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Ausgabe:

1884 Nr. 10

Spalte:

250-252

Autor/Hrsg.:

Windelband, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Präludien. Aufsätze und Reden 1884

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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Theologifche Literaturzeitung. 1884. Nr. 10.

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mufs doch wohl in einem Sinne gehellt werden, welcher
durch jene Argumentation gar nicht berührt wird.
Des Verf.'s Erwägung ift die des unbctheiligten Beobachters
, der für das Phänomen der Sittlichkeit nach
einer Erklärung fucht. Er giebt darüber die Auskunft,
die Vernunft als eine höhere Weife der Ichheit, welche
darin befteht, dafs fich das Ich aus der Vielheit und dem
Wechfel feiner Beftimmtheiten heraushebt, bewirkt eine
Abftufung in dem urfprünglichen Begehrungsinhalte des
Ich. Eine Gruppe von Zwecken wird, weil der Verzicht
auf fie dem auf die Vernünftigkeit des Ich gleichkäme,
mit einem unbedingten Vorrang vor allen übrigen bekleidet
. Dies find die fittlichen Zwecke. Sie beflimmen
den Willen des vernünftigen Ich nur deshalb in folcher
Weife, weil fie felbft vernünftig find. Dasfelbe Ich, welches
fich als das identifche Subject feiner Zuflände er-
fafst, mufs auch das auf den fittlichen Zweck gerichtete
Begehren befitzen, ,wie etwa das Dreieck, welches glcich-
feitig ift, auch das Dreieck ift, welches gleichwinkelig
ift'. Angenommen, diefe Erklärung wäre richtig, — ich
beftreite nicht, dafs fie es fei —, würde denn damit die
Frage nach der Verbindlichkeit der fittlichen Forderung
in jeder Beziehung erledigt fein? Offenbar ift damit die
Frage nicht erledigt, was wir uns in dem fittlichen Acte
felbft als den Grund unferer Verpflichtung vergegenwärtigen
. Auch wenn wir das Factum eines fittlichen Vernunfttriebes
, welches in der Annahme des Verf.'s ftatuirt
wird, anerkennen, fo wird dadurch die Sachlage nicht be-
feitigt, dafs dem Individuum die fittliche Forderung nicht
wie der einfache Ausdruck feines eigenen natürlichen Begehrens
vorkommt, fondern fich ihm als Ausdruck einer
Nothwendigkeit darfteilt, der es fich beugen foll. Wenn in
dem Moment bewufster littlicher Entfcheidung die fittliche
Forderung dem Individuum als etwas gegenübertritt, was
den Willen noch nicht beftimmt, fondern ihn erft beflimmen
foll, fo werdtn wir als den Grund ihrer Verbindlichkeit
in einem folchen Momente ficherlich nicht
eine bereits vorhandene Beftimmtheit unferes Willens
nennen können, deren wir uns als eines Antriebes, die
Forderung zu erfüllen, bewufst würden. Durch die Anerkennung
jenes Gegenfatzes find wir vielmehr darauf
angewiefen, uns den Grund der Verbindlichkeit allein
in der Vorftellung des Gefetzes zu vergegenwärtigen.
Dann gipfelt aber jede fittliche Entfcheidung in dem
Gedanken, dafs das Individuum durch ein allgemeingültiges
Gefetz in Anfpruch genommen wird und etwas
Nothwendiges vollbringen foll. Und Kant hat dann
Recht mit feinem Satze, dafs das fittliche Subject felbft
fchliefslich immer bei der blofsen Form der Gefetzmäfsig-
keit als dem letzten Gedanken der fittlichen Reflexion
flehen bleibt. Es kann ihm nicht genügen, fich zu fagen,
ich handle wohlwollend, weil es mir PVeude macht, oder
weil fich der Trieb des Wohlwollens in mir regt. Sondern
es fagt fich, ein allgemeingültiges Gefetz reifst mich
empor aus meinen bisherigen Zuftänden und macht mich
zu etwas Anderem, als ich war. Deshalb ift auch die
fittliche Handlung nicht ein fich Ausgeben, fondern eine
Bereicherung des Individuums. Durch den Einwurf, dafs
alles Sollen im Grunde' ein Wollen fei, ift Kant nicht zu
fchlagen. Der Verf. weifs ja, dafs Kant felbft jenen
Satz vertritt. Aber Kant hält fich auf der richtigen
Bahn, weil er daran denkt, dafs jenes Wollen nicht als
natürliche Thatfache, als Trieb uns zum Bewufstfein
kommt, fondern dafs uns die Realität desfelben immer
nur infoweit einleuchtet als wir uns des Sollens bewufst
werden. Freilich laffen fich aus der blofsen Form der
Gefetzmäfsigkeit die fittlichen Ideale, der befondere Inhalt
der fittlichen Forderungen nicht ableiten. Aber
warum verlangt man das? Jener Gedanke des Sitten-
gefetzes kann ficherlich in dem menfehlichen Bewufstfein
erft dann Platz greifen, wenn fich die Menfchen zur
Gefellfchaft verbinden. Alsdann aber hat jener Gedanke
die Bedeutung des Gefichtspunktes, nach welchem die

fittlichen Ideale in der Gefchichte der Menfchheit und
die Pflichtforderungen in dem Leben des Einzelnen er-
i zeugt werden. Die Thatfache, dafs es fich mit dem
' Sittengefetze fo verhält, ftimmt doch auch, wie mir
fcheint, vortrefflich zu dem Grundfatz, in deffen energi-
fcher Durchführung ich einen befonderen Vorzug diefes
Buches erkennen möchte, dafs nämlich die Tugend oder
die Gefetzmäfsigkeit des Willens nicht den ganzen Inhalt
des höchften Gutes bilden könne. Denn die Unmöglichkeit
einer folchen Annahme ift evident, wenn
1 die Forderungen, in deren Befolgung die Moralität befteht
, nicht dem Sittengefetze allein entflammen, fondern
der Anwendung desfelben auf das Leben in menfehlicher
Gemeinfchaft. Dann ift nicht die Moralität das höchfte
Gut, fondern die durch fie geordnete menfehliche Gemeinfchaft
in ihrer Vollendung. Dafs aber diefe Vollendung
nur als ein Reich Gottes denkbar ift, fteht für den
Verf. ebenfo feft, wie für Kant und für die chrirtliche
Gemeinde.

Den Verfuch des Verf.'s, die Verbindlichkeit des
Sittengefetzes durch die Annahme eines fittlichen Vernunfttriebes
zu erklären, lehne ich ab. Denn aus Gründen
, welche ich hier nicht ausführlich darlegen kann,
fcheint mir die Sittlichkeit nicht als erklärungsbedürftige
Thatfache, fondern als Aufgabe, in deren Löfung wir
begriffen find, eine wiffenfehaftliche Behandlung zu fordern
. Innerhalb der Löfung der fittlichen Aufgabe aber
berufen wir uns ficherlich nicht auf das Factum eines in
uns wirkfamen Vernunfttriebes als auf den Grund unferer
Verpflichtung. Trotzdem bin ich dem Verf. für feine
Unterfuchung dankbar, vor Allem für feine Fragezeichen
zur Kantifchen Ethik, von denen ich gern bekenne, dafs
es mir nicht gelungen ift, mir auf alle eine befriedigende
Antwort zu geben. Eine lichtvolle Zufammenfaffung
feiner Kritik der eudämoniftifchen Ethik hat der Verf.
in feinem Vortrage: ,Ueber den Utilitarianismus'. Marburg
1883, geliefert.

Marburg. W. Herr mann.

Windelband, Prof. Wilh., Präludien. Auffätze und Reden
zur Einleitung in die Philofophie. Freiburg i. Br.,
Mohr, 1884. (VII, 325 S. gr. 8.) M. 6. —

Die 10 hier vereinigten Effays, ein Programm der
| fyftematifchen Unterfuchungen, die der Verf. nach Vollendung
feiner Gefchichte der neueren Philofophie zu
| geben hofft, dienen alle irgendwie der Aufgabe, bald
j durch die Gefchichte, [die Effays über Socrates, Spinoza,
Kant, Hölderlin] bald direct durch die Probleme hindurch
[was ift Philofophie? Kritifche oder genetifche Methode?
Ueber Denken und Nachdenken. Normen und Natur-
1 gefetze. Vom Princip der Moral. Sub specie aetemitatis.}
in die philofophifche Gefammtauffaffung des Verf.'s hineinzuführen
. Ref. bekennt diefe .Präludien' mit grofsem
Genufs gelefen zu haben. Der Verf. verfügt nicht nur über
durchfichtige Klarheit und Anfchaulichkeit, über Lebendigkeit
und Schönheit der Sprache, er verfteht es auch
meifterhaft in ftufenweifem Fortfehritt den Lefer an das
beabfichtigte Ziel zu führen und ihn bis an's Ende zu
feffeln.

Seinen Standpunkt hat der Verf. durch freien An-
, fchlufs an die Grundgedanken Kant's gewonnen. ,Kant
! verftehen heifst über ihn hinausgehen'. Darin fieht er
die bleibende Bedeutung Kant's. Kant hat die Eman-
eipation der Philofophie von der griechifchen Metaphyfik
vollzogen. Trefflich wird gezeigt, wie diefelbe mit ihrer
I Vorausfetzung, dafs es Aufgabe der Wiffenfchaft fei,
eine unabhängig von unfern Vorftellungen beftehende
! Welt abzubilden, auch die neuere Philofophie noch ins-
j geheim beherrfchte, als die Phyfiologie bewiefen hatte,
dafs unfere Vorftellungen keine Abbilder, fondern nur
Wirkungen der vorausgefetzten Dinge fein könnten, und
I wie der immanente Wahrheitsbegriff, den man dann