durchaus abgefehen: ich wollte nur einen fchwachen
Eindruck geben von dem Reichthum der in demfelben
niedergelegten Ideen und Anfchauungen und von dem
Nutzen, den auch die Kirchengefchichte aus einer immer
vollftändigeren Aneignung einer Methode davon tragen
wird, welche nicht auf möglichfte Ifolirung der Kirche
und ihres Lebens in der Gefchichte ausgeht, fondern
immer mehr darnach ftrebt, die ganze Entwicklung der-
felben in engftem Zufammenhang mit der Gefammt-
entwicklung des Lebens der Völker zu erfaffen.

Berlin. Karl Müller.

Hirsche, Karl, Prolegomena zu einer neuen Ausgabe der
Imitatio Christi nach dem Autograph des Thomas von
Kempen. Zugleich eine Einführung in fämmtliche
Schriften des Thomas, fowie ein Verfuch zu endgültiger
Feftftellung der Thatfache, dafs Thomas und
kein anderer der Verfaffer der Imitatio ift. 2. Bd.
Kritifch- exegetifche Einleitung in die Werke des
Cultur in Vergleich fetzt mit der gerade entgegengefetz- I Thomas von Kempen, nebft einer reichen Blumenten
Bewegung bei den abendländifchen Völkern, die dem j lefe aus denfelben. Auf Grund handfehriftlicher
Chriftenthum verbleiben oder jetzt erft zugeführt werden; Forfchungen. Mit 15 Tafeln photolith. Nachbildun-
wie er dann unter den Germanen felbft die Entwicklung ; , ,, , , c, -r, .. tt u 1 00
der nördlichen, heidnifch gebliebenen Stämme in Gegen- j -e" handfehriftlicher Stellen. Berlin, Habel, 1883.
fatz Bellt gegen den unaufhaltfamen Verfall der chriftia- I (LXXXII, 544 S. gr. 8.) M. 16. —
nifirten füdgermanifchen, der fich ja von der Feftfetzung i Nach langer Paufe folgt hier dem 1. Bande der Proauf
dem Boden des römifchen Reichs mit ganz kurzer legomena, welcher die Jahreszahl 1873 trägt, endlich der
Unterbrechung unter Karl d. Gr. hinzieht bis Otto I. | zweite ftattliche Band, ohne, wie erwartet wurde, fchon

Dafs dabei für Nitzfeh die Gebilde, welche die Ent-
wickelung der alten Völker bei ihrem Uebergang von
der Wander- und Heroenzeit in die gefchichtliche Zeit
ergeben hat, nur wefentlich als die normalen erfcheinen,
an denen die entfprechenden Erfcheinungen der germanifchen
Völker gemeffen werden, das dürfte doch darin
feinen vollberechtigten Grund haben, dafs dort nicht
jene Hinderniffe einer continuirlichen Entwickelung auf
nationaler Grundlage fich entgegenftellen, wie hier in dem
gewaltfamen und plötzlichen Bruch mit dem ererbten
nationalen Glauben und in der Berührung mit der überlegenen
, aber faulen und morfchen Kultur der römifchen
Gefellfchaft, an welcher fich die Volkskraft der Germanen

den Abfchlufs zu bringen. Der Herr Verf., deffen breit
angelegte Arbeit in der That die viel verhandelte Frage
nach dem Verfaffer der Imitatio auf eine andere wiffen-
fchaftliche Stufe hebt und wohl, wie zu erwarten fteht,
in wefentlichen Punkten zum Abfchlufs bringen wird,
rechtfertigt fich in der Vorrede ausführlich wegen der
Verzögerung, welche mit den Verheifsungen in der Vorrede
des erften Bandes allerdings in auffälligem Contrafte
fteht. Zugleich benutzt er die Vorrede, um auf die umfangreiche
Literatur der letzten Jahre über die Thomasfrage
Blicke zu werfen, und namentlich die befangene
Schriftftellerei Wolfsgruber's (des neueften Ritters für den
angeblichen Abt Gerfen — f. Theol. Lit.-Z. 1880 Nr. 15;